Aus besonderem Anlass treten auch wir hier auf das Schreckensereignis ein. Das Besondere daran ist, dass es ausnahmsweise und gleichzeitig
die ganze Welt betrifft. Quo vadis Homo sapiens? Werden wir nun alle Brüder? Wie es geschrieben, geredet, besungen wird? Oder werden trotzdem oder gerade deswegen die Miesmacher triumphieren? Was
jetzt schon ersichtlich ist, es sind beide Tugenden am Wirken. Großartiges wird in den Notfallaufnahmestellen und Spitälern geleistet. Katastrophales Benehmen, dort wo Covid-19 als politischer
Oppositions- und Machtkampf herhalten muss, wie zu Beginn in Spanien, mittlerweile jedoch fast überall. Verwerfliches Verhalten von all denen, die mit Hamsterkäufen ihren Egoismus in Reinkultur
an den Tag legen, obschon der Nachschub von Lebensmitteln gesichert ist. Nicht vorhandene Masken und Desinfektionsmittel bieten die an, welche auch in normalen Zeiten nur kriminell handeln. Es
scheint sich abzuzeichnen, dass das Anständige, – wie meistens in schweren Zeiten – in der Minderzahl bleibt und sich das Rücksichtslose durchsetzt. Auch diesmal?
Wir freuen uns, hier kompetente Stimmen posten zu dürfen. Begeistern Sie uns und unsere Leserinnen und Leser mit Ihren
Beiträgen!
Darf diese freudestrahlende Jugend morgen auch noch lachen? (deutsche Schule Montevideo)
Liebe Freunde der Philosophie,
in den letzten Tagen haben sich die Ereignisse um den Corona-Virus extrem zugespitzt. Wir alle sind
wahrscheinlich recht atemlos, auch wenn wir uns noch nicht infiziert haben.
In diesen außergewöhnlichen Situationen möchte ich Ihnen Mut und Zuversicht aussprechen. Mit Analysen,
Diagnosen und Therapien werde ich mich derzeit noch zurückhalten, aber in Bälde kommt das auch. Jetzt gilt es erst einmal, unsere sozialen Tugenden zu beschwören.
Wir erleben gerade eine rapide Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Welt mit
und nach der Corona-Pandemie wird eine andere sein als zuvor. Wie wir leben, wie wir wirtschaften, kooperieren und wie wir uns bewegen, nichts davon wird mehr so sein wie vorher. Damit verbinden
sich viele Ängste. Aber es öffnen sich uns auch Räume zu neuen Orientierungen. Das menschliche Zusammenleben wird sich grundlegend neu justieren. Wir wollen dabei sein, wir wollen mitreden im
Konzert einer neu sich findenden öffentlichen Vernunft.
Wir schätzen unsere Situation heute mit Kenntnissen ein, die morgen schon überholt sein
werden. Das ist ein Kennzeichen allen großen Wandels. Die Ereignisse stürmen durch die Zeit und das Verstehen kommt nicht mehr nach. Alles ist Prozess – und wir stehen mittendrin. Im
Corona-Tagebuch versuche ich, davon ein wenig festzuhalten.
Corona-Tagebuch
1. Eintrag vom 19. März 2020
von Dr. Peter Vollbrecht
Angst
Ja, geben wir es uns zu, wir haben Angst. Überwiegend gilt sie nicht unserer eigenen Gesundheit, die
jüngeren unter uns lassen kaum ja Symptome aufkeimen, und die Infektionsraten des Corona-Virus liegen immer noch im Promille-Bereich. Die Anderen sind nur statistisch gesehen eine Bedrohung. Aber
diese ferne Bedrohung mutiert zu Angst-Szenarien an den Regalen der Supermärkte, der Börsenkurse, der einzelnen ungeschützten Existenzen von den Gastwirten bis zur Kreativwirtschaft. Die Angst
frisst sich durch alle Bereiche unseres Lebens. Irgendwie ist etwas gewaltig in Unordnung geraten. Wir haben Angst um die Stabilität unseres Systems. Ganze Wirtschaftszweige können jetzt
wegbrechen und für viele Jahre von der Bildfläche verschwinden. Die Welt von morgen, plötzlich können wir sie uns nicht mehr vorstellen. Aber gewiss ist, dass sie eine ganz andere Welt sein wird
als die, die wir gewohnt sind.
Das alles vermag ein kleines Virus, das vom Tier auf den Menschen gewandert ist. Für die Natur war es ein kleiner
Schritt, dort auf dem Markt von Wuhan. Vielleicht nur eine unmerkliche Mutation der viralen DNA. Die menschlichen Zivilisationen dagegen durchfährt es bis ins Mark. Unser gewohntes Leben steht
auf dem Spiel. Unser Lebensstil. Wir haben uns daran gewöhnt, den gewaltigen Berg an Problemen der Zukunft aufzubürden. Wir leben weltweit eine Philosophie des Aufschubs. Und plötzlich scheinen
die Zivilisationen keine Zeit mehr für Zukunft zu haben. Unsere Buchungen dort am ferneren Zeithorizont sind ausgereizt. Und jetzt droht der System-Overkill. Ein namenloses Es hat auf die
Pausentaste gedrückt, die Gesellschaften erstarren in Quarantänen, das System fährt herunter. Und das macht Angst.
Angst sei ein schlechter Ratgeber, hört man in diesen Krisentagen immer wieder. Und das ist
völlig richtig. Denn in der Angst vereinzelt sich der Mensch und ist radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Die Anderen sind ihm keine Stütze mehr. Philosophen unterscheiden gern die Angst von
der Furcht. Furcht habe man vor etwas Bestimmtem, Angst dagegen habe kein deutliches Wovor. Gegen die Furcht lasse sich angehen, unser sozialer Körper aus Institutionen und öffentlichem Leben
schützt die Individuen vor dem freien Fall. Die Angst aber kommt in anderem Kaliber. Sie lässt spüren, wie unheimlich, wie bodenlos, wie wenig vertraut uns doch das Leben ist. Angst, so meinte
der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard, Angst sei der Preis für die Freiheit. Angst habe man vor dem In-der-Welt-Sein, so deutete Martin Heidegger unsere existenzielle Situation. Wie
auch immer philosophisch die Akzente gesetzt werden - plötzlich reißt der dünne Film von Vertrautheit. Die Welt wird unheimlich, wir finden in ihr keine Heimat mehr. Wer sich ängstigt, der sieht
nur noch sich selbst. Und dann stürmt er oder sie die Regale und hamstert, um wenigstens ein wenig an Kontrolle zurückzugewinnen.
Für eine Gesellschaft ist Angst ein tödliches Virus. Sie bringt eine Spirale in Gang, die sich in ihrem Verlauf
stets verstärkt. Angst nährt Angst in einem Klima existenzieller Vereinsamung. Und ja, einsam sind wir in diesen Tagen alle irgendwie. Wie begegnen wir ihr, wie begegnen wir unserer Angst?
Jede Krise berge eine Chance in sich, lautet ein weiteres vielstrapaziertes Wort. Und es ist
ja wahr: wir lernen nur, weil wir Irrtümer begehen. Wir dürfen also tatsächlich darauf vertrauen, dass uns Umgangsformen gelingen, die uns sozial näher zusammenrücken lassen. Wir sind nicht
allein. Unser Trumpf ist unser soziales Wesen, das vielbeschworene zoon politikon, das Aristoteles einst zur ersten tragfähigen Sozialphilosophie ausgearbeitet hatte und deren
Grundidee wir auch heute noch folgen können, ja müssen. Gerade in Krisenzeiten gibt es keine Alternative zum Vertrauen in sozialen Dingen. Jeder mag darüber hinaus noch andere Vertrauensanker
werfen, im religiösen Glauben etwa, in die Vitalität des Lebens oder in die Sinnfäden, die uns Literatur und Kunst zeichnen. Jetzt, wenn nicht jetzt? haben wir Zeit dafür. In der Entschleunigung
unseres Lebens liegt die Chance, uns auf das Wesentliche unseres Lebens, auf ebendieses Vertrauenskapital zu besinnen. Jeder Anruf zu Freunden und Bekannten entlastet von der Spirale der Angst.
Jedes Du macht uns zu einem Wir. Nehmen wir Kontakt auf zu unseren Nachbarschaften, bieten wir Hilfe an. Reden wir miteinander, aber treten wir dabei nicht die Katastrophenmeldungen breit,
sondern bemühen wir uns gegenseitig um Stabilität und, ja auch das: um Trost. Jeder von uns trägt dazu bei, dass das kollektive Angstpotenzial im gesellschaftlichen Leben nicht noch stärker viral
geht. Den Impfstoff dazu können wir uns selber fertigen.
Zur sozialen Etikette hat Angela Merkel gestern Abend in einer ihrer
politischenSternstunden das Nötige gesagt. Und auch in den Medien haben sich viele Stimmen dazu zu Wort gemeldet. Das Konzert der öffentlichen Stimmen hat
in der Krise einen sehr einheitlichen Klang. Angstpsychologisch kontraproduktiv treten die Verschwörungstheoretiker auf, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Dazu gehört auch die
gegenwärtig immer wieder zu vernehmende Ansicht, mit dem Corona-Virus schlage die Natur zurück. Das ist in dieser unreflektierten Form Unsinn in Potenz. Die Natur hat keine strafende Faust.
Diese Vision gehört in das dunkle Arsenal der Dogmen vom strafenden Gott. Wir sollten es nicht zu Erklärungen heranziehen. Und überhaupt zeigt sich Vertrauen und Solidarität darin, dass
Schuldzuweisungen in überhasteten Diagnosen über unseren Weltzustand ausbleiben. Denn jetzt geht es um Wichtigeres, um Näherliegendes. Jetzt steht die Bewältigung der Krise an, und jetzt geht
unser tiefer Dank zunächst einmal an alle die, die das öffentliche Leben aufrechterhalten: an Ärzte und Pflegedienste, an Briefträger und Verkäuferinnen im Supermarkt, an Lastwagenfahrer,
Polizisten, Landwirte und Erntehelfer, an alle die, die Waren und Dienstleistungen weiter zirkulieren lassen. Die, die sich nicht ins Homeoffice abmelden können. Die handeln müssen, ganz
hemdsärmelig, für einen monetären Lohn, den die Gesellschaft stets zu gering geschätzt hatte bislang.
Aber das gehört schon zu den Lehren, die zu ziehen sind, später. Jetzt steht anderes an. Die Angst
vor der Angst sei unser größter Feind, sagte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt zur Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Machen wir es der Angst nicht zu
leicht. Erzeugen wir Zuversicht!
Esslingen, 19. März 2020
Bei Bedarf können Sie mich gern anrufen - mails zu beantworten ist schwieriger für
mich. Kommen Sie gut durch die Krise
Herzlichst und ermutigend
Ihr
Peter Vollbrecht
Dr. Peter Vollbrecht Philosophisches Forum Webergasse 2 D-73728 Esslingen Deutschland - Germany Fon: +49-(0)711-354899 +49-(0)170-4353794 www.philosophisches-forum.de
2. Eintrag vom 21. März 2020
Zeit
Wir stehen kurz vor dem shutdown, der Ausgangsbeschränkung. Markus Söder hat sie heute
schon für Bayern verhängt. In den nächsten zwei Tagen bei uns in Baden-Württemberg und bestimmt auch im ganzen Land.
Aber irgendwie muss es ja weitergehen, die Menschen sollen ihrer Arbeit nachkommen, ein Minimum an
wirtschaftlicher Dynamik muss aufrechterhalten bleiben, die Menschen müssen sich versorgen können. Die Gesellschaft ist völlig entschleunigt, die Zahlen der Neuinfektionen weisen steil nach oben.
Eine Erstarrung in Schrecken: Wie hat das alles ein hochinfektiöser Virus bloß fertiggebracht? Ein Tropfen Biomasse fiel in das Zirkulationssystem der Zivilisationen dieser Erde, dort, wo die
Gesellschaften am verwundbarsten sind. Und brachte fast alles zum Erliegen. Die Zeit steht still.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit? Auf jeden Fall aber zum ersten Mal in der uns bekannten Epoche
der Zeitbeschleunigung, die sich etwa seit eineinhalb Jahrhunderten ereignet. Die Transportzeiten haben uns den Globus verfügbar gemacht, die Maschinen haben der Zeit die Sporen gegeben. Der Gang
der Zivilisationen legte zu und legte nochmals zu. Alles immer schneller, die Leistung wurde zum Fetisch. Über die Leistung definiert sich nunmehr alles, mehr in weniger Zeit, das ist seine
Pfeife, nach der wir zu tanzen haben. Über die Leistung erklärt sich der homoökonomicus zum Herrn der Zeit und zum Überwinder des Raums.
Bleiben wir hier bei der Zeit. Denn sie galt das gesamte christliche Mittelalter hinweg als „Eigentum Gottes“,
doch im Gang der Zivilisationen wurde sie zunehmend zum „Eigentum des Menschen“. Man pries die vita activa, mit der man sich Gott günstig stellen wollte, und bald brauchte man Ihn
nicht mehr, um das Szepter der Zeit zu übernehmen. Innovation folgt Innovation, Rekord und Gewinn bislang unbekannten Ausmaßes, und dabei belieh man stets die Zukunft mit Schulden. Bis
gestern funktionierte das.
Jetzt erleben wir die Zeit, die vergesellschaftete Zeit, als etwas, die sich plötzlich dehnt, wenn man den Tag in
den eigenen vier Wänden verbringt. Und auch da draußen steht alles. Das kleine Biotröpfchen kristallisiert zum Sand im Getriebe. Das System fährt auf allergrößten Sparmodus zurück. Die
Corona-Pandemie zwingt die Gesellschaften rund um den Globus auf den Parkplatz. Natur trifft auf Zivilisation. Und zeigt, dass sie stärker ist als wir. Das haben wir zwar stets schon gewusst,
davon erzählt ja schon die Astronomie, aber Beunruhigendes droht von dort kaum etwas. Eher jagt uns die Klimaerwärmung den Schrecken in die Glieder. Dass es aber nicht im Großen, sondern im
winzig Kleinen kam, und zudem ganz plötzlich, das trifft uns unerwartet. Und zwingt uns eine andere Zeitordnung auf, den Stillstand des öffentlichen Lebens.
Doch woanders, da rast die Zeit, in den Krankenhäusern Italiens und Irans etwa, da geht es um Leben
und Tod. Hier arbeiten die Menschen bis zum Anschlag, und ebenso in der Landwirtschaft, der Lebensmittelversorgung, den Transportdiensten, der medizinischen Technik, der pharmazeutischen
Forschung und in vielen anderen Segmenten des Lebens. Hier arbeiten die, die das System am Laufen halten. Und sie arbeiten schwer und sind einem Hochinfektionsrisiko ausgesetzt. Hier rast
die Zeit in exponentiellem Wachstum, das errechnet sich mit simpler Mathematik. Die Infektionszahlen verdoppeln sich alle 2-3 Tage. Mit einer solchen Beschleunigung werden selbst die „Herren der
Zeit“ nicht fertig.
Das Virus diktiert die Chronologie der Ereignisse. Bekommen wir also gerade eine sehr teure Rechnung
zugestellt, eine Rechnung mit den Posten Menschenleben, Leid und dem zumindest vorübergehend blockierten Zugriff auf Zukunft? Es ist eine Rechnung, die wir bislang nie auf unseren Rechnungen
hatten. Auf ihr summieren sich die Schäden, die eine zutiefst gestörte Synchronisation zweier Zeitordnungen aufhäuft: die Zeit in der Natur und die Zeit in der Kultur. Die Zeit in der Natur
bedeutet Reifung, Zyklus, Vielfalt der Lebensformen im langsamen Gang der Evolution. Ganz anders die Zeit in der Kultur, wo sich die Herrschaft des Geldes fast alles andere unterworfen hat, was
man eben auch noch kulturell nennt, soziale Verbände etwa, Vorsorgesysteme, Familienplanung, ja selbst das Wertesystem ist dabei unter die Räder gekommen. Die Liste der Fehler ist lang, doch uns
bleibt die Einsicht und die gesellschaftliche Vernunft, aus ihnen zu lernen. Tröstlich dabei ist, dass sich irgendwann das Virus eindämmen lässt, dass es weniger und weniger menschliche
Organismen finden wird, in denen es sich reproduzieren kann. Bis es dahin kommt, sind wir auf uns selbst angewiesen, auf unseren Gemeinschaftssinn, mit dem wir uns auf einen langsameren Zeitsinn
einüben müssen. Die Epidemie zwingt uns dazu, jetzt endlich einmal die Systemfrage zu stellen.
3. Eintrag vom 22. März 2020
Räume
Gestern, an einem regenverhangenen Tag, wurden die Ausgangsbeschränkungen verhängt, wie es die
Epidemiologen von der Politik verlangt haben. Auch im Café unter meinem Fenster bleiben nun die Tische leer. Der öffentliche Raum ist verwaist, eine unheimliche Stille breitet sich aus. Im
Supermarkt markieren rotweiße Klebestreifen Raumgrenzen, die erst beim Freiwerden der nächsten Parzelle betreten werden dürfen. Die Kunden fixieren in den Regalen ihre Beute, kaum kreuzen sich
noch Blicke, und wenn, dann kehren sie sich schnell wieder zurück in den eigenen inneren Raum. Ernst geht es da im Augenblick her, und dieser seltsame, bislang unbekannte Ernst hängt auch
über der Stadt. Der öffentliche Raum hat seine eigentliche Bedeutung verloren, Stätte von Begegnung zu sein.
Das soziale Leben findet jetzt im Netz statt. Und da sprudelt es witzig, kreativ, mit vielen originellen
Einfällen. Wir führen Telefonate mit Freunden und, so sagen sie, man käme sich jetzt näher. Ja, das erstaunt uns doch: wir pflegen unsere sozialen Netze, die wir mit unserem Leben aufgebaut
haben. Ob alt, ob jung, das würden wir doch alle so tun. Plötzlich wird uns bewusst, was uns wichtig ist, wir suchen unsere Habitate auf und pflegen einen Freundschaftsgruß. Der kommt uns aus dem
Herzen. Ein wahrer Freund sei wie ein zweites Selbst, meinte der alte Aristoteles. Wir greifen vielleicht nicht so hoch im Vokabular wie er, um da einzustimmen, aber das je eigene Habitat ist uns
schon sehr wichtig. Was ich denke, was ich fühle, soll den anderen nicht fremd sein, Resonanzen sind erwünscht, man sucht einen gemeinschaftlichen Ort auf. Und dazu findet man sich im
Internet. Und dieses Internet, das hat die witzige Eigenschaft, überall und nirgends zu sein. Bei mir auf den Knien, im Laptop auf der Couch. Und dann wieder sofort »da draußen«, am virtuellen
Ort. Das Online-Gespräch der Kultur hat begonnen, es benötigt nicht mehr den physikalischen Raum, um begegnen zu können. Wir haben alles auf dem Schirm, daheim, in unseren privaten Räumen.
Leiblich aber sind wir alle eingesperrt, jeder hat seinen privaten Raum anders, je nach Wohnfläche, je nach
Köpfen. Da mögen sich später mal die Psychologen daransetzen, um zu erforschen, welche seelischen Spuren eine längere Isolation hinterlässt – in China beginnen gerade erste Untersuchungen. Auf
jeden Fall gibt es da in den privaten Mauern auch Stress, der Kesseldruck steigt. Isolation ist krankheitsfördernd. Dann wiederum gibt es die, die uns betreuen, das Krankenhauspersonal, die
Verkäuferinnen, die Polizei, die Transportdienste. Sie alle müssen heftig Überstunden machen. Sie helfen, sichern und buckeln, sie beschicken den Versorgungsraum, gerade höre ich beim Schreiben
das Martinshorn auf dem Altstadtring. Was dort draußen vor sich geht, davon weiß ich nur aus den Medien, von einem Corona-Ausbruch in einem Würzburger Altersheim etwa. Oder in einem Telefonat mit
I., die aus der Welt der Pflege berichtet, von der Schwierigkeit, Infektionsabstand zu halten bei den pflegebedürftigen Hochbetagten. Was heißt es, fragte sie gestern Abend, wenn die Hand
einer Sterbenden kein Angehöriger mehr halten kann?
Was aber ist mit denen, die noch da draußen sind, auf einem anderen Kontinent? Gestern ergatterte
meine Tochter einen der letzten Flüge aus Mexiko, ihr regulärer Rückflug wurde gecancelt. An vielen Flughäfen stauen sich die Rückkehrer, alle suchen Zuflucht zu den ihren nationalstaatlichen
Räumen. Rückholprogramme, individuelle Lösungen und dann wiederum geht nichts mehr. Der mundiale Raum wird mit Grenzschließungen zu einem geopolitischen Raum, in dem Distanzen plötzlich nur noch
sehr schwer zu bewältigen sind.
Und doch: der virtuelle Raum lebt und fängt vieles auf. Neue Formen der Nachbarschaftshilfe
entstehen, glokal heißt schon das neue branding. Einkaufen, Kinderbetreuung, kleine Gefälligkeiten stehen an zum Tausch, Theater, Konzerthäuser, Unternehmen, Institutionen und Vereine bilden neue
Kommunikationskanäle zu Bürgern und Kunden. Vielleicht sehen wir im Netz eine glokale Gesellschaft entstehen? Wenn wir genau hinschauen, dann können wir sehen, wie Räume der Hoffnung
entstehen.
Wir brauchen sie dringend, diese Räume der Hoffnung. Jeder und jede kann ein Hoffnungsbild sein. Im
Raum der Hoffnung begegnen wir uns anders, nämlich weicher, einfühlsamer und gesprächsbereiter. Doch davon bald mehr.
4. Eintrag vom 24. März 2020
Solidarität
Wir erleben gerade eine welthistorische
Stunde. Denn kein Ereignis in der Geschichte der Menschheit kam mit vergleichbarer Wucht über die Zivilisationen. Nun schlägt die Stunde der Politik, die das Leben innerhalb weniger Tage neu
organisieren muss. Nun geht es um alles, was uns wert ist. Die Gesellschaften müssen einen moralischen Stresstest bestehen.
In Wohlstandszeiten ist der bürgerliche Gemeinsinn eine soziale Tugend, die nicht allzu viel zu
stemmen hat. In Krisenzeiten ist das anders. Dann wird uns bewusst, dass es uns selbst nur gut gehen kann, wenn es auch den anderen gut geht. Eine einfache Gleichung macht ihren Stich. Man kann
sie auch gleichsam mit minus Eins multiplizieren, sie lautet dann: wenn es den anderen schlecht geht, dann geht es auch mir selbst nicht gut.
Man muss diese Gesellschaftsformel nicht eigens beweisen, in Zeiten der Krise folgen ihr
Menschen intuitiv in ihren Kollektiven. Nachbarschaftshilfen haben Hochkonjunktur und ebenso die Dankbarkeit, die wir denen gegenüber äußern, die den Laden am Laufen halten. Die Medien stimmen
uns alle ein auf Solidarität, Mitgefühl und Anstand. Die Profilierungssucht der Politiker und das Parteiengezänk pausieren für unbestimmte Zeit, eine Welle der Einigkeit rollt durch das Land. Allenfalls die Broker spekulieren auf fallende
Kurse, hier zeigt der Markt selbst in Zeiten der Not sein hässlichstes, weil zerstörerisches Gesicht. In den solidarischen Soziotopen aber rücken wir alle zusammen, pflegen unsere Freundschaften,
ja mitunter beenden wir sogar Feindschaften. Und weil wir uns auf Monate hinaus nicht den Luxus erlauben können, unser Heil in einem Impfstoff zu finden, bleibt uns nur, auf die Gesundheit des
sozialen Körpers zu vertrauen. Aus sozialem Selbstvertrauen nährt sich derzeit die Hoffnung, ohne die Menschen nicht leben können. Nur wir allein können uns jetzt Hoffnung zusprechen, und dabei
ist Solidarität unser wichtigstes Kapital.
Solidarität zieht Kreise mit verschiedenen Radien. Im Kernbereich die Sorge um Leib und Leben der Kranken, hier
heißt sie »Kontaktverbot«. In Familien und Nachbarschaften stellt die Solidarität die physische und seelische Versorgung sicher. Die Bürger wenden sich nun verstärkt dem Qualitätsjournalismus zu,
wo die bekannten Persönlichkeiten sich als Vorbilder für Gemeinsinn und Zusammenhörigkeit zeigen. Das ist gut so und zeugt von Charakter. Und auch die Regierung greift in die Vollen, um mit einem
gigantischen Nachtragshaushalt den prekären Existenzen unter die Arme zu greifen. Doch dann, an der Staatsgrenze, droht der Solidaritätsfaden abzureißen. Mit Grenzschließungen und Einreisesperren
schotten sich die Nationalstaaten gegenseitig ab, was auf ein nationales Kontaktverbot hinausläuft. In dünnen Rinnsalen tröpfelt aber weiterhin die Solidarität: Bayern und Baden-Württemberg
leisten Italien und Frankreich medizinisch-technische Hilfe und nehmen von dort aus Patienten auf. Vielleicht sind diese und andere Aktionen ein gutes Stück Symbolpolitik, vielleicht reichen sie
nicht, um uns dann, wenn der Virus eingedämmt sein wird, in Dingen europäischer Einheit ein passables Zeugnis auszustellen. Aber da kann, da wird noch mehr kommen.
Der weiteste Kreis der Solidarität bindet schließlich die Corona-Krise mit der Klimaerwärmung
zusammen. Denn Solidarität verlangen die Älteren, die stärker infektionsgefährdet sind von den Jüngeren, deren Symptome sehr viel schwächer verlaufen. Gerade die Älteren aber haben –
solidaritätsdefizitär – die klimapolitischen Anliegen der Jüngeren bestenfalls mit verständnisvoller Ignoranz quittiert. Mehr als Zahlenspiel war bislang kaum. Zugegeben, ein wenig
holzschnittartig kommt das jetzt daher, da raschelt viel Statistik. Aber bleiben wir einen Moment lang noch in groben Linien: die Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft verlangt von den
Jüngeren, sich Hals über Kopf zu ruinieren. Dabei weigern sich die Älteren – immer noch grob gehobelt – den Jüngeren eine Welt zu hinterlassen, in der es sich ohne große Verluste leben lässt. Es
wäre nur fair und solidarisch, würde die Menschheit mit ähnlichem Kraftaufwand das Überleben der nächsten Generation sichern.
Damit kein Missverständnis aufkommt: die derzeitigen Kontaktverbote sind alternativlos. Selten hat dieses
anrüchige Wort so viel Sinn gemacht wie jetzt. Doch wir sollten die Rückkehr zu normalem Verkehr auch dann schon wagen, wenn die epidemiologische Situation noch gefährdet ist. Das scheint mir
eine Sache der Solidarität mit denen zu sein, die ihr Leben noch weitgehend vor sich haben. Und dann wollen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag einfordern, der Solidarität und Gemeinsinn
ungleich stärker reflektiert als eine Wirtschaftsform, die den Gewinn über alles stellt.
5. Eintrag vom 2. April 2020
Exit
Am 28. Januar 2020 trat in Bayern der erste Fall der Infektion in
Deutschland auf, heute, am 2. April, schreiben wir also den 66. Tag der Corona-Krise in Deutschland. Wie das Virus nach Europa kam, darüber streiten sich die Experten bis heute. Damals
jedenfalls, und auch noch bis in den März hinein, hat sich wohl kaum jemand ausmalen können, wie die Dinge heute stehen - die Virologen und Epidemiologen vielleicht einmal ausgenommen, auf ihnen
liegt nun die politische Expertise. Es ist gut so, wenn die Politik ihre Handlungen auf wissenschaftliche Daten und Methoden abstützt. Ich würde mir das auch für die Klimapolitik
wünschen.
Zur wissenschaftlichen Fundierung von Politik gehören neben den Virologen auch die Soziologen, die
Ökonomen, die Psychologen und die Philosophen (als Experten in Fragen der Ethik). Im öffentlichen Diskurs der Zivilgesellschaft bringen sie sich seit ein paar Tagen immer stärker zu Gehör, das
Konzert der Stimmen gewinnt an Volumen. Auch das ist gut so, denn der Wissenschaften gibt es viele, und selbst unter den Virologen gibt es Dissens und Pluralität in den Positionen,
zumindest dann, wenn es um die Einschätzung der epidemiologischen Maßnahmen geht.
Die Politik muss nach Möglichkeit das Ganze in den Blick nehmen: die politische Stabilität der Gesellschaft, die
wirtschaftliche Lage von Unternehmen und Bürgern, die medizinische Versorgung, die Ernährung der Bevölkerung, die Transportwege und vieles mehr. Und bei allem drängt eines: die Zeit. Und sie
drückt mit jedem Tag stärker auf die Systeme.
Deshalb ist es auch gut so, wenn die Öffentlichkeit zunehmend darauf drängt, eine Exit-Strategie zu entwickeln.
Die Regierungen in Bund und Ländern erklären sie allerdings fast unisono für unerwünscht. Wie das? Erleben wir gerade eine schleichende Machtverschiebung auf die Exekutive hin? Das käme einem
sanften Coup gleich. 95% der Bürgerinnen und Bürger billigen die Maßnahmen der Regierung, so viel Konsens ist schlichtweg verdächtig. Ist es bürgerschaftlicher Gemeinsinn? Dagegen sprechen die
leeren Regale von Toilettenpapier und Nudeln. Da ist sich fast jeder doch der Nächste. Nein, mir scheint der Anteil der Angst der entscheidende Faktor am Konsens und nicht die
gesellschaftliche Vernunft, die in offenen Gesellschaften niemals mit einer Stimme spricht. Gewiss, es sind Notzeiten, da reiht sich die Bevölkerung hinter die Regierung ein. Nichts gegen
Bürgerdisziplin bei Kontaktverbot, aber es ist in einer Demokratie einfach guter Brauch, dass die Regierung ein Ohr hat für den öffentlichen Diskurs über Strategien eines langsamen
Wiedereinstiegs in das wirtschaftliche Leben.
Bislang behindert die fatale Alternative Leben versus Wirtschaft die Debatte über
das Wie eines Exits. Sie schwingt ihre Keule und bezichtigt die ›Exiteers‹ moralischer Defizite. Aber die Zweifel mehren sich, ob wir tatsächlich richtig mit der Krise umgehen. Was wäre, wenn
sich später, in ein paar Wochen oder Monaten, zeigen sollte, dass wir die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie falsch eingeschätzt haben? Dass wir plötzlich in einen Strudel von Insolvenzen
hineingeraten sind, geschäftliche wie private, die in Folge dann das Finanzsystem ergriffen? Eine neue Eurokrise aufgrund des Zusammenbruchs ganzer Volkswirtschaften? Und was wäre, wenn es so
käme, dann mit der epidemiologischen Einsicht, dass wir die Gefahren des Virus krass überschätzt hätten? In der Sendung von Markus Lanz vom 31. Januar brachte der Virologe Hendrik Streek vor,
dass die Infektionsketten sich nicht über Einkäufe im Supermarkt, beim Friseur, im Hotel oder im Restaurant fortsetzen, und er berichtet von Abstrichen, die von Türklingen und Handys aus
hochinfektiösen Haushalten im Kreis Heinsberg genommen wurden. Dort wurde nur ›totes‹, nicht ansteckendes Genmaterial von Covid-Viren nachgewiesen. Die großen Ausbrüche seien nachgewiesenermaßen
über die großen Events – Fußballarenen, Karneval, Massenpartys – erfolgt. Hat die Politik derzeit auf einen sachlich nicht begründeten Angstmodus umgeschaltet? Wenn dem so wäre, dann
sollten wir uns alle tatsächlich große Sorgen machen.
Nun gibt es aber auch viele gute Argumente für die Selbstisolation der
Bevölkerung. Sie sind überwiegend virologischer Natur und zielen darauf, Schaden von Leib und Leben abzuwehren. Es zeugt von einem hohen zivilisatorischen Standard, wenn das Leben als höchstes
Gut betrachtet wird. Als lebensbedrohlich sollten wir aber auch wirtschaftliche Insolvenzen betrachten, die Menschen in den Suizid treiben. Davon ist derzeit ja viel die Rede, ich brauche also
nicht ins Detail zu gehen. Es sind viele Einzelschicksale, jedes ist anders gelagert, aber manchen, und das dürften nicht wenige sein, ist der Sauerstoffhahn der Zukunft abgedreht. Derzeit, so
listet die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) auf, stehen von den 40.000 Intensiv Betten etwa knapp die Hälfte noch leer. Das sieht in vielen anderen Ländern ganz anders aus, und die
vergleichsweise niedrigen Todesraten bei uns sollen keineswegs unser Gesundheitssystem prämieren – eher zeigt das die desolate Situation dereuropäischen
Südländer, die mit ihren knappen Haushalten noch stärker an der Gesundheit haben sparen müssen. Aber wir haben noch Luft, und die wäre jetzt in das Wirtschaftssystem zu blasen, nicht nur mit
Finanzspritzen, sondern mit Perspektiven für einen Neuanfang.
6. Eintrag vom 04. April 2020
Mit den Verlusten leben lernen
Vor einigen Tagen war ich in heller Aufregung. Was, wenn mir meine wirtschaftliche
Existenz zusammenbricht? Ich bin im touristischen Sektor tätig und muss nun reihum meine philosophischen Reisen absagen, ein Ende ist derzeit nicht absehbar. Seitdem lebe ich von meiner
Altersvorsorge, Solo-Selbständigkeit ohne Auffangnetz. Wie soll ich meine beiden Kinder, die in der Ausbildung stehen, weiter finanzieren? Wie meine Miete aufbringen? Nervös und von
Existenzängsten geplagt hing ich vor den Infektions- und Todesstatistiken.
Doch dann begriff ich, dass ich lernen müsse, mit Verlusten zu leben. Bislang ging es ja
immer aufwärts, langsam zwar, aber ich konnte und durfte auf meine Fähigkeiten vertrauen. Mit Verlusten leben zu lernen, das wird, so denke ich, eine soziale Kompetenz für uns alle sein, die wir
einüben müssen. Dabei gilt es, den Schalter umzulegen, von oben nach unten. Und selbst wenn der eine oder die andere dank größeren Vermögens den Kopf aus der Schlinge ziehen kann – unsere Kinder,
Enkel, Urenkel und andere noch Ungeborene werden auf kleineren Füßen stehen müssen. Aber das kann uns eigentlich nichts Neues sein. Denn unser Planet hat nun einmal begrenzte Ressourcen,
meine Generation hat sie über Gebühr strapaziert, und nur die radikalsten Technik-Nerds glauben, dass es uns gelingen könne, mit immer ausgefeilteren Erfindungen Wohlstand und Mobilität weiter zu
steigern und aus unserem Gestirn ein perpetuum mobile zu machen.
Doch bis gestern konnten wir uns damit abfinden, dass die Ozeane langsam steigen, und
mit frivolem Zynismus konnten wir uns damit trösten, dass wir uns mit Euro, Dollar Renminbi und Yen weiterhin unsere Anteile an den sinkenden Ernteerträgen schon sichern werden. Die Verknappung
schien eher ein Problem der anderen zu sein, der Latinos, der Afrikaner, der Inder. Oder eben auch des Prekariats. Doch jetzt addieren sich die gravierenden Systemfehler in einer Geschwindigkeit
auf, die das exponentielle Wachstum der Infektionen noch überschreitet. Die US-amerikanische Arbeitslosenkurve gibt uns einen Vorgeschmack darauf, was die Industrienationen binnen Kürze
erwartet.
Das System erleidet gerade einen Burn-Out. Und jede umsichtige Burn-Out-Patientin muss
sich neu austarieren auf Leistung und Erfolg, denn ihr sind ihre eigenen energetischen Grenzen aufgezeigt. Sie hat sich verausgabt, sie hat über ihre Verhältnisse gelebt. Und dabei hat sie ihr
eigenes Selbstverhältnis vernachlässigt. Jetzt wird sie sich auf andere Werte hin orientieren. Sie wird lernen, die Verluste, die sie auf der einen Seite erleidet, mit anderen Gewinnen zu
kompensieren. Und vielleicht sind die Gewinne gar größer als die Verluste. Die Definitionsmacht liegt bei uns. Das eine, das sind die Werte unserer Immobilien und Anlagevermögen, unseres
Konsumverhaltens und des darüber konjugierten sozialen Prestiges. Das andere ist ein lebenswertes Leben, das über die eigene Biographie hinausgreift und Leben überhaupt meint: Begegnung,
Solidarität und Mitgefühl, Stunden tiefer, wertvoller Freude über die Ausdruckskraft und Vitalität unserer Mitbürger, Verantwortungsbereitschaft auch zum fernen Anderen, sei es Mensch, Tier oder
Pflanze. Sich am wertvollen Strom des Lebens zu erfreuen und nicht an den monetären Beständen. Mehr Sein und weniger Schein. Dies und vieles mehr wäre zu nennen, die Narrative dafür sind
bewegender, berührender als die Verluste, mit denen wir nun umgehen müssen.
Aber, wird man einwenden, drohen nicht auch schmerzhafte Verluste auf Seiten der Kultur?
Theater werden schließen müssen, kleine Orchester werden sterben, experimentelle Bühnen, avantgardistische Kunst und lokale Kulturvereine, in denen mit schmalem Budget Bürger sich ehrenamtlich
für ihre Mitbürger engagieren, Kaffee und Kuchen aus heimischer Küche mitbringen für das kulturelle Sonntagsbrunch . Vielleicht aber werden ja diese Formate überleben, weil sie sich im Kleinen
organisiert haben und von der Sympathie der Nahverhältnisse getragen sind. Gerade in den letzten Jahren hat die Kultur in ihren Megaevents übergroß aufgespielt und hat die Grenze zum Kommerz
überschritten. Das Geschäftsmodell Abu Dhabis wird sich wahrscheinlich nicht retten lassen. Ein regionales Kabarett hingegen sehr wohl, wo die Lust an der Kunst das treibende Motiv ist und nicht
die Vermarktung über Emirates und Studiosus.
Wir werden lernen, mit unseren Verlusten zu leben.
Manche wird es hart treffen. Aber vielleicht dürfen sie sich auf einen Gemeinsinn verlassen, der neue Dimensionen erreicht. Das wäre zu hoffen. Uns bleibt nur die Hoffnung. In modernen
Gesellschaften, wo auf die rettende Intervention eines Gottes nicht zu zählen ist, adressiert sich Hoffnung immer auch an das menschliche Miteinander. Vielleicht geht alles auch etwas kleiner – und besser.
7. Eintrag vom 8. April 2020
Ethik, erster Versuch
In der Frühphase der Covid-Pandemie gingen die Niederlande, das Vereinigte Königreich
und die USA einen anderen Weg als das kontinentale Europa. Man wollte über eine Herdenimmunität das Virus einzudämmen und schränkte das öffentliche Leben zunächst nicht ein. Dafür war man gegen
den Rat der Epidemiologen auch bereit, eine erhöhte Zahl von Todesopfern in Kauf zu nehmen. Einige philosophisch versierte Kommentatoren deuteten diese Strategie als eine, die von
utilitaristischer Ethik motiviert sei. Der Utilitarismus ist die herrschende ethische Doktrin der angelsächsischen Zivilisationen.
Mit dem Utilitarismus sind vor allem zwei Namen aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert
verbunden: Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Seine Bezeichnung leitet sich vom Lateinischen utilitas = Nützlichkeit ab, und tatsächlich identifiziert der Utilitarismus
über weite Strecken das Gute mit dem Nützlichen. Seit Bentham und Mill haben ihn andere Moralphilosophen beständig weiterentwickelt, haben an Korrekturen gefeilt, um seine Defizite auszubessern,
die er offenkundig hat: Defizite an Gerechtigkeit, Defizite aber auch im Menschenbild. Sie gehen sofort auf, wenn man seine Grundformel betrachtet, die auf Bentham zurückgeht: politisches Handeln
sei geleitet vom Prinzip des größten Glücks für die größte Anzahl von Bürgern. Das rechtfertigt Opfergänge der Wenigen für das Glück der Vielen. Tote für das blühende Leben. Allerdings hat selbst
Bentham sehr schnell erkannt, dass eine Formel mit zwei qualitativ so verschiedenen Faktoren – Glücks- und Verbreitungsmaximierung – nicht zielführend sein kann, und auch spätere Utilitaristen
haben weitere Mitspieler eingeführt wie Regeln und Präferenzen. Und so hat sich der Utilitarismus zu einem einflussreichen ethischen Konzept entwickelt, dessen Stärken in seiner
Anschlussfähigkeit an politisches Handeln liegen.
Doch zurück zum angelsächsischen Sonderweg in der Frühphase der Epidemie: die
kontinentalen europäischen Staaten haben relativ früh die freiheitlichen Grundrechte eingeschränkt. Dahinter stand und steht die ethische Grundüberzeugung, dass jeder Tote einer zu viel ist. Sie
wurzelt tief in zwei ethischen Konzeptionen, die miteinander verbunden sind: in der christlichen Ethik der Nächstenliebe und in der Kantischen Ethik der Menschenwürde, die es verbietet, Leben
gegen Leben quantitativ gegeneinander aufzurechnen. Der Mensch, so äußert Kant apodiktisch, sei keine Ware, sondern Zweck an sich selbst. Wirtschaft oder Leben, in dieser Alternative
obsiegt das Leben.
Es dauerte nicht sehr lange, bis der anglo-amerikanische Sonderweg angesichts rapide
steigender Infektions- und Todesraten aufgegeben wurde. Die britische, holländische und US-amerikanische Regierungen mussten vor dem Druck der öffentlichen Meinung kapitulieren und –
bestärkt durch die nüchternen mathematischen Exponentialgleichungen – ihren Kurs ändern. Seitdem scheint die Weltgesellschaft mit wenigen Ausnahmen wie Südkorea und Schweden nur noch einen Weg zu
präferieren: die radikale Einschränkung der Freiheitsrechte bei Hochschätzung des einzelnen Lebens. Das ist in Kenia nicht anders als in Indien oder Südafrika.
Die Weltgemeinschaft hat sich offenkundig für den Primat des Lebens über die Freiheit
entschieden, allen kulturellen Unterschieden zum Trotz. Ob die Gesellschaften nun hinduistische, islamische, christliche oder welche weltanschauliche Grundierungen auch immer haben, in der
Weltkrise ticken sie alle ähnlich und stellen den Wert des einzelnen Lebens über das gesellschaftliche Leben. Man muss, um die Eindrücklichkeit dieser transnationalen Einigkeit wirklich zu
begreifen, von dürren Worten abheben und gleichsam im Drohnenflug über die großen Boulevards und Plätze der Weltstädte fliegen. Es ist, als ob die Menschheit verschwunden wäre. Ist all das nicht
ein eindrücklicher Beweis dafür, dass sich die Weltgemeinschaft unisono einig ist über den Wert des Lebens?
Dieses Bild ist allerdings zu schön, um es bedenkenlos teilen zu können. Dagegen
sprechen die blutigen Konflikte, weltweit werden für 2019 insgesamt 27 Kriege und bewaffnete Konflikte gezählt. Weshalb misst die Menschheit den Wert des Lebens mit doppeltem Maß?
Die Corona-Pandemie lässt die Bedrohung unterschiedslos für jeden Einzelnen spürbar
werden. Die Kriege hingegen sind die der anderen. Das stimmt so zwar nicht, denn über unsere Interessen sind auch wir am Leid der anderen mitursächlich beteiligt. Aber es sind eben lange und
unüberschaubare Ketten, die wir ausblenden können. Dagegen berühren die Bilder und Videos vom hektisch-verzweifelten Alltag einer Klinik in Bergamo oder New York unser moralisches Empfinden ganz
unmittelbar. Wenn wir uns von dort die Ereignisse auf das Display unsrer Mobilgeräte schicken lassen, dann steckt darin zudem auch die Botschaft: »Das könnte uns ebenfalls
bevorstehen«. Die Medien und die öffentliche Meinung machen uns covidoid, und weil in digitalen Zeiten jeder Empfänger auch zugleich ein Sender ist, erfährt die öffentliche Meinung eine
ungeheure monothematische Dynamik, in der sich alles um Tod und Leben dreht. Sie treibt Regierungen und Bevölkerungen vor sich her, es ist ein mediales Geschehen, das die Menschheit moralisch
einstimmig handeln lässt – wenn man vom Verteilungskampf von Masken und Schutzkleidung einmal absieht, der mit harten Bandagen geführt wird. Autoritäre Regierungen haben deshalb folgerichtig
genau hier, am Hebel der Informationskanäle, angesetzt mit frisiertem Zahlenmaterial, um Panik in der Bevölkerung nicht aufkommen zu lassen. Denn Panik kann eine Gesellschaft aus den Angeln
heben.
Das schöne Bild eines weltumspannenden moralischen Konsenses hat also einige Kratzer.
Dennoch: Die tiefe Weltkrise lässt die Menschen moralisch näher zusammenrücken. Und wenn es gelingt, in Nach-Corona-Zeiten die Einsicht zu bewahren, dass wir das Virus nur durch
gemeinschaftliches Handeln besiegt haben, dann könnte daraus eine neue Welt entstehen.
8. Eintrag vom 11. April 2020
Ethik, zweiterVersuch
Es entspricht wohl unserer
heutigen Auffassung, Legalität mit Moralität nicht gleichzusetzen. Dabei folgen wir Immanuel Kant, der meinte, niemals könnten Gesetze des Rechts das unbedingte Sollen abbilden, das
der kategorische Imperativ vorschreibt. Das hat noch nicht viel mit der Corona-Pandemie zu tun. Mit G.W.F Hegel aber kommen wir ihr näher. Nein, nicht der Umstand ist dabei
entscheidend, dass der artistischste Denker der Philosophiegeschichte im Jahr 1831 an der Cholera-Epidemie starb, die damals Europa heimsuchte. Eher ist es seine Staatsphilosophie,
die gerade ein verhaltenes Comeback erfährt, und das weltweit.
Hegel hing nämlich der Vision an, die Zivilisationsgeschichte der Menschheit
schreite über viele Steine hinweg zu einem Zustand, in dem die Kulturleistungen sich vernünftig vollenden. Von bloßer Meinung zu vollgültiger wissenschaftlicher Erkenntnis, vom
religiösen Animismus zum geistvollen christlichen Gott, von der Barbarei der Sklavenhaltergesellschaften zum bürgerlichen Staat. Alles eine beeindruckende Geschichte des Fortschritts,
in deren Verlauf die Vernunftvisionen der Philosophen schlussendlich verwirklicht werden in den Wissenschaften und in der Form des gemeinschaftlichen Lebens. Denn jede einzelne
Person, meinte Hegel treffend, bedarf eines gesicherten Raumes wechselseitiger Anerkennung, um ihr Potenzial zu entfalten. Ja mehr noch, denn es sind ja die Personen selbst, die über
die Generationenketten Rechts- und Organisationsräume etablieren, und in Vollendung gedacht – oder doch nur gehofft? – fällt das moralische Bewusstsein mit dem Rechtsstaat in Eins.
»Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee«, heißt es im § 257 seiner Rechtsphilosophie.
Nun, das sind philosophische Konzepte. Nicht mehr, aber eben auch nicht
weniger, denn in Krisenzeiten erweist sich tatsächlich, wie gesund und fest das moralische Skelett eines Staates ist, und wie viel Fleisch sein sittlicher Blutkreislauf am Leben
erhalten kann. Sind es die großen Muskelstränge aus Airlines, Automobilindustrie und Warenhausketten? Oder auch die kleinen Körperglieder, die Gastwirte, die Friseure, die Imker, die
Reitschulen? Die finanziell schmalbudgetierten Startups? Die Liste ist lang und zeigt uns die Gesichter unseres gesellschaftlichen Lebens. Der Staat greift augenblicklich vielen
unter die Arme und verschuldet sich in schwindelerregender Höhe. Wir erleben, wie schon während der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt, die starke Stunde des Staates auf der Bühne der
handelnden Akteure. Damals stützte er die systemrelevanten Banken, heute dehnt er seine Verantwortlichkeit auch auf den Mittelstand, ja sogar auf die Einzelkämpfer aus.
Nun gestalten sich, zweihundert Jahre nach
Hegels Staatsphilosophie, die Dinge grundlegend komplexer. Die Institutionen, auf die schon Hegel setzte, organisieren nicht mehr nur Bildungswesen, Gesundheit, Rechtspflege, Polizei
und wirtschaftliche Korporationen, sie setzen auch Produktions- und Verteilungsstandards, formulieren und überwachen Gesundheits- und Sicherheitsnormen, regulieren Informationskanäle
und schützen das Individuum in seinen Persönlichkeitsrechten in der digitalen Welt. Und da gewinnt ein Staat, der in Krisen die sozialen Notlagen bewältigt, an ethischer Statur.
Gegenwärtig sprechen die Todeszahlen eine deutliche Sprache: Die Letalität der Epidemie ist in Deutschland, Österreich, Norwegen und der Schweiz heute um die Hälfte geringer als in
den USA, in Spanien, Italien und Großbritannien beträgt sie gar das fünf- bis sechsfache. Gewiss, man muss die Aussagekraft der Zahlen vorsichtig bewerten, und zwar sowohl die Opfer-
wie auch die Infektionszahlen, zudem werden sie übermorgen, wenn die Maxima in den betreffenden Ländern erreicht sind, wieder anders aussehen. Doch einen ersten Eindruck über die
Funktionalität der Staaten, über ihr jeweiliges Governance, vermitteln
sie durchaus, und so bestaunt die New York Times in mehreren Artikeln die »German Exception« (28.3. und 4.4.). Zum Vergleich stehen die neoliberalistisch organisierten Gemeinwesen
Großbritanniens und der USA auf der einen Seite und der stärker auf das Gemeinwohl verpflichteten Gesellschaften Europas. Zum Vergleich stehen aber auch die Nord- und die Südländer
Europas, und berücksichtigt werden müssen auch in einer globalen Bilanz die ökonomisch, fiskalisch und sozial ausgebluteten Regionen Afrikas, Südasiens und Lateinamerikas. Für solche
Vergleiche stehen mehrere Indices bereit. Der Human Development Index berücksichtigt neben dem Pro-Kopf-Einkommen auch Faktoren wie Gesundheit, Lebenserwartung und Ausbildung. Die
OECD führt einen internationalen Gerechtigkeitsindex, und seit 2006 gibt es einen Happy Planet Index, der die ökologische Effizienz bewertet, mit der die Nationalstaaten Wohlstand und
Wohlbefinden ihrer Bürger bewirken.
Seit Hegels Tagen sind viele Organisationen und Institutionen entstanden,
die mit alternativen Beurteilungskriterien den Puls der Menschheit messen. Die Ökonomen allerdings beschwören nach wie vor das BIP und dessen Wachstumskurve. Auf Punkt und Komma genau
lassen sie ihre Luftbuchungen über die zu erwartende scharfe Rezession in diesem Jahr verlauten, und sie trösten uns mit einem mindestens ebenso steilen Aufschwung 2021. Die Krise
könnte, ja sollte uns dagegen den Blick auf andere, innovativere, menschenfreundlichere Datensätze richten. Wer meint, man könne nach alten Rezepturen weiter kuren, der hat von der
schwersten Weltkrise seit dem Zweiten Weltkrieg nichts begriffen.
Denn die nächste Großkrise ist schon unterwegs, langsam und schleichend seit
mehreren Jahrzehnten, und ebenso lange schon ermahnen die Wissenschaftler erfolglos Politik und Gesellschaften. Sie berechnen uns die Kipppunkte des Klimas, die alles wieder ganz
plötzlich entstehen lassen, so wie jetzt ein kleiner Virentransfer aus der Tierwelt die Zivilisationen aus ihrem Gleichgewicht geworfen haben. Heute muss die gesellschaftliche
Vernunft über Hegels Vision vom ethischen Staat hinweg steigen zu einer ethischen Weltzivilisation.
9. Eintrag vom 15. April 2020
Kleine und große Irrtümer
In seiner Einleitung zur ›Phänomenologie des Geistes‹ warnt Georg Wilhelm
Friedrich Hegel eindringlich davor, von der Wissenschaft zu erwarten, sie müsse fehlerfrei operieren. Die wissenschaftliche Erkenntnis – so bringt er es in eine Optik – sei wie ein Lichtstrahl,
der, wenn er durch ein Medium dringt, eine Brechung erfährt – und es nütze nichts, wenn man in Kenntnis der Brechungsgesetze den Winkel der Abweichung im Resultate korrigiere, denn es sei der
Strahl selbst, wodurch die Wahrheit uns berührt: „Dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“
Heute prangt Hegels Zitat in Leuchtschrift an der Eingangsfassade des Stuttgarter
Hauptbahnhofs. Manchen Stuttgart-21-Befürwortern galt und gilt er als philosophischer Einspruch des berühmtesten Sohnes der Stadt gegen die Bedenkenträger des Großprojektes. Man könnte mit Hegels
berühmtem Satz aber auch das gesellschaftliche Handeln in der Corona-Krise kommentieren. Denn gegenwärtig fahren die Zivilisationen rund um den Globus »auf Sicht« und »ohne Drehbuch«, so lauten
zwei sehr treffende Metaphern. Irrtümer bleiben da nicht aus. Hegel wusste das, ja er machte geradezu den Irrtum salonfähig, weil er, Hegel, ihn, den Irrtum, zum produktiven Motor des Erkennens
machte. Auch Hegel fuhr »auf Sicht«, aber, und das markiert den entscheidenden Unterschied zu uns Heutigen, Hegel vertraute darauf, dass die Vernunft dabei das Drehbuch schreibt. Und er setzte
dazu auf die Reflexionskraft der Vernunft, die die kleinen Fehler durchschaut und sie auf diese Weise in den Fortschritt des Menschengeschlechtes hineinwebt.
Befinden wir uns heute noch in Hegels vergleichsweise komfortabler Lage? Zweifel sind
angebracht. Die Covid-19-Pandemie zeigt uns im Zeitraffer, mit welchen Problemen wir in naher Zukunft zu kämpfen haben. Probleme, die zu großen Irrtümern auswachsen können, wenn wir jetzt nicht
achthaben. Die Weltkrise ist ein Testlauf für das Kommende, eine Simulation einer drohenden Katastrophe epischen Ausmaßes. Sie zeigt uns, welche Optionen wir noch haben und welche schon verspielt
sind. Und sie zeigt uns auch, welchen Preis uns die verbleibenden Handlungsmöglichkeiten abfordern. Ja sicher, es wird weiterhin menschliches Leben auf der Erde geben, für viele, aber wie wird es
aussehen? Spielen wir das Szenario einmal kurz an einem einzigen Gesichtspunkt durch.
Der weltweite Lockdown parzelliert die Weltgemeinschaft entlang
nationalstaatlicher Grenzen, und weitere Grenzen schneiden tief in das soziale Fleisch jeder Gesellschaft und separieren jung von alt, Armut von sozial Privilegierten, Gewinnern von Verlierern.
Grenzen sichern Unterschiede, sie müssen verteidigt werden. Sicherheit wird zum tragenden Rational der Gesellschaft. Welcher Raum bleibt der Freiheit, die einst, seit dem Beginn der Neuzeit, die
Legitimationsgrundlage gesellschaftlichen Lebens war? Vielleicht überlebt sie im Vokabular einer Sicherheitsgesellschaft, vielleicht war Freiheit in ihrem gesellschaftlichen Kleid immer schon ein
wenig Fake, vielleicht lässt sich bei verbesserter Verblendungsanstrengung da noch mehr polieren, und vielleicht fällt sogar manchem Intellektuellen dazu noch ein schräges Argument ein. Die
totalitären Gesellschaftsexperimente bieten da ja manches an, man müsste es nur auf die neue Weltlage kopieren, in der das Überleben zum Grundwert geworden sein wird. Aber wenn es denn
tatsächlich dazu kommen sollte, Freiheit, Solidarität und Mitgefühl auf dem Altar der ausgrenzenden Sicherheit zu opfern, dann wird die Menschheit wieder ein Herdendasein führen wie einst, bevor
sie in das Stadium der Zivilisation getreten war. Die sozialen Netzwerke haben in den letzten Jahren schon einiges an Pilotfunktion geleistet für eine parzellierte Ethik, die im Anderen einen
Virenträger sieht, der mich mit seinem Elend anstecken könnte.
Noch sind wir nicht so weit. Die Vernunft kann aus der simulierten zivilisatorischen
Katastrophe lernen. Noch haben wir es in der Hand, unsere eigene Gesellschaft umzubauen und – unser wirtschaftliches und kulturelles Kapital im Rücken – auch der Weltgesellschaft wichtige Impulse
zu geben. Die kleinen Irrtümer liegen uns deutlich vor Augen: den Einzelhandel stärken und auf die perversen Bequemlichkeiten des Online-Handels zu verzichten. Aus den Immobilien nicht das
Marktmaximum herauszupressen. Unsere Lieblingskneipe, unser kleines privatwirtschaftliches Theater über ein Crowdfunding unterstützen wie es etwa Startnext oder 99 Funken anbieten. Viele kleine
Irrtümer, die wir in den letzten Jahren begangen haben, lassen sich mit eigener Initiative korrigieren.
Die mittelgroßen Irrtümer sind schwerer zu kurieren. Sie liegen in der strukturellen und
organisatorischen Unwucht der Gesellschaften. Sie betreffen Steuergerechtigkeit und Steuerflucht, Kapitalzugänge, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, ein sorgfältigeres Abwägen von Investitionen
im Hinblick auf Gemeinwohl und Naturverbrauch, eine kritische Bestandsaufnahme von Ungleichheit und Gerechtigkeitsdefizite und manches mehr. Da stehen viele Üblichkeiten zur Revision an. Aber der
Krisenschock, der jetzt durch die Gemeinschaften gefahren ist, könnte die Gunst einer glücklichen Stunde, einen Kairos, bedeuten. Wir könnten jetzt verstehen lernen, dass uns
individuelle Lösungen mehr schaden als nützen. Zugegeben, das wird aus freien Stücken, dem individuellen Goodwill anheimgestellt, nicht glücken, dazu bedarf es gesetzgeberischen
Handelns. Große Vermögen und üppige Pensionen sollten zu solidarischen Abgaben verpflichtet werden.
Die wirklich großen Irrtümer aber sind die ganz harten Nüsse, denn sie verlangen
ausgleichenden Verzicht von den reichen Nationen. Eine neue Weltwirtschaftsordnung, ein verändertes Konsumverhalten, die Liste ist lang und bekannt. Sie enthält die schweren Fehler, die wir
begangen haben, wider besseres Wissen, denn bislang waren wir die Profiteure der technologisch-ökonomischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Das größte Problem aber ist eines, das keinen
eigentlichen Irrtum darstellt: Der unleugbare Tatbestand, dass wir viel zu viele sind. In Afrika wird sich den Prognosen zufolge die Bevölkerung bis 2050 auf zwei Milliarden Menschen verdoppeln.
Indien wird noch einmal um 30 % zulegen auf dann 1,7 Milliarden. Weltweit muss unser Planet dann knapp 10 Milliarden Menschen ernähren, heute zählen wir schon 7,7 Milliarden. Doch das sind nur
kalte Zahlen, Nahrung für Statistiker. Dahinter verstecken sich die Einzelschicksale, die Frauen etwa, die in der Sahelzone mehrere Kilometer bis zur nächsten Wasserstelle laufen. Oder die
indischen Wanderarbeiter, die bei Verhängung des Lockdowns wie Abwasser behandelt würden, das aus einer Fabrik abgelassen wird, wie die indische Schriftstellerin Arundhati Roy
mit ergreifender Bitterkeit schreibt. Es muss der gesellschaftlichen Vernunft gelingen, den Teufelskreis zu durchbrechen, in den die Familien traditioneller Kulturen gefangen sind, wo auf die
Kraft der vielen Kinder gesetzt wird, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. In Niger, Mali, Somalia, Tschad und Nigeria gebären die Frauen 6–8 Nachkommen.
Eng verbunden mit diesem Bevölkerungswachstum ist der exorbitante Landschafts- und
Naturverbrauch. Aber hier, an dieser Stelle, kommen wieder die Profiteure in den Blick, die reichen Nationen, die den größten Anteil am Naturraub nehmen durch ihren, durch unseren ökologischen
Fußabdruck. Das wäre ein eigenes Thema, hier nur so viel: auch hier gibt es die kleinen, individuellen Lösungen. Teilen statt besitzen etwa, und: muss es schon wieder eine Kreuzfahrt sein?
Beglückt es nicht eher zu wissen, dass man mit seinem Handeln Richtiges tut statt Falsches, das man sich selbst nicht zugeben darf? Beschädigen wir nicht durch beständiges Leugnen unserer
Handlungsfolgen nachhaltig unseren seelischen Haushalt?
10. Eintrag vom 21. April 2020
Scham
Manchmal können sehr alte Texte ein Augenöffner sein. So berichtet Platon in seinem Dialog Protagoras,
der Göttervater habe sich besorgt gezeigt ob des wüsten Treibens der noch jungen Menschheit. Dort auf der Erde schlugen sich die Menschen, sie begegneten einander mit Hass, Neid und Hinterlist.
Zeus schickte seinen Götterboten Hermes hinunter, damit er sie mit der sittlichen Scham impfe. Ob er es so machen solle wie mit den Fertigkeiten, fragte Hermes seinen Boss, nämlich in ungleicher
Verteilung? Ein Arzt reiche doch für viele andere, nicht jeder müsse also über ärztliche Kompetenz verfügen, und ebenso sei es mit den Handwerkern bestellt. »Verteile die Scham unter alle«,
erwiderte Zeus, »und alle sollen teil an ihr haben. Denn es könnten keine Staaten zustande kommen, wenn nur wenige ihrer teilhaftig wären, so wie bei den anderen Künsten. Ja, gib sogar das Gesetz
in meinem Namen, dass man den der Scham und Gerechtigkeit Unfähigen als einen Krebsschaden des Staates vertilge!«
Die Mythologie verfügt über den unschätzbaren Vorteil, aus olympischer Höhe das
Geschehen überschauen zu können. Oder, so korrigieren psychologisch versierte Mythenforscher, aus der tiefsten Tiefe unserer Seele. Ich persönlich gebe den Letzteren meinen Kredit. Und ja, gerade
wir Deutschen haben in der jüngeren Geschichte unsere Erfahrungen mit kollektiver Scham gemacht. Wir wissen, wie scharf ihre Säure ist, mit der sie sich durch die Generationen frisst. Und da ist
es keine schlechte Übung, den Sprung über den Coronatag zu wagen, um zu imaginieren, wie wir aus den Augen der heutigen Kinder betrachtet werden und welche Urteile sie fällen werden über unsere
moralische Integrität. Wie also war es damals, als das Virus wütete, mit unserer Hilfsbereitschaft bestellt? Welchen Radius hatte unsere Solidarität? Was ist aus Europa geworden, und was mit der
so oft mit stolzem Brustton zitierten Internationalen Gemeinschaft?
Nach anfänglichem Zögern wurden schwerkranke Patienten aus Italien
und Frankreich in unsere Kliniken geflogen. Doch zuvor kamen die Chinesen und die Russen mit Frachten von medizinischem Material und pflanzten medienwirksam ihre Fahnen auf die Kisten. »Es ist
unbestritten: Italien war allein«, sagte der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 21. April. »Ja, es ist wahr, dass niemand wirklich
dafür bereit war. Es ist auch wahr, dass viele nicht rechtzeitig da waren, als Italien zu Beginn eine helfende Hand brauchte«, so entschuldigte sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen im Namen Europas. Das Echo in den italienischen Medien dem deutschen Verhalten gegenüber war und ist verheerend. Alte Ressentiments gegen den mächtigen Nachbarn aus dem Norden brechen auf,
als »Hitlers Enkel« beschimpft Elio Lannutti, ein Politiker der Cinque Stelle, die Deutschen. Umgekehrt warnen Kolumnisten und Politiker des Nordens davor, Euros in der mafiösen italienischen
Gesellschaft zu versenken. Im rauen Ton zwischen dem Norden und dem Süden verflüchtigt sich der europäische Geist. Im saarländischen Kleinbittersdorf werfen Deutsche mit Eiern nach den Franzosen
und beschimpfen sie als »dreckige Franzosen«: zurück mit Euch ins »Corona-Frankreich«! Auch wenn es Einzelfälle sind – sie lassen nationalistische Ressentiments aufleben, die man längst
überwunden glaubte im europäischen Haus. Ja, werden wir unseren Kindern und Enkelkindern sagen müssen, dafür schämen wir uns noch heute. Dass wir den moralischen Schaden schlichtweg ignoriert
haben, als es darum ging, mit europäischen Anleihen ein solidarisches Zeichen zu setzen, anstatt buchhalterisch den Stift zu zücken. Dass es uns nicht in den Sinn kommt, die strukturelle
Ungerechtigkeit der Eurozone zu reparieren. Dass der Norden seine Vorteile einfach nur aussitzt, dass Geben und Nehmen nicht mehr im Gleichgewicht sind.
Vor drei Tagen kamen 47 unbegleitete Kinder aus dem Flüchtlingslager Moria im Landkreis Osnabrück an, nach
wochenlangem Kompetenzgerangel zwischen Innenministerium und Europäischer Kommission. Ursprünglich sollten es 1500 Kinder sein, die eine ›Koalition der Willigen‹ aus dem Corona-gefährdeten Lager
herausholen wollte, und selbst diese Zahl war schon eine Reduktion von ursprünglich angemahnten 5000 Kindern und Jugendlichen, die in den Lagern Gewalt und sexuellen Übergriffen recht schutzlos
ausgeliefert sind. Zudem haben diese jungen Menschen auf der Flucht aus Afghanistan, Syrien und Eritrea ihre Eltern verloren und gerieten zum Teil jahrelang in die Wirren von Bürgerkriegen,
Schlepperbanden und Deportationen. Sachsen-Anhalts CDU-Chef Holger Stahlknecht hält die Aufnahme der Kinder aus Moria für »derzeit absolut unangemessen«, für »deplaziert» und »weder politisch
noch gesundheitlich tragbar.« Europa, eine Wertegemeinschaft, die sich den Jubelchor der 9. Symphonie Beethovens zur Europahymne erkoren hat mit dem Text Schillers aus der Ode an die Freude:
»Freude, schöner Götterfunken, / Tochter aus Elysium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligtum. / Deine Zauber binden wieder, / Was die Mode streng geteilt, / Alle Menschen
werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt.«
Nun gut, werden Sie sagen, das alles ist doch weit weg. Wie sieht es in der Nähe aus? Dazu nur ein Beispiel: In
einem benachbarten Haus verkauft der Apotheker der Rats-Apotheke in Esslingen Schutzmasken, die er eigens aus der Schweiz importiert. Schöne Stücke in farbigem Tuch, zwar ohne Ventil und
Zertifikat, aber man könne da noch in einen eingearbeiteten Schlitz eine Damenbinde hineinstecken, sagt mir eine Dame, die in der langen und disziplinierten Schlange ansteht. Der Preis?
Normalerweise ein paar Cent. Jetzt: 16 Euro das Stück.
Ja, die Liste ist lang. Meine nichtgeborenen Enkel hören mir immer noch zu. Und auch Sie, verehrte Leserin und
Leser. Vielleicht, so denke ich und hoffe dabei, Sie im Boot zu haben, vielleicht wenden wir uns von unseren eigenen Sorgen mal einen Moment ab und widmen der freigewordenen Zeit einen Augenblick
des Schämens.
11. Eintrag vom 23. April 2020
Kinder
Heute Morgen las ich über mein Frühstücksbrötchen gebeugt in der ZEIT einen Artikel, der den Blick auf eine
Spezies lenkt, die in den letzten Wochen des Lockdowns kaum wahrgenommen wurde: die kleinen Kinder. Und wenn doch von ihnen im aufgeregten Virendiskurs die Rede ist, dann überwiegend nur in
versetzter Perspektive: Schule, Kindergarten oder die gestressten Eltern beim Homeschooling ihrer Kleinen. Doch wie steht es um ihre eigene Wahrnehmung? »Große Leute können die Krise meistern,
indem sie auf deren Ende hoffen. Kleine können das nicht, sie leben im Jetzt.« (Johanna Schoener in der ZEIT vom 23.04.2020)
Es ist viele Jahre her, dass meine beiden Kinder klein waren. Wir, die Eltern,
lebten damals in einer völlig anderen semantischen Welt. Es war die Welt des Sorgens und Besorgens, des Organisierens, des abendlichen Vorlesens. Es war eine Welt, durch die immer wieder der
frische Wind eines Fragens wehte, der uns Eltern eine ungewohnte Beleuchtung auf die Dinge warf. Wer hat die kleinen Steinchen in den Teer hineingehämmert? Welches Auto schaut fröhlich aus seiner
Frontpartie und welches traurig oder wütend? Und dann die Klassiker: Wenn ich die Augen schließe, ist die Welt dann noch da? Ist Gott, der die Welt erschaffen hatte, nicht schon lange tot? Eltern
kennen diese und andere Fragen, und zum größten Glück der Elternschaft gehört wohl, sich auf sie einzulassen, lustvoll mitzuspielen und sich in einem Beziehungsgewebe zu bewegen, das ihnen andere
Augen öffnet. Eltern können dann eine ungewohnt liebevolle und zärtliche Begegnung mit dem machen, was da draußen existiert und was – ja, aus Kindermund! – emotional und nicht abgestanden
verstanden sein möchte. Aber irgendwann, und das geschieht sehr bald, drängen sich uns Erwachsenen auch die peinlichen Lebenslügen auf, an die wir uns gewöhnt haben. Noch heute sehe ich das
empörte Gesicht meiner damals vielleicht achtjährigen Tochter vor mir, die gerade einen Film über das qualvolle Verenden von Delphinen in Fischernetzen gesehen hatte: »Wie könnt ihr nur Fisch
essen! Gerade ihr, meine Eltern!«
Die explorative Kraft ihrer Weltaugen macht gerade Kinder seelisch sehr
verwundbar. Ich sehe eine Mutter mit ihrem Kind, beide mit Mundschutz bewehrt, durch die Straßen unserer Stadt laufen. Und ich stelle mir vor, was durch den kleinen Kopf geht: Vielleicht hat die
Mutter dem Kind erklärt, man müsse die anderen vor Infektionen schützen. Die anderen? Vor mir? Aber ich bin doch gesund! Wie soll das Kind mit statistischen Wahrscheinlichkeiten umgehen, wenn
sogar viele Jugendliche, die nachmittags im Stadtpark in Gruppen auf dem Gras liegen, dazu außerstande sind? Dann mal andersherum: Du musst dich vor den anderen schützen! Ja, sind die denn
gefährlich für uns? Welch’ dunkler Raum öffnet sich da der Kinderseele, der sich füllt mit einem Krankheitstrauma, das in den Mitmenschen eine Quelle des Unheils sieht? In abgemildeterer
dramatischer Abschattierung erlebe ich Ähnliches, wenn ich mich auf dem Wochenmarkt geduldig in eine Schlange einreihe und die maskierten Bürger betrachte, die in sich gekehrt den infektiösen
Raum durchqueren. Das ist wohl übertrieben, aber doch richtig, sage ich mir dann und wäge damit persönliche Gefährdung und statistische Verlaufskurven ab, zwei Posten, die ich als erwachsener
Mensch zu unterscheiden vermag, ohne mich dabei in einem nennenswerten Widerspruch zu verstolpern. Kleine Kinder aber, glaube ich, sind dazu nicht in der Lage, weil ihr Horizont der einer
freundschaftlichen Welt ist. Zugegeben, sie kennen auch Feinde, die Raufbolde im Kindergarten etwa. Aber dann ist da wieder die Familie als bergender Raum.
»Traumtänzer, bürgerlicher!«, höre ich von der Seitenlinie. Wie stehe es mit den dysfunktionalen Familien? Siebzig
Quadratmeter für vier Personen? Hochhaus, Plattenbau, und unten am Spielplatz flattern rotweiße Absperrbänder im Frühlingswind. Nachtseiten unserer Gesellschaft sind es seit jeher, doch nun, in
Zeiten von Corona, wirft die härtere soziale Gangart längere Schatten im Zwielicht gesellschaftlicher Räume, die dem öffentlichen Blick entzogen sind.
»Leave no one behind« lesen wir derzeit an Häuserwänden und Stadtbrunnen. Viele zivilgesellschaftliche
Organisationen haben mit diesem Aufruf zu internationaler Solidarität aufgefordert, so etwa die ›Seebrücke‹. Er gilt den Flüchtlingen in den griechischen Lagern ebenso wie den rassistischen
Verhärtungen in den Gesellschaften des Westens. Er gilt allen Schwachen, ungeteilt und unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Ich möchte ihn ganz besonders auf die Kinder richten, denn in ihren
Seelen formatiert sich, wie unser aller Zukunft aussehen wird. Ob wir in Gesellschaften leben werden, die von einem gemeinschaftlichen Geist durchweht sind, oder ob wir uns schichten in Gewinner
und Verlierer.
12. Eintrag vom 26. April 2020
Dank
Heute ist der 90. Tag seit dem ersten Covid-19-Ausbruch in Bayern. Seit vier, fünf
Wochen steht die Welt still, so jedenfalls empfinden es die Bürgerinnen und Bürger in Europa, und bald darauf folgte die gesamte Welt. Die Bilder aus den norditalienischen Hospitälern waren ein
Menetekel, ja ein Armageddon, ein kleiner Weltuntergang im Video-Format.
Die Staaten verordneten ihren Bürgerschaften ein Bewegungsverbot. Alles bleibe von nun
an hier an diesem Ort, das ist Dekret, und zwar weltweit. Geschichtlich sicher einmalig, das hat es nie zuvor gegeben. Die Staaten verordneten ihren Bürgerschaften ein Raumverbot. Der öffentliche
Raum wurde abgesperrt, um die Verbreitungschancen der Viren zu minimieren. Das gesellschaftliche Leben wurde heruntergefahren, und dafür mussten die Staaten, und sie müssen es weiterhin, da ist
noch gar kein Ende absehbar, die Staaten also stehen in einer Bringschuld. Sie müssen die Krise meistern, irgendwie, sie müssen Hoffnungen wecken und sogar ein Versprechen abgeben.
In Zeiten wie diesen scheint es mir ratsam, sich dankbar daran zu erinnern, dass man
eine Bürgerin oder Bürger von Europa ist. Und in Europa selbst liegt die Zone der fürsorglichen Staaten eher im leistungsstarken Norden, und so spreche ich, nur für mich, einen Dank aus: In einer
welthistorisch bislang einmaligen Stunde hat die deutsche Regierung sehr viel an Verantwortungsbereitschaft gezeigt. Mit breitem Gießkannestrahl ergießen sich die Euromilliarden über die
Gesellschaft, wirtschaftliche Insolvenzen sollen vermieden werden, möglichst unversehrt soll alles aus der Krise hervorgehen. Dafür hat sich die Gesellschaft sehr zivilisiert, nein besser: sehr
diszipliniert gezeigt. Aber die Disziplin wird ja getragen von einem sehr tiefen Einverständnis, das die Zivilgesellschaften Europas mit ihrem Staat haben. Und der Staat zeigte sich sehr schnell
im Handeln. Wer das bezweifelt, schaue nach England und Amerika, von Indien und Südafrika mal ganz abgesehen: Wir leben in einem intakten Gemeinwesen.
Mein Dank geht auch an diese Gesellschaft, die so viele bunte Strähnen im Haar trägt,
und die dann zu einem gemeinsamen Willen fähig ist. Zu beiden – Staat wie Gesellschaft – hatte ich als junger Student mit Anfang zwanzig ein eher gespanntes, wenn nicht sogar gleichgültiges
Verhältnis. Ich hielt es mit einem Zitat, das Robert Musil seinem Romanhelden Ulrich in den Mund legte und das in etwa lautete: Er, Ulrich, erhebe in einem Staat den Anspruch auf freundliche
Behandlung, genauso wie sie jeder Concierge eines Hotels den Gästen entgegen bringt. Und ja, das passte für mich zum schmalen Handtuch, das die alte Bundesrepublik in die Geographie Europas
zeichnete. Ein schmales Handtuch mit einer Verwaltungshauptstadt am Rhein. Als ich in Indien lebte, änderte sich mein Verhältnis zum Staat. Ich lernte den immensen kulturellen Wert unseres
deutschen Rechtsstaates schätzen, vorbei war das mit dem Handtuch. Staat, Gesellschaft und öffentliche Meinung machen ein feines Gewebe, und in der Krise rücken die gesellschaftlichen Kräfte
zusammen, man ist sachorientiert, die Fakten wiegen schwerer als das Parteiengezänk. Wer das bezweifelt, schaue auf Brasilien, die USA, auf das Vereinigte Königreich Großbritannien, auf Ungarn.
Uns zeichnet ein starker Gemeinsinn aus, wer hätte das gedacht nach all den Skandalen, die sich die politische und wirtschaftliche Elite geleistet hat in den letzten Jahren. An diesen Gemeinsinn
geht mein Dank.
Der Gemeinsinn ist das stärkere soziale Band als der Patriotismus. Der Patriotismus
versagt in der Krise, sein Vokabular zu abstrakt, zu gemeinsprüchig, zu hohl. Keine starken Sprüche helfen in einer solchen Weltkrise, es braucht Expertenwissen und eine Politik, die darauf hört.
Keine Pressekonferenz des Weißen Hauses schüchtert das Virus ein, die Dinge werden vor Ort entschieden, da, wo das Virus wütet. In der Verantwortungsgemeinschaft der Bürger und ihrer
Institutionen, in einer intakten Gesellschaft mit einem übergreifenden Konsens. Gemeinsinn ist integrativ, Patriotismus dagegen setzt auf Ab- und Ausgrenzung. Und weil ein Virus sich nicht
entlang ideologischer Grenzen bewegt, wird bei einer Pandemie die patriotische Waffe stumpf.
Trumps Amerika (das keineswegs Amerika ausmacht) oder Bolsonaros Brasilien (das
ebenfalls nur eine hässliche Karikatur der Macht ist) machen uns vor, was auch möglich wäre. Wir können dankbar sein, dass uns ein solches Elend erspart bleibt.
Das entlastet uns aber nicht davon, den Gemeinsinn zu pflegen. Im Gegenteil: nur
wenn es uns gelingt, uns lautstark einzubringen, um unser gesellschaftliches Leben einer grundlegenden Revision zu unterziehen, nur dann bleibt der Gemeinsinn lebendig. Doch davon nächstens
mehr.
13. Eintrag vom 2. Mai 2020
New New Deal
So langsam, finde ich, wird es Zeit, die Zukunft zu gestalten. Wir befinden uns kurz vor dem Öffnen unserer Türen, Schritt um Schritt wird
gelockert, doch dann wieder: Maskenpflicht. Aber bald wird er losbrechen, der große Kampf um Milliardensummen steht uns bevor, ein Subventionskrieg vielleicht, auf jeden Fall kommt bald die große
Rechnung. Denn eines ist gewiss: Es wird sehr sehr teuer werden. Wie die Welt mit all diesen Spannungen fertig werden kann, Norden und Süden, Westen und Osten, – das lässt sich heute kaum
erahnen. Wir stehen an einer historischen Epochenschwelle.
In den letzten gut einhundert Jahren haben sich solche Epochen-schwellen
eigentlich nur zwei Mal ereignet: 1945 und 1989. Und nun, vom selben Kaliber, 2020. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Westen einen beispiellosen Schub. Wiederaufbau, Wirtschaftsboom, große
Erfindungen und Europäische Gemeinschaft, und das alles unter amerikanischem Nuklearschild. (Aus DDR-Perspektive liest sich ein anderes Narrativ.) 1989 brach das sowjetische Imperium
zusammen, seitdem geht der Kapitalismus global. 1945 und 1989 veränderten den Gang der Weltgeschichte. Und 2020? Seitdem befindet sich die Welt im Krisenmodus, und aus dem kommen wir aller
Wahrscheinlichkeit nach auch nicht mehr heraus. Wir fiebern. Wir stecken ganz tief in der Klemme. Wir stolpern von Krise zu Krise, wir sind ohne Steuerung, wir reagieren auf die Krisenwellen,
aber wir agieren nicht mehr.
Wir brauchen eine Neuordnung unseres Systems, wenigstens aber eine deutliche
Kurskorrektur. Das geht weit über Corona hinaus, oder besser gesagt: Corona ist ein Symbol, ein Menetekel gar, Corona meint ganz grundlegend das Verhältnis von Natur und Mensch. Denn dort wütet
Corona, und das Virus hat es erstaunlicherweise geschafft, das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Menschheit aus dem Gleis zu heben. Auf dem Gleisschotter legen wir gerade eine
Vollbremsung hin. Die größte Weltwirtschaftskrise seit dem New Deal, und das war vor 85 Jahren.
In Amerika hatte Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts fast
einen neuen Gesellschaftsvertrag ausgehandelt, den New Deal. Damit fand Roosevelt eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Er justierte das System neu aus, egalitärer als das alte, die
Einkommen glichen sich an bis in die späten 80er-Jahre. Das waren die goldenen Jahrzehnte Amerikas, die der Film so gern erinnert. Doch dann, unter neoliberaler Herrschaft, zündete der
Kapitalismus seine vorerst letzte Stufe, er schaltete seinen Turbo dazu. Eine Generation später fährt dieser Zug nun gegen die Wand. Zwangshaft für eine Wirtschaftsordnung, die niemals pausieren
darf, denn das Gesetz, nach dem er angetreten ist, lautet Unrast, Nervosität und der stete Blick nach dem Geschäft. Doch nun: Alle mal herhören: Pause!
Wir brauchen jetzt einen New New Deal. Er ist ein Green New Deal, aber mit einem dicken
sozialen Plus. Wir brauchen eine Revision unseres Gesellschaftsvertrages, auch das muss auf den Tisch. Da sind nämlich ein paar sehr gravierende Fehler entdeckt worden, Unwuchten, die sich dann
gegenseitig hochgeschaukelt haben, das ganze System ist ins Schlingern geraten. Davon berichten Wissenschaftler aller Couleur, detailreich und überzeugend, und sie präsentieren eine lange
Fehlerliste. Sie beginnt beim Finanz- und Steuersystem und erstreckt sich über nahezu alle Bereiche unseres Lebens: Landwirtschaft und Ernährungsgewohnheiten, Industrie und Handel,
Mobilität, alte und neue Medien, Technologie und Technikrisiken, Pflege, Versorgung und vieles mehr. Im wirtschaftlichen Pausenmodus finanzieren sich viele dieser Geschäftsfelder nicht mehr
aus eigenen Ressourcen. Sie werden von der Gemeinschaft finanziert, und damit erwirkt sich ebendiese Gemeinschaft das Recht, ein neues ökonomisches Modell einzufordern. Und weil die Kosten
der gegenwärtigen Krise über Gebühr von den jüngeren Jahrgängen getragen werden müssen, gebieten es Fairness und Generationengerechtigkeit, den Stimmen der Jüngeren besonderes Gewicht zu
verleihen.
Die Gegenwart scheint günstig, solche und andere, damit verwandte Fragen zu stellen. Es
sind Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unseres wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Lebens. Sie greifen tief ins Fleisch der Gesellschaft, und dabei erspüren sie manche dicke Fettschicht.
Wie immer der Kapitalismus zu reformieren ist, eine Fettabsaugung tut Not.
14. Eintrag vom 4. Mai 2020
Blick aus der Zukunft
Nein, nicht alles war schlecht damals, wer behauptet das? Ich möchte fair mit der Vergangenheit umgehen. Jetzt, wo
wir wirklich durchatmen können, fünf Jahre nach dem schicksalhaften Jahr 2020, können wir, ja sollten wir auch das Positive der damaligen Lebensformen sehen, denn sie waren es schließlich, die
uns zur Vernunft haben kommen lassen.
Vor Corona – nach Corona, so lautet nun das Kreuz unserer neuen Zeitrechnung. Fast ist es frivol zu sagen, ein
Virus tauche auf und ersetze das historische Erscheinen eines Messias, den manche für den Gottessohn halten. Aber tatsächlich – Corona übt eine heilende Wirkung aus auf die Weltzivilisation. Es
war, das darf ich nun in fünfjähriger Rückblende sagen, es war eine Zeit großer Entscheidungen. Aber die Zivilgesellschaft hat gewonnen. Sie hat Kursänderungen erzwungen, sie hat begonnen, die
großen Monopole zu zerschlagen, und das alles ist ja erst ein Anfang. Selbst das Zwei-Grad-Ziel der Erderwärmung ist noch in Reichweite. Und es steht sogar zu hoffen, dass die Menschheit aus der
überstandenen Pandemie bessere Wege beschreitet – im Wirtschaftlichen wie im Kulturellen. Wir sind heute im Jahr 2025 humaner zur Biosphäre, und vielleicht formulieren wir in den nächsten
Jahren die Rechte der Natur und setzen sie in die Verfassung ein.
So könnte es lauten aus dem Jahr 2025. Das wäre, wenn es denn so käme, schon sehr schön! Wir, heute im Mai 2020,
hätten da einen rasanten Aufstieg vor uns, in Hoffnungen, die wir bislang nur träumten, fünfzig Jahre lang. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ereignete sich nämlich nicht nur die
neoliberale Wende des Kapitalismus, sondern es gab auch einen Kulturbetrieb, der eher im linksliberalen Spektrum zu finden ist bis heute. Fünfzig Jahre rege, umsichtige, aufgeklärte und
wissenschaftsaffine Wortführer in allen Disziplinen. Zunehmend international vernetzt, mit wichtigen Gesprächspartnern an der amerikanischen Ostküste, in Australien und mit den
Zivilgesellschaften des globalen Südens. Die letzten fünfzig Jahre sind unser zivilisatorisches Erbe. Seitdem reift das weltoffene Bewusstsein, zunächst in Schulpartnerschaften, und später dann
in Erasmus-Programmen und Firmenpraktika – unterwegs in der Welt. Das ist ein gutes Erbe, das wir nun einbringen.
Als also im Spätsommer 2020 virologisch das Schlimmste überstanden war, als uns nicht mehr die Sorge um das
leibliche Leben drückte, besannen wir uns auf das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben, auf das unsrige wie auf das der Anderen. Seit der Corona-Krise werden die Wissenschaftler gehört,
das war das entscheidende Novum im gesellschaftlichen Lauf. Früher kamen sie über die Rolle von Warnern nicht hinaus, jetzt wird um ihre Expertise gebeten beim Transformationsprozess. Es ging
beileibe nicht ohne harte Bandagen ab, von Frühjahr bis Herbst 2020 tobte ein Beteiligungspoker um den Staat, der als alleiniger Retter in der Krise auftrat. Die öffentliche Meinung drängte die
Regierung dazu, ihre Kredite nur transformationswilligen Unternehmen zu gewähren. An den wirtschaftlichen Folgen der Depression musste sich auch der Finanzsektor beteiligen, es war vorbei mit
Steueroasen, Leerverkäufen, Aktienrückkauf und Managerboni. Es war vorbei mit dem Selbstbereicherungssystem Casino-Kapitalismus, und das riss weitere Wirtschaftszweige mit sich. Wo früher der
Widerstand der Lobbyisten für schier unüberwindlich galt, so schmolz er nach Corona dahin wie Butter in der Sonne.
Ich gebe zu: Ich schildere die positiven Ereignisse sehr aus eurozentrischer Perspektive. Aber auch in den USA
veränderte sich das politische Klima nach der Abwahl von Donald Trump sehr zum Besseren. Die Europäische Gemeinschaft gewann an Einfluss gegenüber den Mitgliedsstaaten, Internationalismus setzte
sich gegen den Regionalismus durch, und knapp zwei Jahre nach Corona verabschiedete die EU ihr Euro-African-Partnership-Programm, jenes gigantische 5-Billionen-Projekt, mit dem die Europäische
Union begann, sich zur ökologischen und zivilisatorischen Schuld an Afrika zu bekennen. Ohne ein prosperierendes Afrika könne es keine Zukunft für die Menschheit geben, das blieb nun kein
Lippenbekenntnis mehr. Man konnte auch mit den Ortskenntnissen vieler NGO’s punktgenauer die Investitionen in afrikanische Zukunft platzieren, Direkthilfe statt Gießkanne, an deren Hauptstrahl
sich vor Corona nur allzu oft die korrupten Eliten bereicherten. Endlich kamen bei uns und anderswo auch diejenigen Stimmen zu Wort, die früher ideologisch diskreditiert wurden. Das Wort vom
Systemwandel gilt nicht mehr als Kampfbegriff, auch wenn der öffentliche Diskurs den Begriff des Transformationsprozess bevorzugt, um die anstehende Radikalität der Veränderungen zu
beschwichtigen. Es schlägt nun die große Stunde der wertorientierten Geistes- und Sozialwissenschaften, sie gewannen an Ansehen, sie spielten mit im Konzert der Transformationsstimmen.
Dabei ist alles noch Anfang. Aber die gesellschaftliche Vernunft reitet nun auf einem Momentum, auf einer Dynamik,
in der die wirtschaftlichen Partikularinteressen sich dem Gemeinwohl unterzuordnen haben. Heute, fünf Jahre nach Corona. Und ich halte mich bereit, in weiteren fünf Jahren aus der »Werkstatt des
neuen Lebens« zu berichten, dann in 2030.
15. Eintrag vom 10. Mai 2020
Befindlichkeit Europa
Die siebente Woche ist nun fast herum. Und langsam kommt wieder Leben auf. Auf dem Fischmarkt, der heute nichts mehr
mit Fischen zu tun hat, einem kleinen baumbestandenen Platz gerade um die Ecke, ein stiller Platz, aber heute Abend ist er belebter als sonst, Kinder tollen herum und vor dem Brunnen klampft ein
Gitarrenspieler. Um ihn versammeln sich Leute, die in den Refrain einstimmen. Es ist ein früher Sommerabend in meiner Stadt, jetzt im Mai. Später, nach Einbruch der Dunkelheit, lebt eine kleine
Ecke am Rathausmarkt auf, Leute sitzen auf den Stühlen vor einem geschlossenen Restaurant, die Szene ist eine Geste des Wartens, des Wartens auf Öffnung der Gastronomie.
Wir gehen gerade erste zögerliche Schritte in Richtung Normalität. Mit etwas eingezogenen Schultern
schauen die Epidemiologen auf die Öffnungen, die die Politik vorgibt. Wird es schiefgehen? Kommt eine zweite Welle? In Corona-Zeiten spielen die Ministerpräsidenten die erste Geige, sie
entscheiden jetzt über den Gang der Dinge. Deutschland: radikal föderalistisch. Ganz plötzlich kam es. Sachsen-Anhalt machte den Anfang und brachte eine Lawine in Gang, es schlägt die Stunde zur
politischen Profilierung, und da steht Laschet gegen Söder, der Norden gegen den Süden. Und im großen Szenario stehen die USA gegen China. Russland hat sich überdehnt mit seinem Krieg in Syrien
und rückt zurück in den Rang der kleineren Großmacht. Putin scheint wie gelähmt in Zeiten von Corona. Das Problem der Europäer: es gibt weltpolitisch keine verlässlichen Freunde mehr. Vielleicht
Kanada, vielleicht Korea und Japan, vielleicht Neuseeland und Australien, vielleicht einige Andenstaaten. Die Zone der freien Welt ist kleiner geworden.
Mich berührt der gegenwärtige Weltmoment zutiefst. Ich spüre, dass wir gerade Geschichte erleben,
wir stehen an einer Zeitenwende. Der Kampfplatz Virus beschleunigt den Gang des Geschehens, ich sehe mich wie auf einem Kork sitzend, der durch die Stromschnellen springt, dann unterzutauchen
droht, aber schon ist der Kork schon stromabwärts unterwegs, in eine Zukunft hinaus, die er nicht kennt. So erratisch der Kurs des Korkes, so verwirrt bin ich, denn ich ahne, dass sich die Welt
zivilisatorisch gerade neu ausrichtet. Wie sie aussehen wird, die neue Welt oder, wie der Gouverneur von New York, Andrew Cuomo prägte: »The New Normal« - das weiß derzeit keiner. Die Geschichte
hat uns und nicht umgekehrt.
Ich kann Ihnen aber sagen, wie mir zumute ist auf meinem Kork, der durch das Wasser treidelt. Mir
ist – enthusiastisch, dann wieder skeptisch bis zur Hoffnungslosigkeit, und dann finde ich mich wieder in einem Vertrauen auf die Intelligenz unserer Spezies. Daran kann selbst Trumps Amerika
nichts ändern, aber die Vision, dass das liberale gesellschaftliche Leben von zwei neuen Typen von totalitärer Herrschaft, der US-amerikanischen und der chinesischen, bedroht sein könnte,
beunruhigt mich doch sehr. Dann wieder Vertrauen in die Stabilität der Institutionen, aber der erste Gedanke an die polnische und ungarische Erosion innerhalb der europäischen Familie rückt die
politische Wirklichkeit wieder zurecht. Der Protofaschismus ist in Europa in mehreren Staaten angekommen, mit starken Persönlichkeiten, die erfolgreich auf die nationalistische Karte setzen.
Orban, Kacynzki und Johnson bilden die europäische Ausgabe von Trump, Erdogan, Putin, Li Keqiang. Das ist eine reale Gefahr, sage ich mir, doch würde sich das autoritäre Virus nicht totlaufen bei
heftiger Gegenwehr, bei Mobilisierung unserer Immunabwehr?
Darauf also hoffe ich. Das autoritäre Virus könnte sogar eine Sternstunde Europas bedeuten: Damals, so geht dann
die Erzählung an unsere Nachgeborenen, damals fand Europa zusammen, weil es erkannte, dass es galt, Werte zu verteidigen, freiheitliche Werte, wie man so leichthin sagt, und das ist ja auch gar
nicht falsch. Sie fühlen sich europäisch an, geboren und ausgebrütet in den Ländern seit der Aufklärung. Für mich sind es auch Bücher und Autoren, für mich ist es die Strahlkraft, die von Europa
aus in die Welt geht, ich stehe da mitten inne im Licht Europas, und ich liebe gerade dieses Europa. Mir in meiner Generation wurde Europa in der Schule durch den Seydlitz präsentiert – ich
sehe gerade im Netz, es gibt ihn immer noch –, die großen Städte und Landschaften in Farbabbildungen. Früh fing es also an, dass uns Europa als weitere Haut angeschneidert wurde, und als
Erwachsene pflegten wir sie, unsere europäischen Hautzellen, wir tragen ihr die Öle von Zivilisation und Kultur auf. Wir schätzen unsere Freiheiten, die Europa uns eröffnet. Gewiss, auch Europa
hat dunkle Seiten, die Conquista, der Imperialismus und den Faschismus. Aber die Geschichte gibt Europa eine weitere Chance.
Es braucht, und das ist nicht wenig, den gestaltenden Willen dazu. Und der wiederum braucht gestaltende
Persönlichkeiten. Große Zeiten bilden auch große Persönlichkeiten, heißt es. Welchem Europäer, welcher Europäerin trauen wir Europa zu?
16. Eintrag vom 17. Mai 2020
Blumen des
Misstrauens
Der Druck des Virus lockert sich gerade ein wenig. Zwar ist es noch überall und
nirgends, das ist seine Art, zu existieren, aber dennoch: Eine erste Entspannung. Das Fernsehen zeigt Jogger an der Seine und in Madrid. Morgen werden die Restaurants folgen, gestern ist die
Grenze zu Luxemburg geöffnet worden, und bald wird man auch keinen triftigen Grund mehr vorweisen müssen, um die anderen Nachbarn zu besuchen. Und auch die Volkswirtschaften erwachen langsam aus
dem Koma. Die Finanzminister und die Zentralbanken aber werden sie noch lange auf der Intensivstation betreuen müssen. Und später dann in der Reha.
Ja, machen wir uns nichts vor: die Zivilisationen sind ernsthaft erkrankt. Und stärker
noch als jede schwere Infektion – wenn man jeden Knochen spürt und das Husten schier den Brustkorb zerreißt – greift auch die Corona-Infektion die Organe der Gesellschaft an. Manches wird
absterben, irreparabel, doch auch Neues wird wachsen. Ein neues Gewächs zeigt sich gerade jeden Samstag in den Städten.
»Wir wollen unser Leben zurück«, heißt es auf den Plakaten der sogenannten Hygiene-Demos
in Stuttgart, München, Frankfurt und Berlin. Das klingt noch harmlos, fast wie aus Kindermund, aber es gibt auch andere Stimmen, Stimmen, die ihre Feinde suchen und gefunden haben.
Verschwörungstheorien, die schnell ins Antidemokratische umschlagen, weil sie sich nicht darauf verstehen, an sich auch mal zu zweifeln. Vielleicht haben die Sozialpsychologen recht, die die
Attraktivität von abstrusen Machtkonstellationen damit erklären, dass die Bürger die verlorene Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgewinnen wollen. Wenn ebendieses Segment der Gesellschaft
aber zur Auffassung gelangt, dass sie die Corona-Verlierer sind, kann sehr leicht eine neue Bürgerbewegung daraus werden. Zur Zeit, Stand Mitte Mai 2020, ist noch ungewiss, ob sich die neue
Opposition nach weiteren Öffnungen im Sand verlaufen wird oder, wenn nicht, welche Farben sie dann tragen wird. Mir fällt es schwer, aus dem Stand heraus die Proteste zu bewerten. Eigentlich, so
denke ich, zeugt es von gesunder Demokratie, wenn sich die Bürger artikulieren, gerade auch bei solch‘ gravierenden Einschränkungen des Lebens. Eine stumme, folgsame und über-disziplinierte
Bürgerschaft müsste uns doch eher noch beunruhigen. Andererseits vertieft sich gerade in Corona-Zeiten der Graben des Misstrauens, den bislang die populistische Rechte gegraben hat. Die Lager
haben sich noch nicht sortiert, bürgerrechtliches Engagement wird umspült von antisemitischen und xenophoben Strömungen. Das Camp der Misstrauischen befindet sich noch im Aufbau.
Fatalerweise sind wir durch die gesellschaftliche Vernunft – um es ein wenig pathetisch
zu sagen – angehalten, misstrauisch gegenüber dem Mitbürger zu sein. Das gilt nicht direkt der Person vor mir in der Warteschlange an der Ladenkasse, denn wir alle stehen ja unter Virenverdacht.
Jede und jeder ist nun ein Potenzieller. Aber gerade daraus formt sich ein neuer Alltagsmodus. Unter den Gesichtsmasken keimt das Misstrauen, denn wenn sie alle Gesichtsschutz tragen, denn
signalisieren sie uniform ihre potenzielle Infektionsgefährlichkeit. Natürlich sagt mir mein Verstand, dass die Behörden dieses ›Alle‹ uns verordnet haben, und überwiegend wir sehen sogar den
Sinn der Maßnahmen ein. Aber das schützt viele Bürgerinnen und Bürger anscheinend nicht davor, vom Virus des Misstrauens so sehr infiziert zu sein, dass sie sich mit politischem Vokabular
bewaffnen und einen totalitären Coup hinter den Schutzmaßnahmen vermuten. Ja, es sind kleine Minderheiten, die Mehrheit ist eher bürgerschaftlich besorgt um die Fundamente des
Grundgesetzes.
Zwei Monate Lockdown zeigen ihre psychologischen Stressspuren. Es gibt einiges
aufzuräumen, wenn sich die Lage weiter entspannen wird. Den Verschwörungs-Anhängern empfehle ich eine grundlegende Bilanz ihres Verhältnisses gegenüber dem Staat, den Medien und der Wissenschaft.
Ist es wirklich klug, sich selbst zum Opfer zu stempeln, statt dafür zu wirken, die Gesellschaft und die Politik auf einen nachhaltigen Entwicklungskurs zu bringen?
17. Eintrag vom 26. Mai 2020
Politischer Nihilismus
»Den ganzen schier endlosen März über, stellten die Amerikaner jeden Morgen beim
Aufwachen fest, dass sie in einem gescheiterten Staat leben«, schreibt der US-amerikanische Journalist George Packer in der Juni-Ausgabe des renommierten Magazins The Atlantic. Die
USA – ein failed state? Gemeinhin gelten gescheiterte Staaten als Gemeinwesen, in denen Oligarchen ihr Unwesen treiben, als Staaten, wo die herrschende Elite sich unmäßig bereichert, wo
Testosteron das gesellschaftliche Klima aufheizt bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der ›Fragile States Index‹ der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs listet für 2019
Jemen, Somalia und Südsudan in der Spitzengruppe auf. Wie – die USA werden 2020 dazu stoßen?
Gegenwärtig, Stand Ende Mai, fallen weltweit die Hälfte aller Corona-Infektionen und
Todesfälle auf die USA, Brasilien, Russland und Großbritannien. Sie alle werden regiert von Männern, die ihre Macht auf die Allianz von Lügen, Leugnen, Korruption und Diffamieren gebaut haben.
Donald Trump, Jair Bolsonaro, Wladimir Putin und Boris Johnson, sie alle sind machtbesessene Narzissten. Und sie sind Männer, die – Boris Johnson einmal ausgenommen – Männer sind und Männer sein
wollen. Die es für unmännlich halten, Angst zu haben vor so einem kleinen Virus. Trump und Bolsonaro sind dabei die beiden Prototypen eines neuen-alten Führers. Trump gibt den Immobilienmagnaten
und Bolsonaro den Caudillo. Heerführer sind sie beide, für sie ist der Kampf das politische Element, darauf verstehen sie sich, und konsequent verschieben beide, Trump wie Bolsonaro, die Ratio
der Politik von der Verständigung zur Konfrontation. Beide haben das Virus lange ignoriert, haben es auf ein Grippchen reduziert, und nun, wo das medizinische Personal zur Schlachtbank geführt
wird, weil ohne Schutzkleidung ausgerüstet, nun bringen sie sogar noch das Kunststück fertig, das Virus populistisch auszuschlachten. Trump zeigt auf China, er zeigt Xi Jinping die rote Karte, er
zündelt den kommenden Konflikt zwischen alter und neuer Weltmacht. Bolsonaro dagegen zündelt im rohstoffreichen Amazonien, wo er für die Großagrarier kämpft, die vorstoßen in die Wildnis des
Urwaldes, um Soja und Fleisch zu erzeugen für harte Devisen. Dafür, so scheint das brasilianische Narrativ zu lauten, braucht es ganze Männer, auf jeden Fall einen starken Willen, mit dem man
sich über vieles hinwegsetzen kann.
Die Corona-Krise macht die Tiefenstruktur beider Gesellschaften lesbar, der
US-amerikanischen wie der brasilianischen. Derzeit dominiert dort der Einzelkämpfer-Typus, die auf sich selbst gestellte und in der Not verlassene Existenz. Aus den Favelas und den
Mittelschichtvierteln klappen abends die Töpfe, es gibt Hunger, aber es gibt auch den agrarischen Krieg gegen die Natur, die so üppig und stark ist in den Regenwäldern. Die nordamerikanische
Variante, die das System Trump verkörpert, legt ähnlich brutal der Natur zu, sie schürft, pumpt und frackt. Es ist Natur, die zum Abschuss freigegeben ist. Davon gibt es schließlich reichlich
zwischen den beiden Küsten.
Wo aber stehen die Menschen dabei? Weshalb haben sie solche Personen gewählt, die ihren
klebrigen Film auf allem hinterlassen, was sie anfassen? Wie kann ich den Applaus verstehen, der Trump entgegenbrandet, wenn er sein 17-Wort-Vokabular ins Kreisen bringt? Wie sehen die Kräfte
aus, die in den vom Populismus infizierten Gesellschaften wirken? Ich möchte das gern wissen, denn ich spüre: Trump und Bolsonaro verfolgen einen politischen Nihilismus, der Schule machen könnte.
Beide verhökern den Gemeinsinn, jene edle demokratische Tugend, auf dem Markt, alles ist nur noch Deal. Wie können zutiefst traditionelle, weil religiös inspirierte Gesellschaften derart
degenerieren, frage ich mich immer wieder. Weshalb verfängt die Fäkalien Sprache, die Trump und Bolsonaro in den politischen Diskurs eingebracht haben und der selbst Frauen verfallen?
»Der Sinn von Politik ist Freiheit«, schrieb vor einem halben Jahrhundert Hannah Arendt,
tief beeindruckt von dem politischen Geist Amerikas. Davon ist heute, nach eben derselben Jahrhunderthälfte nur noch wenig geblieben. Mit der Wahl Richard Nixons 1968 begann die Polarisierung der
amerikanischen Gesellschaft, meint der New Yorker Romancier Paul Auster. In ihrem Malstrom pulverisiert die Freiheit und zerfällt zu Staub. Übrig bleibt ein demagogischer Kampfbegriff für einen
aggressiven Nationalismus.
18. Eintrag vom 28. Mai 2020
Der Coup
Von Brüssel ging gestern ein Erdbeben aus. Eine Revolution, vielleicht auch nur deren
Ankündigung. Ursula von der Leyen verkündete mit flammender Stimme das 750-Milliarden-Paket des EU-Konjunkturprogramms. Gemeinschaftshaftung und überwiegend nicht rückzahlbare Hilfen für den
Süden. Ein Coup ereignet sich gerade, ein Coup von oben, der Europa umkrempeln wird, eine Palastrevolution neuen Stils, denn die Putschisten wissen sich in Übereinstimmung mit den
wissenschaftlichen Experten: den Ökonomen, den Politologen, den Wahlforschern.
Endlich! Und der finanzielle Schub kommt nicht allein daher, weitere 500 Milliarden
haben Deutschland und Frankreich vereinbart, ebenfalls Hilfen und die Finanzierung nahe an der Transferunion. Europa kämpft mit seinem Überleben, so ernst scheint also dann doch die Lage zu sein.
Aus dem Lager der Sparsamen, dem Club der reichen Nordländer, hat sich Deutschland abrupt entfernt. Ursula von der Leyen hat ihre Segel aufgespannt, um vom Wind der Geschichte getrieben, die
Gunst der Stunde nutzend, der Gemeinschaft eine neue Identität zu geben. Wenn ihr davon nur die Hälfte gelingen sollte, dann wird sie als eine große Europäerin erinnert werden.
Es war die Union, die diesen Kurswechsel vollzogen hat nach Jahren des Sträubens.
Coronabonds und gemeinsame Anleihen waren der Kanzlerpartei stets ein rotes Tuch. Es muss derzeit also um Sein und Nichtsein gehen, wenn das plötzliche Stühlerücken um den gemeinsamen Tisch alte
Denkblockaden überwindet, wenn Privilegien aufgegeben werden. Die Wirtschaftsökonomen haben mehrfach ja schon vorgerechnet, welche Milliardenprivilegien den Nordländern aus Euro und Schengen
erwachsen sind in den letzten Jahren. Jetzt, endlich! Zahlen wir zurück. Und bauen damit ein neues Europa.
Gewiss, die Pläne müssen noch durch die Parlamente, Kompromisse werden am Volumen noch
zehren, aber das Momentum der Geschichte liegt bei den Akteuren. Ein flottes Label – nichts geht über ein gelungenes Framing – steht auch schon bereit, frisch und luftig: ›Next Generation
EU‹ heißt der gewaltige Ruck, der durch Europa gehen soll. Die Rede von einem Neuaufbau weckt nostalgische Erinnerungen an den Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Europa 2.0.,
geeinter, solidarischer, weitschauender. Grüner auch und fairer, das Momentum der Geschichte privilegiert das Teilen und fordert den Reichen Sonderabgaben ab, Vermögenssteuern sollten wieder
eingeführt und eine einmalige Vermögensabgabe von denen gefordert werden, die ohne Verluste durch die Krise gekommen sind. Das alles muss klug bedacht und sorgfältig mit der nötigen Expertise
ausgeführt werden, damit die Gelder dort ankommen, wo sie sinnvoll und das heißt: nachhaltig und resilient angelegt sein wollen.
Dazu bedarf es flankierend eines neuen Gesellschaftsvertrages, der Zukunft über
Gegenwart stellt. Denn wir setzen nun alles riskant auf eine Karte, auf die Karte der Zukunftsfähigkeit. Selten war so viel Lust auf Aufbruch. Ein neues Wirtschaftsmodell könnte den kurzatmigen
Konsum bepreisen, der zu schnell in der Abfalltonne landet. Wir könnten Dividenden der Vernunft einstreichen, wenn es gelingen sollte, Europa in einen Kontinent von Zukunftstechnologien zu
transformieren, mit einer natursorgsameren Landwirtschaft und einer wertorientierten Marktwirtschaft. Und nicht zuletzt müssen die Proportionen von Kapital und Arbeit korrigiert werden, damit die
Finanzoligarchie nicht länger die Realwirtschaft in den Schatten stellt oder gar – wie während der Finanzkrise 2008/09, stranguliert. Denn Arbeit, sinnerfüllende Arbeit dient dem Leben, das
können weder Aktien noch Derivate.
Es ereignen sich politische Veränderungen, die im vorcoronaren, verkrusteten Europa kaum
denkbar schienen. Europa bewegt sich, selten war es so schön, so erfüllend und erhebend, dazuzugehören. Von Europa könnte ein Impuls ausgehen in die Welt, eine Vision, ein Vorschlag, ein Modell.
Die ethische Meinungsführerschaft für ein zivilgesellschaftliches Morgen, sie könnte von Europa ausgehen. Wir müssen uns nur zukunftskompetent bewegen.
19. Eintrag vom 29. Mai 2020
Das stehengebliebene Jahr
Das lange Pfingstwochenende hat begonnen
jetzt am Freitagabend. Einzelne Gesprächsspitzen steigen empor aus dem murmelnden Geräuschteppich draußen am Rathausmarkt, wo die Restaurants ihre Tischzeilen ausgeweitet haben, um ihre Gäste
abstandswahrend zu platzieren. Wir tasten uns nicht mehr so vorsichtig vor in eine neue Normalität, wir machen jetzt größere Schritte.
Und dabei fällt auf, aus wie vielen einzelnen Ringen unser soziales Leben besteht.
Gerade weil nun jedes Land seine eigenen Verordnungswege geht, weil heute Hessen Beschränkungen aufhebt und morgen Sachsen, strecken sich die Öffnungen über Tage hinweg. So können wir das rasende
Geschehen wie in Zeitlupe betrachten. Schule, Sportstätten, kleine Konzerte unter freiem Himmel zunächst, Restaurants. Die Bars bleiben bis auf Weiteres geschlossen, Kinos und Theater ebenfalls.
Hotels und Ferienhäuser, Campingplätze und Ausflugsschiffe, Gottesdienste und Volkshochschulen, aber auch Fitnessstudios und Tanzschulen, alles blättert sich zurück ins normale Leben – doch zu
allem hinterlässt man Telefonnummer und Adresse.
Ich selber bin noch nicht wieder angekommen da draußen. Mein Jahr steht noch immer am
selben Ort wie vor dem Lockdown. Nun, so ganz stimmt das nicht, ein wenig an empirischer Weltbreite habe ich schon zugelegt. Aber dennoch scheint es mir so. Es ist, als ob der eigentliche Gang
immer noch ein Verharren ist. Und es stimmt ja: Wir sind immer noch eingesperrt. Immer noch sind die Grenzen mit wenigen Ausnahmen zu. Und jede kleine Rückkehr zu den Freiheiten von Schengen
findet ihre Schlagzeile in den Nachrichten. Die Medien stimmen uns ein auf Urlaub in unserem eigenen Land. Und so denke ich, nicht nur ich empfinde, das Jahr sei stehen geblieben.
Nein, keineswegs hat die Zeit aufgehört zu fließen. Das
merke ich am kletternden Sonnenstand. Als im März die Welt erstarrte, dachte ich mir, zum Glück in allem Unglück passiert das jetzt im steigenden Jahr, wenn die Lebenssäfte frischer zirkulieren.
Wie wäre es gewesen, wenn wir mit der gesellschaftlichen Leichenstarre zugleich auch noch ins Dunkel eines langen, bevorstehenden, lichtarmen Winters gestürzt wären? Stattdessen wendete sich der
noch kahle März in den April mit seinen endlosen Sonnenstunden, dann schloss sich der etwas wetterlaunischere Mai an, die Wiesen wurden fett und die Kastanien setzten sich ihre weißen und roten
Kerzen auf. Die Natur machte weiter wie immer, und die Weinbauern beschnitten zu Beginn des Lockdowns ihre Reben, in den hellen Tagen des späten März. Die Zeit in der Natur scherte sich nicht um
das Virus, doch die Menschen mussten ihre Zeitbewirtschaftung von einem auf den anderen Tag umstellen.
Vielleicht rührt mein Empfinden eines stehengebliebenen Jahres aber auch aus meiner
eigenen psychischen Befindlichkeit her. Also: Umkehrung des Blicks. Seit Mitte März ruht das Geschäft, alle vorbereitende Arbeit auf Kommendes bleibt halbfertig und, ich muss gestehen, lustlos
liegen. Es fehlt der Termindruck. Stattdessen streuen sich meine intellektuellen Aktivitäten in die Breite, mal philosophischer und mal mehr mit politischem Betrachtungswinkel. Ein paar Romane
habe ich verschlungen. Das war und ist durchaus lustvoll, so einfach mal spazieren gehen zu können im weiten Gelände von Kultur&Zivilisation. Wie faszinierend doch die Welt sein kann, das
erlebe ich gerade auch aus meinem eigenen Stillstand heraus. Einfach mal betrachten zu können, um aus der Ruhe heraus, in einem von intellektueller Lust inspirierten Moment dann eigene Worte zu
finden für das Geschehen. Gerade dann, wenn auch die Experten ›auf Sicht‹ fahren, ist man nicht überfüttert von fertigen Analysen. Alles scheint türangelweit offen. Philosophisch ist das eine
erregende Zeit, und ich imaginiere dazu meine Helden, die damals zur Zeit der Französischen Revolution auf der Bühne der Zeit standen und sich als Zeitzeugen eines weltverändernden Ereignisses
begriffen und sich zukunftskompetent äußerten. Auch sie spürten, dass da draußen Kräfte walten, die alles Gewohnte aus den Angeln heben, dass sich Geschichte ereignet, gerade jetzt, draußen vor
dem Fenster.
Vielleicht leben wir gerade im Auge eines Orkans. Drinnen Windstille, die Blätter hängen
schlaff herab wie die Tage gerade im still gestellten Jahr. Doch draußen, da gehen die Winde, und bald werden sie uns erreichen.
20. Eintrag vom 9. Juni 2020
Amerika
Ja, Amerika ist ein Kontinent, die Vereinigten Staaten sind nur ein Teil davon. Doch
dieser Teil interessiert gerade brennend, denn dort ereignet sich zurzeit der Aufstand der Zivilgesellschaft.
Noch ist es ein wenig Wunschdenken damit. Ein Aufstand in Amerika? Zweifelsohne brodelt
es in der US-amerikanischen Gesellschaft, nicht erst seit Trump, denn gespalten ist die Supermacht seit über fünfzig Jahren. Historisch war es der Sturzrücktritt Richard Nixons 1974, der seine
politischen Gegner abhören ließ während seines Wahlkampfes zur Wiederwahl. Das war der ›Sündenfall‹ der amerikanischen Demokratie gewesen, aber das war nichts und ist auch gar nichts gegen das,
was Donald Trump seit dreieinhalb Jahren durchzieht. Und jetzt plötzlich erhebt sich die demokratische Zivilgesellschaft gegen ihren Präsidenten.
Das ikonische Bild lieferte Trump dazu, als er vor der Saint John’s Episcopal Church mit
finsterem Gesicht eine schwarze Bibel beschwört. Das war ein Feldherrengang in mittelalterlicher Finsternis, sein Gefolge hinterdrein, Trump hatte alles aufgefahren, was er hatte: die
Ministerriege, seine Tochter und den Kushner-Clan. Diese Szene ging um die Welt. Sie markiert den vorläufigen Tiefpunkt eines schnellen und jähen Absturzes. Vor wenigen Monaten noch verspottete
er seinen Herausforderer als ›sleeply Joe‹, der kommende Wahlsieg schien ihm kaum ein Kommentator streitig zu machen. Doch nun sieht alles plötzlich ganz anders aus.
Trump begann seine Amtsautorität zu verspielen, als das Corona-Virus das Land erreichte.
Er opferte New York und war sogar bereit, die Stadt abzuriegeln - die Stadt unter Quarantäne zu stellen, die wie keine andere das Schaufenster Amerikas ist. Keine zwei Monate später drohte er,
die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung ebenso zu ersticken wie der Polizist Derek Chauvin es mit George Floyd getan hatte, nun aber mit Militär und bösartigen Hunden („vicious dogs“). Trump
krönte sich zum ›President-of-War‹ und gab täglich bizarre Corona-Briefings mit seinem Epidemiologen Anthony Fauci, der dessen Eseleien mit stoischer Ruhe immer wieder korrigierte. Man könnte die
Videoclips eins-zu-eins für eine laufende Satire halten, wären sie nicht so traurig wahr über den Tiefpunkt, den die amerikanische Politik nun erreicht hat.
Ich kann mich nicht in den Konflikt anschaulich hineinfinden, der Amerika gegenwärtig
zerreißt. Dafür kenne ich die amerikanische Gesellschaft zu wenig. Es ist eher der Blick von einem interessierten Außen, den ich auf den Aufstand der Zivilgesellschaft werfe. Dabei bin ich
keineswegs ein neutraler Beobachter. Denn ich werde von den Medien geführt, und die, denen ich vertraue, sind schon gleichsam von Natur aus zivilgesellschaftlich. Weltjournalismus ist überwiegend
liberal, in den USA hat er seine Stimme in den großen Zeitungen des Ostens und auf CNN.
Die Ermordung George Floyd vor laufender Handy-Kamera mit einem Kreis von lautstark
protestierenden Bürgern war der Funke, der die Proteste entzündete. Oder, wenn man es feuchter möchte: Die ganze Jauche, die Trump während seiner Amtszeit über die amerikanische Gesellschaft
gekippt hat, sie fängt jetzt an, ganz erbärmlich zu stinken. Aus diesem Dunst aus Lügen, Intrigen, Verleumdungen, Diskriminierungen und anderen Schändlichkeiten, die Trumps krankes Ego
perfektioniert hat, aus diesem Sumpf steigt jetzt die Zivilgesellschaft auf. Sie ist wieder da, Weiße demonstrieren mit Nicht-Weißen, die man heute betont neutral ›people of colour‹ nennt.
Heute wurde George Floyd zu Grabe getragen, ein groß mediales Ereignis mit Live-Streams
auf CNN und BBC. „It’s a moment of connectivity“, es sei ein Moment, an dem wir alle aufgerufen sind, uns mit anderen Gesellschaften zu verbinden, sagte eine Sprecherin der Beerdigungsfeier in
Houston. Plötzlich sind Werte da und werden geäußert: Gerechtigkeit, mehr Bürgersinn, eine vertrauenswürdigere Exekutive. Der Funke springt über nach Amsterdam, London, Bristol, Paris, Berlin,
Rom, Sydney, Rio de Janeiro und zu anderen Orten der Welt. Wir erleben gerade einen Aufstand der Zivilgesellschaften rund um den Globus. Wir stehen am Beginn eines neuen politischen Narrativs,
das gerade entsteht, ein neuer Bürgersinn artikuliert sich.
Schrecklich ist das Video anzuschauen, das den kaltblütigen Mord an George Floyd zeigt,
das Röcheln unter Schmerzen und Atemnot, die Anrufung seiner Mutter („Momma“), bevor er erstickt. Das Herz stockt mir, wenn ich die Details potenziert schockierend erlebe, die von einer mutigen
17-Jährigen Frau mit ihrer Handykamera festgehalten wurden. Das Video dokumentiert minutenlang das Sterben eines schwarzen Menschen unter dem Knie eines weißen Polizisten.
Beide Videos – Trump mit Bibel und die letzten Atemzüge Floyds – werden in die
Geschichte der ikonographischen Bilder eingehen. Beide Videos lassen uns in einen Abgrund blicken, gegen den es nur eines gibt: den Aufstand der Zivilgesellschaft.
21. Eintrag vom 26. Juni 2020
Reisen in
Corona-Zeiten
Wer reist, macht sich mit der Welt bekannt. Selten habe ich diese Wahrheit
über das Reisen deutlicher gespürt und empfunden als in den letzten Tagen. Ich war auf kleiner Deutschland-Tour über Heidelberg nach Luxemburg, von dort hinüber ins Münsterland, dann hinauf in
die Holsteinische Schweiz, wo ich meine alte Schule besuchte, die idyllisch im Wald unweit des Preetzer Kirchsees liegt. Dann kurvte ich mit meinem Motorrad nach Lüneburg, um von dort meine
Tochter zu besuchen, die auf flachem Sachsen-Anhaltiner Land mit ihren Berliner Freunden ein verfallenes Landhaus samt Scheune und großem Garten restauriert. Berlin und Dorf weit draußen, das ist
Trend.
Wer reist, macht sich mit der Welt bekannt – in Corona-Zeiten gewinnt das
einen neuen Klang. Wochen-, ja monatelang kam Welt durch die Monitore zu uns. Und über die Zeitungen, das Radio und auch übers Telefon. Ich jedenfalls habe die Welt nicht mehr betreten, ich zog
nur meine täglichen Wege durch die Stadt, zum Supermarkt, zum Buchhändler, zum Bäcker natürlich, und irgendwann öffnete auch die Eisdiele. Aber es waren routinierte Wege in einer Blase. Selbst
wenn Amerika erschien über CNN und die New York Times, selbst das war nur Monitor. Monitor mit Wort und Video.
Das erkenne ich jetzt sehr deutlich, jetzt, nach meinem Freundes- und
Familientrip in den Norden: Der Weltverlust liefert uns unserer Blase aus, in der wir leben. Da kreisen, von den medialen Bildern in Szene gesetzt, die Ängste, die Sorgen, die wirtschaftlich
extrem angespannte Lage, die bei nicht Wenigen existenzbedrohend ist. Wohin man auch schaut – überall nur Probleme. Die Pandemie frisst sich tief in den Leib der Gesellschaft und macht die großen
systemischen Defekte sichtbar wie eine Stoffwechsel-Krankheit auf entzündeter Haut. Das alles ist real, das findet zweifellos statt, aber es ist dennoch Blase, ist nicht analog, und vor allem: Es
wird nicht wirklich erlebt. Man lebt in der Online-Welt in anderen Kulissen, anders als wenn man draußen steht in der physischen Welt, die im frühen Hochsommer schon satt im Getreide steht. Daran
brause ich gerade vorbei, und dazu habe ich mir das luftigste Fahrzeug gewählt. Auf dem Sattel ist man extrem exponiert, es ist eher der Körper, der durch die Landschaft eilt, der auf der
Autobahn die Spuren wechselt, laut braust es unter dem Helm. Welthungrig war ich unterwegs, hungrig nach analogem, wirklichen Raum. Nach Welt, die ich beobachte, ich und niemand sonst, es ist allein mein Blick, ich folge keiner fremden Choreographie. Wie war das doch: Man
reise, um sich mit der Welt bekannt zu machen? Jetzt könnte es heißen: Man reist, um selber schauen zu können. Um eigene Erfahrungen zu machen. Denn nur das frischt den eigenen Kräftehaushalt
auf. So jedenfalls ist das bei mir.
Auf meiner kleinen Deutschlandtour hatte die Natur eine laute Stimme. Auch
das sehe ich jetzt. Ein abendliches Bad in der Ilmenau, im strahlenden Gegenlicht trieb ich mit K. flussabwärts an den nahen Ufern vorbei, mal Schilf, mal Baumwurzel. Der verhängte Himmel über
dem Lankersee, der in der Landschaft verschwindet mit seinen Armen. Die Alleen durch die Lüneburger Heide, die Elbefluten, die Hühner auf dem Grundstück der Community meiner Tochter. Die beiden
Elternstörche mit ihren zwei Kindern auf dem Nest oben auf dem Schornstein. Immer wieder klappert es von dort herunter auf den Hof des Anwesens.
Die Stimme der Natur erzählt vom größeren
Kreislauf des Lebens. Eine alte Weide mit zerklüftetem Stamm rückt mir die Proportionen meines eigenen Daseins zurecht. Was zähle ich denn schon im großen Naturtheater? Die Überinformation,
der ich ausgesetzt bin in der Corona-Krise, sie hat mich (und darf ich sagen: uns alle?) noch respektloser auf den existenziellen Käfig des "Speziezisten" verweisen, der sich für den Nabel der
Welt hält. Doch das Wir der Mitmenschen, auch das Wir der Kulturgeschichte, das ich immens verehre, es ernährt meine Seele nicht. Das Menschengespräch ist weit und groß, aber ich (und wir?)
brauche das Wir der Natur. Draußen sein, bei den Feldern, den Gräsern, das frühmorgendliche Anschwellen des Vogelgesangs über meinem Zelt auf der Wiese. Nur Hören und Sehen, die feuchtkühle
Nachtluft in der Nase, und das alles ohne Worte.
22. Eintrag vom 19. Juli 2020
Von engen und weiten Gürteln
Immer noch tagen Europas Staatschefs in Brüssel über die
Corona-Hilfen, jetzt, wo ich das schreibe. Auf dem Spiel steht, ob die Idee Europas im real-existierenden Europa überleben kann. Das hoffen wir. Aber – wer ist dieses wir?
In vier Monaten Weltkrise hat sich viel ereignet. Schock, Lähmung, und dann mehrere
Modelle, mit der Pandemie umzugehen. Vom blanken Leugnen reicht die Palette bis zu den schärfsten Ordnungsstrafen, die anfallen, wenn sich die Bürger nicht an die amtlichen Bestimmungen halten.
Freiheit in Schweden, Überwachung via Smartphone in China. Europa geht dabei den besten Weg weltweit. Das jedenfalls konzedieren die US-amerikanischen Ostküstenmedien. Und die New York Times lobt
vor allem Deutschland. Deutschland habe das Potenzial, der Gewinner der Krise zu sein, so kommentiert Ruchir Sharma in dieser Zeitung, und er ist mit seiner Einschätzung keineswegs allein. Die
deutsche Gesellschaft beeindrucke durch ein hohes Maß an Gemeinsinn, die Institutionen seien intakt und funktionsfähig, die regierenden Eliten kompetent und verantwortungsbewusst, und vorstünden
die Wissenschaften in hohem Ansehen. In amerikanischen Augen erscheint Deutschland als Erfolgsmodell einer partizipativen Demokratie, ein politisch funktionierendes und ökonomisch sehr
erfolgreiches Gemeinwesen.
Und nun: Brüssel. Angela Merkels Schicksalsstunde. Sie
und Emmanuel Macron beanspruchen die Führung Europas. Sie haben einen Plan vorgelegt, kein anderer liegt vor, abgesehen von einem dürftigen, in aller Schnelle gekritzelten Gegenentwurf der
Nordländer. Sie pochen strikt auf fiskalische Autonomie, mehr kommt nicht. Es segelte langsam im Raum, es taumelte wie ein Flugblatt, das auch die europäischen Nationalisten erreichte, die gern
den Rand der Rechtsstaatlichkeit ausprobieren, um ihn dann zu unterhöhlen wie in Polen oder Ungarn. In einer Weltkrise braucht es mehr Gemeinschaft, nicht weniger, mehr Europa, nicht weniger. Die
alte Achse Europas dreht sich wieder. Sie hat den Plan für eine große Recovery des Kontinents. Aber ihr fehlen wichtige Speichen: die Frugalen Vier, Finnland, Polen, Ungarn, und es fehlen auch ihre Unterstützer Niederlande und Finnland. Eine stille
Allianz der Neoliberalen mit dem autoritären Europa kündet von neuen Bündnissen im postcoronalen Zeitalter.
Blicken wir vom Süden auf den Kontinent! Dann sieht es
nämlich besser aus, denn die Südländer haben für ihre Ansprüche, die sie seit Jahren bei der EU einklagen, zwei große Verbündete gewonnen. Geopolitisch können sie ihren Einfluss bis weit nach
Mitteleuropa erweitern, das wird bleiben, selbst wenn der Sondergipfel scheitern sollte. Es gibt zu Europa keine Alternative, das wissen auch die nationalistischen Populisten in Polen und Ungarn.
Zudem haben auch sie die Zivilgesellschaft im eigenen Haus, sie macht Druck auf der Straße. Europa – das ist eben ein sehr langer Weg.
Vielleicht, ja wahrscheinlich wird es überall Abstriche
geben, Abstriche an den ursprünglichen Tönen, die von Frankreich und Deutschland orchestriert wurden. Es waren Antworten auf die beschämende Anfangsstunde der Pandemie, als die Lombardei und das
Elsass zu Überlebenskampfzonen wurden, damals, als Russland und China propagandistisch ihre Hilfslieferungen schon auf dem Rollfeld mit den Fahnen ihrer Nation beflaggten. ›Nun wollen wir es
besser machen.‹ Angela Merkel traf schon zur Flüchtlingskrise einen Nerv der Zeit, eine moralische Mehrheitsmeinung, die Ja zu Europa sagt. Wir wollen es besser machen, das ist leichter gesagt
als getan, im realpolitischen Geschacher wird das nicht ohne Abstriche vor sich gehen. Hoffen wir, dass das Resultat trägt.
Ich bin der festen Ansicht, die Welt braucht Europa,
jetzt, in dieser Weltkrise. Europa hat einen Spirit, einen Gemeinschaftsgeist, jedenfalls nach innen. Die Außengrenzen – ein anderes Thema.
Doch es war eben dieser europäische Geist, mit dem Europa die erste Corona-Welle meisterte. Ja sicher, die erste Reaktion hieß Abschottung bei geschlossenen Grenzen. Aber gerade die neuen Zäune
haben den Bürgern vor Augen geführt, wie tief und weitverzweigt das Wurzelwerk des Lebens im europäischen Boden geworden ist innerhalb einer Generation seit dem Vertrag von Maastricht 1993. In
den Frühlingstagen, als Europa zu Hause bleiben musste, berichteten die Medien von vielen skurrilen Geschichten wie die des älteren Paars, das an der deutsch-dänischen Grenze sich die
Thermoskanne durch den Maschendrahtzaun reichte. Es ist die Welt vor Schengen, die zum Ausnahmezustand geworden ist.
Das europäische Projekt steht einzigartig in der Welt.
Von Europa kann ein neuer gemeinschaftlicher Geist in die Welt hinaus wehen. Europa hat heute eine weltgeschichtliche Aufgabe. Sie besteht in einem Muss und in einem Kann. Europa muss sich heute
positionieren zwischen den großen Rivalen Amerika und China. Und Europa kann ein Partner werden für den Rest der Welt, gemeinsam mit den pazifischen Verbündeten Japan, Australien und Neuseeland –
für Afrika, Südasien und Lateinamerika. Es gibt viel zu tun und noch mehr zu gestalten! Die Stunde dafür ist jetzt.
23. Eintrag vom 31. Juli 2020
Gibt es ein Recht auf
Gesundheit?
Seit einigen Tagen steigen die Fallzahlen merklich an, das Robert-Koch-Institut zeigt
sich besorgt. Die täglichen Neuinfektionen nähern sich der Tausender Marke. Das Ausbruchsszenario hat sich verändert. Das Virus geht derzeit in die Fläche, es gibt viele kleinere Herde, es wird
schwieriger, die Übertragungsketten nachzuverfolgen.
Der öffentliche Diskurs, so wie ich ihn mitbekomme, nimmt die Reiserückkehrer und die
Partymacher in den Blick. Ein moralisierender Ton gewinnt an Höhe. Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann findet Auslandsreisen »unangemessen«: »In solchen Zeiten kann man einfach
im Land bleiben und muss nicht in der Welt herumreisen«. Damit kein Missverständnis auftaucht: Das kann man so denken, das kann man so machen, und viele Bürgerinnen und Bürger tun ebendies und
stürmen die Alpen oder fluten die Ostseestrände. Nein, es ist des Landesvaters Kopfschütteln ob der Unvernünftigkeit seiner Landeskinder, das hier irritiert. Früher, ganz früher, gab es noch eine
Kopfnuss dazu.
Um die Partymacher zu diskreditieren, braucht es keiner biederen Worte, hier rücken uns
die visuellen Medien ins rechte Bild. Die Fotos von der Berliner Hasenheide oder vom Münchner Gärtnerplatz suggerieren eine dekadente Ego-Kultur, die sich nicht um das Gemeinwohl schert. Tanzen
bis zum Abwinken, Alkohol und Drogen, das ›Erlebnis Ich‹ steche die Bereitschaft aus, gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen. Das ist gewiss nicht falsch – nur: Das ist seit langem schon
die Ratio der Wohlstandsgesellschaften. Auf den Partymeilen treibt sie ihre harmlosesten Blüten, weitaus schmerzhafter schneiden da die kreativen Geschäftsmodelle der Industrie und der Finanzwelt
ins moralische Fleisch der Gesellschaften.
Es gilt, auch in den Zeiten schwerer Krisen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Die ersten größeren Demonstrationen gerieten sehr schnell in den Verdacht, Virenschleudern zu sein. An der Virenfront
bestätigte sich das nicht, weder in Europa noch in Amerika. In den letzten Monaten haben wir viel über das Virus gelernt, über seinen verheerenden Zug durch die körperlichen und sozialen Leiber
der Zivilisationen. In Indien reißt es andere Wunden auf als in Europa, aber weltweit gibt das SARS-CoV-2 Virus zu verstehen: Ihr werdet mich so schnell nicht wieder los, vielleicht trotze ich
sogar euren Impfstoffen. Wir werden uns auf ein Leben mit dem neuartigen Virus einstellen müssen. Keine Gesellschaft ist so diszipliniert, als dass sich der Traum der Virologen und Epidemiologen
realisieren ließe, das Virus könne in einem kleinen Rinnsal ausgetrocknet werden.
Es gibt zwar ein Recht auf gesunde Lebensumstände, nicht
aber auf Gesundheit selbst. Sauberes Wasser, unbelastete Lebensmittel, reine Luft, ärztliche Versorgung, Schutz vor unzumutbarem Lärm und manches mehr sind Voraussetzungen für einen gesunden
Lebensstil, den jeder führen können muss, so er oder sie sich dazu entscheiden sollte. Was aber hieße es, ein Recht auf Gesundheit zu reklamieren und es bei den Gerichten einzuklagen? Man könnte
dabei an den Anspruch auf optimale medizinische Versorgung denken. Aber ein Recht auf Gesundheit meint mehr. Es begreift die Gesundheit als ein Rechtsgut, das von der Gesellschaft verlangt, sich
mit allen verfügbaren Kräften gegen das natürliche Vorkommnis Krankheit zu wenden. Selbstredend ist das Recht auf Krankheit nicht gegen die Natur durchsetzbar, das würde medizinische Allmacht
voraussetzen. Aber unterhalb dieser unüberwindbaren Schwelle bürdet es dem gesellschaftlichen Leben auf, alles Verfügbare aufzubieten, um Gesundheit garantieren zu können. Der Preis dafür wären
harte Schnitte in die technischen und sozialen Prozesse. Risiken wären zu minimieren, wenn nicht gar zu eliminieren. Jeder Fortschritt hätte einen Gesundheitscheck zu passieren, was zum neuen
Berufsstand der Gesundheitswächter führen würde. Sie würden sich alsbald als Gesundheitspolizei aufführen müssen, die in der Bevölkerung diejenigen verfolgen würde, die es lax mit ihrer
Gesundheitspflege halten, denn schließlich bilden diese einen unerwünschten Kostenfaktor im Gesundheitsstaat. Das Recht auf Gesundheit verlangte uns ein Leben ab, das kaum mehr menschlich zu
nennen wäre.
Zutiefst menschlich aber ist das expansive Leben. Über
vier Corona-Monate hat sich ein Bedürfnis nach Körperlichkeit angestaut, das will nun gelebt werden, quer durch die Generationen hindurch. Man gibt sich beizeiten wieder mal die Hand oder umarmt
sich bei Begegnung. Man sitzt mit Freunden und Bekannten wieder auf der Wiese und hält dabei die Abstandsregel nicht immer ein. Ja, mein Gott, es ist Sommer, wir wollen leben! Wer kann es den
jungen Menschen verdenken, wenn sie den Augenblick auch einmal ohne den Gedanken an die Statistiken ergreifen? Ist es noch Vorsicht oder schon Angst, wenn wir in den Anderen potenzielle
Virenträger sehen? Sollte etwa die Lust auf Leben mit dem Recht auf Gesundheit kollidieren?
24. Eintrag vom 6. August 2020
Erste Bilanz, erster Versuch
Als Ende März die Ausgangsbeschränkungen auch in Deutschland verhängt wurden und es gespenstisch still
wurde im Land, schloss ich mit K. eine Wette ab. Würde die Pandemie zu einer umfassenden Transformation des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens führen? Zu mehr sozialer Gerechtigkeit,
zu mehr Klima- und Umweltpolitik? Zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, der die gemeinschaftlichen Güter wie Gesundheit und Leben den Fängen des Gewinnstrebens entreißt? Zu größerer Fairness in
den internationalen Beziehungen?
Die Zeit schien damals günstig, dies und vieles mehr zu erhoffen. Urplötzlich war die Menschheit entgleist und auf einen Rammbock
namens SARS-CoV-19 geprallt. So gehe es nicht weiter, darüber waren sich damals fast alle einig, die sich in den Medien zu Wort meldeten. Dennoch hielt ich mit meiner Wette dagegen, weniger aus
Pessimismus, sondern eher, um etwas gegen K.s Optimismus zu setzen. Heute, viereinhalb Monate später, fürchte ich, dass K. ihre Wette verlieren wird. Und
immer noch hoffe ich, die Flasche Kessler Rosé gehöre ihr.
Zugegeben, noch ist nicht aller Tage Abend. Noch sind wir verkatert und müssen uns zunächst noch darum bemühen,
wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Aber dennoch, denke ich, ist es Zeit für eine erste Bilanz, auf die Gefahr hin, dass die Zeitläufe mich Lügen strafen. Aber da befinde ich mich im Boot mit
vielen, viel Unsinn ist in den letzten Wochen geredet, geschrieben und interviewt worden. Auch mein Corona-Tagebuch ist ja voll davon.
Als im März und April in den Hotspots die Kranken auf den Fluren der Hospitäler und in eilends errichteten
Feldlazaretten versorgt werden mussten, als Ärzte und Krankenschwestern auf Pritschen am Arbeitsplatz übernachteten, um nach kurzen Schlaf wieder um das Leben der Patienten zu kämpfen, da gab es
allabendlich öffentlichen Applaus von den Balkonen. Für einen Moment lang gab es öffentliche Empathie mit den Gesundheitsarbeitern. Die Kameras hielten in übermüdete und verzweifelte Gesichter,
die von der Hölle auf Erden berichteten, von der schweren Entscheidung, die die Triage den Ärzten abverlangte. Einen Moment lang standen wir vor unseren Fernsehmonitoren mitten drin im Geschehen
von Bergamo, Straßburg und New York. In diesem Moment trat die skandalöse Wahrheit ins Rampenlicht, dass der Gesellschaft der Gewinn aus Kapital, Aktien und Immobilien so viel wichtiger ist als
die Arbeit von Menschen an Menschen. Kranken- und Altenpflege, Sozialarbeit und der gesamte Niedriglohnsektor vom Fernfahrer bis zur Kassiererin wurde plötzlich ›systemrelevant‹. Und heute? Haben
sie ihr Ansehen und ihre Entlohnung verbessern können? Ja, es gab Boni, 1000 bis 1500 Euro Einmalzahlung, ich glaube, das war’s denn auch, und das auch nur für die Altenpflege. Wie schäbig – nein
eine Transformation sieht anders aus.
Corona sei wie ein Brennglas, in dem die gesellschaftlichen Probleme vergrößert
hervortreten. Die meisten davon sind bekannt seit Jahrzehnten. Nehmen wir, als zweiten Posten in meiner vorzeitigen Bilanz, die Fleischfabriken auf den Bauernhöfen und den Schlachthöfen. Als bei
Tönnies das Virus sich durch die Belegschaft fraß, war der Aufschrei groß. Für die modernen Arbeitssklaven aus Osteuropa hat sich möglicherweise graduell etwas geändert, zumindest sollen die
Werkverträge unterbunden werden. Die Schweine aber müssen weiterhin im Stehen Fleisch ansetzen, und die kleinen Ferkel werden weiterhin ohne Betäubung kastriert, damit uns ihr Fleisch
besser schmecke. Am Landwirtschaftsministerium ist der Skandal spurlos vorübergegangen, sieht man von ein paar nichtssagenden Pressekonferenzen einmal
ab, die das Mysterium Ministerium absolviert hat. Eine neue Stallverordnung? Ja, mit jahrelangen Übergangsfristen. Vor einigen Jahren schrieb Peter Sloterdijk einmal, im langen Lauf der
Menschheitsgeschichte habe sich die Lage der Menschen stets verbessert, das Los der Tiere habe sich dagegen kontinuierlich verschlechtert.
25. Eintrag vom 14. August 2020
Erste Bilanz, zweiter Versuch
Vor einem halben Jahr hat sich der menschlichen Zivilisation ein Fenster geöffnet. Ja,
so groß kann man es sagen, so emphatisch. Mit einem Mal war uns unser biologisches Leben das wichtigste Gut. Dafür hatte die Politik auf die Pausentaste gedrückt und der umtriebigen Menschheit
weltweit einen ewigen Sonntag verordnet. Die Himmel wurden blauer, die Luft reiner, in den Kanälen Venedigs eroberten sich die Wassertiere ihre Lebensräume zurück, an den menschenverlassenen
Stränden gediehen die Schildkrötenpopulationen, und in Paris spazierten Hirsche über die verwaisten Plätze. Da flatterte ganz plötzlich, auf der Höhe unserer zivilisatorischen Verwundbarkeit,
eine Welt auf unsere Bildschirme, wie wir sie bislang noch nicht kannten. Sie spiegelte uns zurück, wie schwer krank unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben ist.
Das Fenster, das sich uns vor einem halben Jahr öffnete, ließ darauf hoffen, dass unser
zivilisatorisches Leben nicht unheilbar krank ist. So vieles schien plötzlich möglich: Transformation, Systemwandel, ein neuer menschheitsgeschichtlicher Anfang. Was uns wirklich wichtig sei,
darüber debattierte die Gesellschaft in ihren öffentlichen Foren, es schien eine Stunde der Einsicht anzubrechen.
Plötzlich ging ein altes Wort auf neue Runde:
systemrelevant. Wir kennen es aus der Finanzkrise 2008/09. Nun aber wurden andere damit beschenkt: die Pflegerinnen, die Kassiererin, der Lokführer, der Paketzusteller. Darüber ist viel
geschrieben worden, doch gerade der Letztere ging der gesellschaftlichen Achtsamkeit durch die Lappen. Denn er, der atemlos die Stufen hinauf hetzt und dem Adressaten die Zalando-Amazon-Fracht
übergibt, er zeigt in seiner Existenz alle Krankheitssymptome des global entfesselten Kapitalismus. Er ist ein fast arbeitsrechtloser Sklave, der sich für die großen Krisengewinnler die Hacken
abläuft und für eine Versteppung der Innenstädte sorgt – in stiller Übereinkunft mit den Konsumenten, die es ihm aber nur selten mit einem Trinkgeld lohnen. Als kleines Flimmerhärchen eines rund
um die Uhr atmenden, weltumspannenden Großorganismus kann er sich Krankheiten nur um den Preis einer Kündigung leisten. Seine Opferbereitschaft ist es, die ›das System‹ als Systemrelevanz
prämiert, und damit steht er dann tatsächlich auf einer Stufe mit den anderen systemrelevanten Berufen – oder seien wir fairer und sagen: mit all denen, die nicht zum Homeoffice freigestellt
waren, wovon es übrigens immer noch viele gibt. Aber mit solchen systemrelevanten Krankheiten sollte nun Schluss sein, darüber bestand eine lautstarke Einigkeit in jener ideologiestummen Stunde,
als das Fenster der Hoffnung sich öffnete.
Da hieß es zunächst: Es solle keiner seine
wirtschaftliche Existenz verlieren. Dann: Wir können nicht alle retten. Zwischendurch erklang auch mal das Lied von der systemrelevanten Kultur, aber das war doch eher ein Versprecher, geschenkt,
ich möchte da nicht nachtragend sein. Nicht durchgehen lassen sollte man aber die signifikante Verschiebung der Systemrelevanz von klein zu groß, nämlich von den Lebensrettern zu den
Schlüsselindustrien und Dienstleistern. Die Liste führen an: Lufthansa (9 Milliarden), TUI (3 Mrd.), Adidas (3 Mrd.) und ThyssenKrupp (1 Mrd.), und laut ›Handelsblatt‹ stehen derzeit noch weitere
60 Unternehmen Schlange für den 600 Mrd. Euro schweren Wirtschafts-stabilisierungsfonds. Der soll ausdrücklich den großen Konzernen und großen Mittelständlern unter die Arme greifen, woraus zu
folgern ist: die staatlichen Stützungsmaßnahmen werden zu einer weiteren Konzentration der wirtschaftlichen Akteure führen. Systemrelevant ist, wer groß ist. So war das schon immer, und man muss
befürchten, dass sich das Fenster eines möglichen Wandels gerade wieder schließt.
Wir hätten dann eine große und bislang einmalige Chance verspielt. Was die brennenden
Wälder Amazoniens, Australiens und Russlands nicht vermochten, worauf Fridays for Future vergeblich aufmerksam gemacht hatte, das ist in anderer Konfiguration für fast jeden Bürger dieses
Planeten in existenzielle Nähe gerückt, wird gespürt am eigenen Leib und für die eigenen Nachkommen. Das Fenster stand offen.
Doch kann man die Politik dafür allein verantwortlich machen, dass wir auf dem Weg
zurück sind in unser todkrankes System? Ich möchte den Politkapitäninnen und Kapitänen keinen bösen Willen unterstellen, als damals, vor ein paar Monaten, die Angst vor einem Weltuntergang die
Runde machte. Auf dem Höhepunkt der Krise hat die europäische Politik eine gute Figur gemacht, sie reagierte entschieden und besonnen zugleich, dimmte ihren Politsprech ab und äußerte
Betroffenheit und Sorge. Ich glaube sogar, dass der enge Schulterschluss von Politik und Wissenschaft die Eliten einsichtiger und vor allem handlungsbereiter werden ließ, für grundlegende
Transformationen. Doch es scheint nun doch wieder anders zu kommen, die Beharrungskräfte des alten Normal sind zu stark, die Geldmacht zu einflussreich, Politik und Wirtschaft zu eng verfilzt.
Und auch die Bürger hängen über ihre Arbeitsplätze, ihre Kapitaleinlagen und Versicherungen mit in der großen Seilschaft. Es sind schlichtweg die Interessen, die ein äußerst stabiles,
zerreißfestes Netz gebildet haben, in dem die schwachen Maschen eher aufgetrennt werden können als die dickeren Knoten.
Doch sind es gerade die scheinbar schwachen Maschen, die dem ganzen Netz seine
Formfestigkeit verleihen. Das zu erkennen, dazu bedarf es des vernetzten Denkens. Und es beansprucht nicht viel an Scharfsinn um zu erkennen, dass die Kultur ebendiese Funktion in einer
Gesellschaft ausübt. Die Kultur ist ein mentales Gesundheitssystem mit sozialpsychologischer Relevanz. Zwar wird sie individuell ›konsumiert‹, aber sie erarbeitet durch die Individuen einen
gemeinschaftlichen Mehrwert – und das unterscheidet sie vom Partyspaß auf Mallorca. Die Kultur ist systemrelevant in einem humanitären Sinn. Doch der hat keinen monetären Eintrag in der
Buchführung von Politik und Wirtschaft. Wohin das führen kann, zeigt uns gerade Trumps Amerika.
Die Kultur ist die große Verliererin der Krise. Zurzeit stehen die Aktienindices schon
wieder daumenbreit unter den Rekorden des Spätwinters.
26. Eintrag vom 17. August 2020
Angst und Risiko
Ich muss noch einmal auf die Angst zurückkommen. Mit ihr begann ich mein
Corona-Tagebuch: „Ja, geben wir es uns zu, wir haben Angst.“ Das schrieb ich, als mir der Weltuntergang nahe schien im März 2020.
Letzte Woche war ich zusammen mit H. bei E. eingeladen, einen Abend auf der Terrasse mit
großem Panoramablick auf die schwäbische Alb zu verbringen. Es war ein sehr warmer Sommerabend, und da der kurvige Weg hinauf in den Welzheimer Wald einige Motorrad-Freuden versprach, verabredete
ich mit E., nicht zu ihm ins Auto zu steigen, sondern mit meinem Bike zu kommen. Dort angelangt, ging die Haustür auf und die beiden älteren Herren traten heraus, mit Maske bekleidet. Ich hielt
es zunächst für einen Witz, für einen Willkommensscherz, vielleicht verleitete mich zu dieser Interpretation auch der Eindruck, den maskierte Gesichter mir manchmal erzeugen, nämlich ein breites
Grinsen von Ohr zu Ohr. Sieh her, so humoristisch gehen wir mit der Situation um, schien mir vor allem H. sagen zu wollen, so witzig bin ich. Doch sehr schnell begriff ich, dass hier der Ernst
den Ton angab, und als ich meinen ersten etwas despektierlich geratenen Kommentar abgab, konterte E: ob ich keine Nachrichten höre, ob ich nicht das RKI kenne?
Der Abend war dann sehr schön, warm und freundschaftlich, ich akzeptierte, dass der Weg
durch die Wohnung zur Terrasse oder von dort zur Toilette nur mit Mund- und Nasenschutz erlaubt sei, schließlich übt E. ja sein Hausrecht aus. Auf der Terrasse übrigens durften wir die Maske
abnehmen, so wie man im Restaurant es tut, wenn man seinen Platz bezogen hat. Und beide gehören ja auch zur Risikogruppe, zu denen mit Vorerkrankungen. Alles verständlich also, und alsbald nagte
an mir mein Gewissen, mich bei der Begrüßung so wenig empathisch gezeigt zu haben.
Aber dennoch – wenn ich die Angst einmal von meinen beiden Freunden ablöse und sie als
gesellschaftliches Phänomen betrachte, dann in der Tat wird mir angst und bange. Angst sei ein schlechter Ratgeber, sagte irgendwann einmal ein Politiker zu irgendeiner größeren Weltkrise. Davon
handelte ausführlicher mein erster Tagebuch-Eintrag. Heute, fast fünf Monate später, schält sich mir aus der Angst immer stärker ihr unsozialer Charakter heraus. Denn wenn ich meine Angst vor
Infektion zur leitenden Maxime meines Handelns mache, dann erwarte ich von denen, die den Laden am Laufen halten, ziemlich genau das Gegenteil: Da draußen soll bitteschön alles weiter
funktionieren. Die Polizisten sollen sich weiterhin anpöbeln lassen, wenn sie eine Party in einem Park auflösen. Die Ärzte sollen mir weiterhin zur Verfügung stehen, wenn mich Krankheiten plagen.
Die Erzieherinnen und Lehrer sollen weiterhin die Kinder betreuen und bilden. Die Welt dort draußen soll sich nicht auflösen, denn auch wenn ich mich aus ihr zurückziehe, so benötige ich sie
weiterhin für meine Grundversorgung. Ja, auch die Produktion, der Handel, der gesamte gesellschaftliche Verkehr sollen weitergehen, ansonsten versinkt die Gesellschaft im Elend und meine eigene
materielle Basis – meine Anlagenvermögen, meine Immobilienwerte, meine Pensionszahlungen, meine Energie- und Nahrungsmittelversorgung – schmilzt wie Butter in der Sonne. Zudem brächen sehr
schnell soziale Unruhen aus, und irgendwann stünden Maskierte mit Baseballschlägern vor meiner Wohnungstür. Ich mute anderen Risiken zu, die ich selbst nicht zu tragen gewillt bin.
Das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat in den Monaten April bis Juni
5700 Teilnehmer einer Studie auf ihre persönliche Einschätzung hin befragt, wie hoch sie ihr persönliches Risiko einschätzen, innerhalb des nächsten Jahres ernsthaft an Covid-19 zu erkranken und
auf einer Intensivstation mit lebensrettenden Maßnahmen behandelt werden zu müssen. Im Mittel gaben 20–25 Prozent der Befragten an, sie sähen für sich diese Gefahr. Wie nicht anders zu erwarten
ist, ergaben Feindifferenzierungen dabei weitreichende Unterschiede in den Altersgruppen. Aufschlussreich ist aber die eklatante Überschätzung des eigenen Risikos, das etwa bei einem Prozent
liegt. Die Fehleinschätzung sei, so der Autor der Studie, Gert Wagner, bei neuartigen Risiken durchaus normal. So sei die Angst, Opfer eines Terrorangriffs zu werden, signifikant verbreiteter als
die Befürchtung, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen.
Es gibt noch ein anderes Leben als das leibliche, habe ich mehrfach in meinem Tagebuch
geschrieben. Zu dieser Aussage stehe ich immer noch, auch wenn es manchen Unsinn gibt, den ich hier schreibend mittlerweile verzapft habe. Aber der Satz gilt immer noch, denn er hebt den Umstand
hervor, dass Menschen kooperative Wesen sind, die sich im Lauf der Zivilisation hochdifferenzierte Sozialsysteme geschaffen haben, von denen das leibliche Leben gehalten, getragen und geschützt
wird. Diese Systeme bedürfen ihrerseits nun des Schutzes vor einer Angstpsychose.
Das ist eine Aufgabe, die die Politik, die Wirtschafts- und Interessenverbände, die
Kirchen (wo ist ihre Stimme?), die Medien und jeden einzelnen Bürger in die Pflicht nimmt. Gewiss und zugestanden: Die Institutionen haben es dabei leichter als die Bürger selbst, denn sie
riskieren ja nicht Leib und Leben. Auf der anderen Seite tut sich vor allem die Politik dabei schwer. Sie muss das Thema Risiko auch denen näherbringen, die sich unbedenklich oder gar coronamüde
zeigen, und sie muss dabei der Versuchung widerstehen, mit neuen Beschränkungen zu drohen. Denn solche Strategien erhöhen nur die Fieberkurve der Angst bei denen, die sich ohnehin aus dem
öffentlichen Leben abgemeldet haben. Sie würden, bestärkt durch disziplinierenden Krisenlärm, ihren Wiedereintritt weiter verzögern. An den Party lustigen Hedonisten gehen die Drohungen ohnehin
vorbei.
Wir brauchen einen entspannteren Umgang untereinander. Alarmismus kann keine
langfristige und nachhaltige Strategie sein, mit der die wirtschaftlichen Existenzen zu retten sind.
27. Eintrag vom 17. Oktober 2020
Zurück auf April?
Jetzt geht es also gefühlt wieder ins Frühjahr zurück. Heute vermeldet das RKI mit 6.638
Neuinfektionen zum ersten Mal einen Stand über dem Scheitelpunkt der Pandemie Ende März.
Seitdem hat unser Umgang mit dem Unheil eine steile Lernkurve durchlaufen. Die Medizin kennt das Virus nun viel
besser, die ärztliche Betreuung profitiert davon mit neuen therapeutischen Verfahren. Es fehlt nicht mehr an Schutzmasken, mancher Übertragungsmythos gehört zu den Legenden. Mit einer
Corona-Warn-App haben wir digital aufgerüstet, ZOOM zaubert uns Gemeinschaften auf den heimischen Monitor. Ins soziale Netz flossen Milliarden, wenngleich nicht immer mit ausgewogener Hand.
Überwiegend verhält sich die Bevölkerung verantwortungsvoll. An den Rändern hat sich Widerstand formiert, aber das zeichnet nun einmal eine freiheitliche Gesellschaft aus, das muss man aushalten,
zumal die Verschwörungsprosa über Fußnoten im Haupttext nicht hinausgelangt ist.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, sagte der Gesundheitsminister Jens Spahn Ende April. Was er damit
meinte, ließ er offen. Aber es klang gut damals, offenherzig und sogar ein wenig seelenvoll, ein Satz, der die Kruste des Politsprech durchbrach. Er war in den Frühling hineingesprochen, in das
steigende Jahr, ein jüngst ergrüntes Blatt, und ja, wenn man genau in Spahns Satz hineinhorcht, dann kann man auf seiner stillen Rückseite die Blattadern erkennen, durch die ein optimistischer
Lebenssaft fließt, Jahreszeiten gemäß. Doch nun, im Oktober, welkt die Botanik, und wir gehen mit einem exponentiellen Wachstum in die dunkle Jahreszeit. Nun, ganz plötzlich, ist die Furcht
wieder da. Ein zweiter Lockdown? Ein weiterer Absturz der Wirtschaft? Erneut Schulschließungen und eine Fortsetzung von Online-Semestern an den Hochschulen?
Damals, im Frühjahr, schien mir die Stimmung auf Weltuntergang gepolt. Es war, als ob der ganze Tisch kippte, auf dem alles steht. Heute haben wir die
›systemrelevanten‹ Bereiche mit Haftstreifen darauf festgeklebt. Man könnte auch sagen: wir haben uns in der Kunst der subtilen Differenzierung geübt. Vom Tisch sind die kleinen Existenzen
gerutscht, die größeren Unternehmen lassen sich ihre Lohnkosten über Kurzarbeit vom Steuerzahler finanzieren, die ganz Großen haben erfolgreich Milliardenhilfen in Anspruch einfordern können –
erinnert sei an die schamlosen Auftritte der Lufthansa und der Automobilkonzerne. Es sind die alten Strukturen, die sich in der Krise noch einmal verfestigt haben. Im Frühjahr noch machte das
Zauberwort von der Transformation die Runde: ein kompletter Umbau unseres wirtschaftlichen Lebens in coronageschärftem Blick auf die Problemzonen Naturausbeutung und soziale Schieflagen.
Kurzfristig wehte der Wind eines möglichen Neuanfangs durch die Welt, eines gestärkten Gemeinsinns in Achtung vor dem Wert und der Würde jedes einzelnen und eben nicht nur menschlichen Lebens in
der Natur. Von diesem schönen Traum hat sich kaum etwas erhalten können. Stattdessen ziehen sich die Schleifspuren über die schiefe Tischplatte, sie erzählen von den Verlierern, vom stillen
Sterben kulturellen Lebens. Es ist eng geworden und es steht zu fürchten: es wird hässlicher werden, rauer im gesellschaftlichen Ton. Die Ressourcen sind knapp geworden.
Dennoch: der Oktober ist nicht der April. Und es war uns allen klar: im Herbst werden wir mit höheren
Infektionszahlen leben müssen. Vorsicht ist angesagt und Umsicht – Angst und Hysterie hingegen nicht. Der Weltuntergang findet dieses Jahr nicht statt und höchstwahrscheinlich bleibt jede und
jeder von uns verschont vom Coronavirus in diesem Winter, die Chancen dafür stehen immer noch 99 zu eins. Die Welt der alarmierenden Zahlen und die Welt der je persönlichen Lebenskreise sind
Parallelwelten, die nur durch einen schmalen Steg in Promillebreite verbunden sind. Doch halt!, so mache ich mir den Einwand, zoome ihn auf, diesen Steg, dann rücken sich dir die überlasteten
Intensivstationen in Polen und Belgien in den Blick und demnächst die in Frankreich oder Italien!
Dann, so denke ich, ist der Oktober doch wieder der April. Nur dass wir es diesmal besser machen können, mit
intensivärztlicher Versorgung über Landesgrenzen hinweg, in europäischer Solidarität. Vielleicht brauchen wir ein zweites Todesszenario für eine zweite Chance, doch endlich eine Transformation
anzugehen? Die Coronakrise sei die große Bewährungsprobe unserer Generation, meinte heute der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Das sind große Worte, die zu mehr verpflichten als zu
Haftstreifen auf dem schiefen Tisch der Zivilisation.
28. Eintrag vom 31. Oktober 2020
Am Vorabend des Lockdown
light
Eigentlich kann sich ein Chronist einer Pandemie nur irren. Denn Makulatur sind morgen schon
die Situationen, auf deren Grundlage er heute um eigene Positionen kämpft. So sind die 99 Prozent, von denen in meinem letzten Beitrag die Rede war, zwei Wochen später schlicht Unsinn. Eigentlich
wäre jetzt der Zeitpunkt, die Akten hier zu schließen.
Zum Glück für das Unglück: mit meinen Torheiten stehe ich nicht allein. Auch die
durchaus illustre Gesellschaft von Journalisten und Kommentatoren aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens legt in kurzen Abständen Analysen vor mit ebenso kurzen Halbwertszeiten. Die
Öffentlichkeit verlangt nach pandemischer Krisenbeschallung, und ebenso vital regt sich der expressive Drang, mitzusingen im Chor der öffentlichen Stimmen. Überwiegend wird dabei alter Teig nur
umgerührt, und selten gelingen erhellende Artikel wie der von Elisabeth von Thadden in der Zeit vom 29. Oktober, in dem sie eine seit über einem Jahrzehnt lodernde ethische Debatte um die faire
Verteilung einer knappen Ressource aufarbeitet: die Ressource Impfstoff.
Die jüngsten Beschlüsse der Länder und des Bundes, die vor drei Tagen wie
Schockwellen durchs Land schossen, sind noch nicht als geltende Verordnungen in den Amtsblättern publiziert, da regt sich schon massiver Widerstand: Weitgehender Lockdown des öffentlichen Lebens
für alle Dinge, »die der Unterhaltung und des Vergnügens« dienen, wie es despektierlich im politischen Framing heißt und was alles unterschiedslos zu einem Brei verrührt, sei es ein Opernbesuch,
eine Lesung im Literaturhaus, ein Yoga-Kurs, ein Essen im Restaurant oder das Abtanzen in einem Club. Kitas und Schulen bleiben offen (Gottseidank!), die Universitäten nicht (keine
Systemrelevanz), Geschäfte ja, Hotels nein, und der Daumen geht herunter für den gesamten Bereich der Kultur. Die Logik hinter den Dekreten der Exekutive wird in den nächsten Wochen die Gerichte
beschäftigen, davon kann man ausgehen. Denn auch die Gesellschaft ist mit und am Corona-Virus gewachsen und winkt nicht mehr alles durch, was ›von oben‹ kommt. Die Zeit des Zentralismus ist
vorbei, die demokratischen Institutionen, vor allem das juristische Skelett der sozialen Ordnung ist intakt.
Und da muss es sehr erstaunen, dass die Exekutive erneut das Risiko eingeht, von den
Gerichten abgestraft zu werden und einen Autoritätsverlust zu erleiden. Weshalb in aller Welt haben sich die Krisenmanager auf den Entscheider- und Beraterebenen nicht zu einer differenzierteren
Vorgehensweise entschlossen? Weshalb der Rasenmäher? Zugegeben: Die hohe zweite Welle zwingt die Politik zum Handeln, und in der Hektik verstolpert man sich leicht. Gleichwohl, es sind Profis,
die sich umgürten mit einem weiten Stab an Wissenschaftlern und Experten. Seit acht Monaten überstürzen sich die Studien von virologischen Untersuchungen zu nahezu aller Felder des
gesellschaftlichen Lebens, die Lernkurve ist steil angestiegen. Besonders in den Fokus geraten sind dabei die gesellschaftlichen Kohärenz und Fliehkräfte, auch dazu wieder stapeln sich Studien
auf Studien. Da erscheint mir der Rückfall auf den blanken Zentralismus wie gegen den Trend gerichtet. Jedes Gerichtsurteil, das auf Verhältnismäßigkeit differenziert und eine zentralistisch
verhängte Verordnung kippt, bedeutet einen Ansehensverlust der Regierungsorgane. Weshalb nur gehen der Bund und die Länder gerade diesen riskanten Weg?
kompensieren. Offenkundig will man damit eine Klagewelle verhindern. Doch was für ein
politischer Tauchgang kündigt sich da an! Will man allen Ernstes die Judikative – und damit den Rechtsstaat – mit Geldzuwendungen aushebeln? Wahrscheinlich wird man damit die DEHOGA einfrieden
können, schließlich ist es »ein Angebot, das man nicht ablehnen kann«, capice? Bei einem Lockdown light macht die Gastronomie im ansonsten umsatzstarken Monat November mit dem Angebot
auf jeden Fall einen besseren Schnitt. Und die anderen, um die es auch noch gehen soll in jenem ominösen Paket von 10 Milliarden?
Ich fürchte, sie kommen unter die Räder. Dabei gilt meine Sorge weniger der
kulturellen Veranstaltersphäre der städtischen und kommunalen Einrichtungen. Die Theater, die Volkshochschulen und die sonst wie vom Steuerzahler finanzierten Kultur- und Bildungseinrichtungen
werden in der Struktur überleben, weil sie zur Struktur gehören. Seit Beginn der Pandemie haben sie ihr Ausfallrisiko zudem – skandalös! – über arbeitsrechtlich fragwürdige Verträge auf die
Solisten abgewälzt. Die etablierten Kultureinrichtungen leben in der Substanz von den prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen der Soloselbständigen, die ihre Talente und ihr Können als freie
Musiker, Referenten oder Stadt- und Museumsführer anbieten. Deren biographische und kulturelle DNS ist nicht auf politischen Zusammenschluss ausgelegt, es sind Überlebenskünstler und Kämpfer, die
in ihrem Erfolg allein von ihrer Begeisterung getragen sind. Kein soziales Netz fängt sie auf, keine gesellschaftliche Struktur bietet ihnen einen Halt. In guten Zeiten bedeutete dies Freiheit
und war der Nährboden von Kreativität. In guten Zeiten hat sich die Gesellschaft davon inspirieren oder auch nur unterhalten lassen. In schlechten Zeiten braucht man sie nicht mehr, denn nun geht
es um das eigene Hemd.
Die Krisenverlierer sind diejenigen, die sich nicht machtvoll organisiert haben. Das »Angebot, das man nicht
ablehnen kann«, ist deswegen so perfide, weil es auch noch die Verlierer der Krise gegeneinander auszuspielen droht. Und besonders gallig stößt mir auf, dass gerade die politischen Institutionen,
die lautstark den gesellschaftlichen Zusammenhalt einfordern, sich nun auf der Seite der sozialen Spalter wiederfinden. Zu hart geurteilt? Auf jeden Fall bringen einzelne Granden in der CSU und
der SPD schon einmal das Szenario in den öffentlichen Diskurs ein, auch der private Raum »könne« der polizeilichen Überwachung von Kontaktbe-schränkungen unterworfen werden. Das sei in etwa so,
als ob eine Ruhestörung zu später Nachtstunde vorliege. Ein trefflicher Vergleich, angetan, den kleinen und entscheidenden Schritt von ›könne‹ zu ›müsse‹ schon zu antizipieren. Und ebenso klein
ist der Schritt von polizeilicher Ermahnung vor der Wohnungstür bis zur Kontrolle dahinter. Überdies: welche semantische Grenze trennt den nachbarschaftlichen Hinweis an die Ordnungskräfte von
einer Denunziation?
Zu schwarzgesehen? Wir werden abwarten und dann klarer sehen. Ich hoffe aufrichtig,
dass meine bitteren Worte nur eine weitere Torheit sind.
29. Eintrag vom 8. November 2020
Amerika und das Momentum Hoffnung
Es war die Nacht der Emotionen in den USA. Nachdem tagelang der Stand von beiden
Kontrahenten auf 253:214 für Joe Biden eingefroren schien, bewegte sich der Zeiger nach den Auszählungen in Pennsylvania und Nevada mit einem Ruck über die magische Zahl,
den threshold von 270.
Überall in den Städten der USA gingen die Menschen auf die Straßen und tanzten.
Sie hatten eine Politik der
Dämonisierung, der Lügen und Diffamierung abgewählt, für die Donald Trump seine Körpersprache perfektioniert hat: Die herrische Hand, mit der er auf seinen Pressekonferenzen unliebsame
Journalisten abstrafte. Die finstere Entschlossenheit, die er mit seinem bronzenen großporigen Gesicht in Kämpferpose darbot, dazu in auffälligem Kontrast sein singendes Ostküsten-Englisch in
leicht heiserer Stimmlage, die in unaufgeregter Lautstärke die größten Ungeheuerlichkeiten fast, in frivoler Weise könnte man sagen: appetitlich servierte. Mit seinen Handbewegungen stilisierte
er seine Auftritte zu weltbedeutenden Ereignissen, die nicht nur der Nation, sondern dem ganzen großen Rest der Welt galten: Mal ein erhobener Zeigefinger, der revolverschnell auf das Auditorium
zielt, dann das gestelzte Okay aus Null und den abgespreizten Drei, oder die beiden Handflächen streichen von innen nach außen und signalisieren ein Basta. Und unvergesslich die ikonographischen
Szenenbilder: Trump hält wie sich eine Karikatur seiner selbst mit infantilem Grinsen eines Zwölfjährigen an einer amerikanischen Flagge fest. Trump hält eine schwarze Bibel wie einen Ziegelstein
in die Höhe, nachdem die Nationalgarde ihm den Weg zur Saint John’s Church freigeräumt hat.
Die tanzenden Bürger schüttelten in der letzten Nacht den vierjährigen Albtraum aus
ihren Gliedern. In Wilmington, Delaware, hielten Joe Biden und Kamala Harris ihre Siegesrede vor einem Pulk von Autos, auf deren Dächern die Anhänger saßen und ihre Stars and Stripes schwenkten.
Schon optisch war der fundamentale Unterschied zum krankhaft narzisstischen Trump zu greifen. Trump wies seinem Team nur die Rolle von steifen Statisten zu. In Erinnerung bleiben die kurzen
Auftritte seines Vize Mike Pence, der mit seinem in Frommheit vereisten Gesicht eher einen evangelikalen Priester im finstersten Mittelwesten abgibt, der seine Gemeinde vor dem Teufel warnt.
Dagegen das freundliche Gesicht von Kamala Harris, die im Jogging-Outfit mit Joe Biden telefoniert: »We did it, we did it Joe, you’re going to be the next president of the United States!«, dabei
streicht sie sich über die Haare wie in Verlegenheit, und dann folgt ein noch ungläubiges Lachen. Am Abend schließlich eröffnet sie in weißem Hosenanzug die Siegesfeier, ernster im Tonfall und
mit ersten Bekundungen, wohin der neue Kurs gehen wird. Und als sie an die Adresse der Wähler gerichtet sagt: »You chose Joe Biden as the next president of America«, da strahlt sie eine echte und
tiefe Begeisterung aus, die nicht nur dem Wahlergebnis, sondern eben auch der Zukunft ihrer zerrissenen Nation gilt. Eine Herzensbotschaft, es gilt, die Wunden zu heilen, die Donald Trump
geschlagen hat.
Als der Tag nach der Wahl heraufzog, schaltete ich frühmorgens CNN an und war
entsetzt, ja schockiert als ich sah, dass Donald Trump wieder einmal den Prognosen die Nase zu zeigen schien und mit den Zwischenergebnissen weit über den Erwartungen lag. Der Trumpismus steht
für mich für einen Politikstil des ›We first‹, der zu großer Karriere ansetzt. Dabei sind es die knapper werdenden Ressourcen, natürliche wie soziale, die ihn begünstigen mit seiner Botschaft,
man käme allein besser durch, weil die vorhandenen Machtgewichte einem in die Hände spielen – vorausgesetzt, man setze sie nur rückhaltlos ein zum eigenen Vorteil. Das ›We first‹ hat sich zu
einem Handlungsrational entwickelt, das von Beijing bis Washington nicht nur Geopolitik organisiert. Es trennt auch die einzelnen Gesellschaften auf und separiert die Gewinner von den Verlierern,
das Messer scheidet schnell die Nähte auf, die eine verantwortungsvolle Sozialpolitik mühsam geschneidert hat. Verträge sind schneller gekündigt als geschlossen, ein Nein hat die stärkere
rhetorische Wirkung als ein Ja – zumindest war das die Rezeptur des Trumpismus. Es bleibt abzuwarten, ob die Republikaner aus der politischen Sackgasse finden, ob – und das Wort ist nicht zu groß
gewählt – ob die USA sich weiter auf den Status eines ›failed state‹ zubewegen, wie jüngst wieder einmal der Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, befürchtet.
Einstweilen jedoch ein Aufatmen, getragen von einer Welle hoffnungsfroher
Begeisterung, der die Kraft eines Momentums innewohnt. Auch wenn zu erwarten steht, dass das ›We first‹ eine zu große Resilienz hat, um von einer Augenblickstimmung fortgespült zu werden: Die
Hoffnung steht, dass das politische Leben immer wieder diese Momente der Zuversicht erzeugen wird. Dass, wie Hannah Arendt einmal kühn gesagt hat, dass wir berechtigt sind, Wunder von der Politik
zu erwarten ganz einfach deshalb, weil mit jeder Geburt eines Erdenbürgers ein neuer Beginn gewagt wird.
30. Eintrag vom 25. November 2020
Atmen
Manchmal liegt eine frische Randbemerkung zu einem virulenten und allseits lautstark
kommentierten Thema nur einen Steinwurf entfernt. Was ist über die Pandemie nicht schon alles geschrieben, geredet, visualisiert, ironisiert und polemisiert worden! Seit neun Monaten leben wir
medial annähernd monothematisch – in tief gestörten, weil ermüdeten Weltbeziehungen.
Aber es gibt sie, die Steinwürfe ins nahe Gelände. Auf der Wasseroberfläche eines stillen
Sees breiten sich Wellen ringförmig vom Einschlagsort aus und dehnen und stauchen das Spiegelbild in erhabener Langsamkeit. Es ist, als ob das Wasser atmet.
Und mit der Metapher des Atmens ist der Stein gefunden. Die ernsthaft an Covid Erkrankten
erleiden Atemnot. Sauerstoff ist der Brennstoff des Lebens. Im Aus und Einatmen nehmen wir die fundamentalste Beziehung zur Welt auf. Alle Philosophien, westliche wie östliche, indigene wie
hochelaboriert verschriftlichte, erkennen im Atmen den Stoffwechsel des Seelischen. Die etymologische Wurzel des Atmens geht auf das Sanskrit ātman zurück, von dort aus schlägt es
seine Verbindung zum lateinischen anima und findet ins Althochdeutsche Eingang als ātum und bezeichnet auf seinem Weg durch die Sprachfamilien überall das Seelische.
Auch die altgriechische Herkunft über pno zu pneuma betont das osmotische Geschehen eines geistigen Lebens, das Welt in die Lungen aufnimmt und wieder ausströmen
lässt. Im Atmen, so deutet es der Soziologe Hartmut Rosa, prozessieren wir unablässig Welt durch unseren Körper.
Dem mit dem Atem ringenden
Covid-Erkrankten droht der Lebesangst durch Ersticken ausgesetzt. Auch dem Covid-Opfer rückt der Tod langsam auf den Leib, das Sterben zieht sich über Tage hin und lässt den Kranken viele Tode
leben, zumindest solange, bis ihn die komatöse Gnade ereilt. Gestern waren es allein in Deutschland 410 Fälle (RKI), und 3834 weltweit (WHO).
Soweit zum Atmen individuellen Lebens – und nun zur gesell-schaftlichen
Vitalität.
Also ziehen sie Wellen weiter, und in
ihnen schaukelt nun das Bild der um Atem ringenden Gesellschaften. Ihre Organe – das wirtschaftliche und soziale Leben, die Schulen, die Universitäten, ja sogar die politischen Instinsfaden
abgeschnitten zu werden. In der römischen Mythologie war dafür die Parze Morta zuständig, heute haust sie in den verklebten Lungenbläschen und unterbindet den Transfers des Sauerstoffs in den
Blutkreislauf. Jeder, der nach einem kurzen Sprint oder bei einem Tauchgang in Atemnot geraten ist, kennt die Panik, die durch den ganzen Körper rast, durch die Bauchdecke hinein in die
Genitalien und die Beine. Der Körper fühlt sich wie in einen Schraubstock eingeklemmt, das Herz pocht und pumpt, die Arterien schwellen an, der Kopfdruck steigt und nichts anderes zählt dann als
nur der nächste Augenblick. Man kann ermessen, welch‘ satanische Foltermethode das Waterboarding darstellt: Der Gefolterte wird qualvoll der Todetutionen – sind angezählt. An neuralgischen
Stellen sind die Aorten des Blutkreislaufs verstopft: beim internationalen Transfers von Waren und Gütern, im multilateralen Verhandeln von Interessen und Werten, in den weltoffenen, leiblichen
Begegnungen von Bürgern. Mit gewaltigen Kapitalspritzen versuchen die Ärzte, das kardiovaskuläre System ihrer Patienten zu stabilisieren. Fast alle von ihnen weisen gravierende Vorerkrankungen
auf. Die Umweltkrise hat ihre Lungen geschädigt und die Entgiftungsorgane Darm, Leber und Nieren zersetzt. Der nationale, bisweilen völkische Populismus erzeugt schmerzhafte rheumatische
Erkrankungen und legt den Bewegungsapparat internationaler Institutionen lahm. Bei den westlichen Gesellschaften ist die Regelungsfunktion der Schilddrüse entgleist, in Fieberschüben fluten
Maskengegner, Corona-Leugner und Verschwörungserzähler die Städte. Kurzum: die Gesellschaften liegen mit Schnappatmung auf den Stationen.
Soweit zum gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen, doch besuchen wir nun eine der vielen
Krankenstationen!
Soweit zum gesellschaftlichen Leben im
Allgemeinen, doch besuchen wir nun eine der vielen Krankenstationen!
Zwar sieht es von Land zu Land
verschieden aus, in China anders als in den USA, in Frankreich wieder anders als in Südafrika, doch die strukturellen Linien sind überall ähnlich. Lassen wir uns durch das ›Lazarett Deutschland‹
führen von Ärzten und Pflegepersonal! Auf den Krankenhausfluren stehen die Betten dicht an dicht, es sind die Privatpatienten, genauer, um keine Verwirrung aufkommen zu lassen: die Selbstzahler,
die sich nicht auf eine gesetzliche Krankenversicherung abstützen können wie die ›systemrelevante‹ Industrie, die mit frischem Kapital durch die Beatmungsgeräte auf den Intensivstationen versorgt
werden. Einige dieser Systemträger, so raunen die Ärzte hinter vorgehaltener Hand, hätten allerdings chronische Vorerkrankungen, schon vor Corona hätten sie am Markt geschwächelt, aber, nun ja,
das sei die Entscheidung der Politik, Gemeinschaftshaftung bei Verlusten, Privatisierung der Gewinne, man wisse ja, wie das geht. Und nein, die Intensivpatienten wie Lufthansa, TUI, Adidas, die
könne man nicht besuchen, zwar sind sie schon auf dem Weg der Rekonvaleszenz, was sich an den Aktienkursen ja auch zeigt, aber dennoch. Triage? Ja, die müsse man praktizieren bei dieser
Patientenflut, und so habe es vor allem bei den Privatpatienten einige Abgänge gegeben ins Totenreich, die Innenstädte erzählen davon mit Leerständen in den Fußgängerzonen, kleine Läden und
größere Kaufhäuser, Reisebüros, Hotels und Restaurants, Nagelstudios, Fitnesscenters und manche andere aus der modernen Freizeit- und Wohlfühlindustrie, die in den letzten Jahren entstanden sind.
Wohlstandsspeck, abgesaugt während der Lockdowns, und dazu zählen auch die Kleinkünstler, die unabhängigen Kulturschaffenden, die kleinen privaten Theater, die Verlage.
Soweit zum Krankenbesuch, doch nun noch zum Chefarzt, er räumt uns einen kurzen Termin ein.
Er ist von Haus aus Pulmologe, und so bringt er das Thema zurück auf das Atmen.
»In der Lunge sind es die kleinen
Lungenbläschen«, so beginnt er, »die den Sauerstofftransfers ins Blut leisten, nicht die Bronchien und Bronchiolen. Davon haben wir etwa 300 Millionen, eine spektakulär große Anzahl, und
zusammengenommen bilden sie eine respiratorische Oberfläche einer geräumigen 6-Zimmer-Wohnung. Sie halten das ganze System am Leben. Wenn wir dieses Bild auf unseren gesellschaftlichen Organismus
übertragen, so sind es die kleinen Unternehmen, die Freiberufler und Soloselbständigen, die beständig für frischen Wind sorgen. Nehmen Sie die Kulturschaffenden! Auch dort steht und fällt alles
mit den Individuen, mit ihrer Begeisterung für ihren Beruf. Ja, richtig, die Schauspielerin und der Dirigent, die im brausenden Schlussapplaus stehen, sind von der Intendanz und der Regie dorthin
gestellt, das sind in unserem Bild die Bronchiolen des Kulturbetriebs. Aber den Esprit, den lassen sie überspringen aufs Publikum. Die größte Anzahl der Lungenbläschen aber machen die
Kleinkunstbühnen aus, die Schausteller, die Referenten, die in Sachen Bildung unterwegs sind, die Musiker auf dem Marktplatz während des Wochenmarktes. Einer Gesellschaft, denen die Inspiratoren
wegsterben, kann nicht mehr richtig durchatmen. Es sind die Kunst und die Kultur, die das gesellschaftliche Klima ventilieren, sie sind der Frühling und der Sommer, und ohne sie herrscht tiefer
Winter, die Jahreszeit der Infektionen.«
* * * * * *
31. Eintrag vom 12 Dezember 2020
Die Eule der Minerva
Als ich vielleicht 14 oder 15 Jahre alt war, begannen in meiner Schulklasse die ersten politischen Diskussionen
mit den Lehrern. Ich erinnere mich noch genau, wie ich den einzelnen Argumenten folgte, die hin und her kreuzten. Hatte die eine geredet, dachte ich: Ja, das ist richtig. Kam dann der
Gegeneinwand, sagte ich mir im Stillen: Ja, das überzeugt mich ebenfalls. Und vor allem blendete mich das stolze Selbstverständnis der Lautstarken, eine ›eigene Meinung‹ zu haben. Und jetzt sehe
ich sie wieder, unsere Klassenlautsprecherin, wie sie dem Gemeinschaftskunde-lehrer ebendies zu verstehen gab in einer Mischung aus Überheblichkeit und Spott, um sich auf Augenhöhe zum Pädagogen
zu stemmen. Eine eigene Meinung, das klang nach Reife, nach Ernstgenommen-Werden in der Welt der Erwachsenen, und eben diese eigene Meinung, die vermisste ich damals an mir. Ich war immer ein
Spätentwickler, nicht nur in Liebesdingen, sondern eben auch im argumentativen Standing in der Welt.
Es ist gewiss kein Zufall, dass ich mich in pandemischen Zeiten an
diese frühen Jahre erinnere. Denn die Situation ist ähnlich. Damals schaukelte ich von hier nach dort, weil ich orientierungslos im politischen Diskursfeld trieb und der Wunsch, eine ›eigene
Meinung‹ zu haben, noch keine sachkundigen Wurzeln getrieben hatte. Das Feld war unübersichtlich, und ebendies begegnet mir auch heute, wenn ich eine ›eigene Meinung‹ zu den gesellschaftlichen
und ethischen Auswirkungen der Krise äußern oder wenn ich gar politische Entscheidungen kommentieren möchte. Gleichwohl, es bleibt ein fundamentaler Unterschied zwischen gestern und heute: Damals
in jungen Jahren; konnte man argumentativ hineinwachsen in das komplexe
Weltgeflecht, heute dagegen enteilen mir die Ereignisse und schon morgen sieht alles anders aus – Infektions- und Todeszahlen, neue Studien zu
gesellschaftlichen Prozessen, nicht selten im Konflikt zu Gegenstudien, Blicke auf das Geschehen in anderen Ländern, das nervöse Auf und Ab, das je nach Beleuchtung sich anders
darstellt.
Irgendwie, so dämmert mir, hält das menschliche Urteilsvermögen nicht Schritt mit
der Beschleunigung der Zeitläufte. Das Denken, will es zu Urteilen reifen, benötigt anscheinend mehr Zeit als das Karussell der Ereignisse. In ebenderselben Zeitspanne, in der das Denken die
Informationen sortiert und sie mit seinen starken Überzeugungen und Werten abgleicht, haben sich schon neue Daten entwickelt. Die Welt hat als Ganze einen Ruck gemacht und die Zeiger der Weltuhr
streichen schon über eine andere Gegenwart hinweg – und damit über eine neue Wirklichkeit. »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, schrieb Hegel in der
Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie, womit er sagen wollte: Die Stunde der Philosophie schlägt erst am Abend, wenn von dort auf den Tag zurückgeblickt werden kann. Niemals aber könne sie
zukünftige Welt und Wirklichkeit ins Auge fassen, die Philosophie verfüge über keinerlei prognostische Kraft. Unbefriedigend? Søren Kierkegaard, der dänische schwerblütige Religionsphilosoph,
folgte Hegel denn auch nur halbherzig und setzte dessen ›unsterblichen Satz‹ auf das Gleis vitalen Lebens: »Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden
muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.«
Vorwärts zu leben, das beutet auch, sich ins
Unbekannte zu bewegen. Sich zum Unbekannten zu bekennen, gilt dem philosophischen Bewusstsein seit jeher als Quell menschlicher Freiheit. Was wäre das Leben wert, gäbe es für uns nicht die Zonen
der Unverfügbarkeit, die in gläubigeren Zeiten dem Willen und dem Wissen eines Gottes anheimgestellt wurde? Heute dagegen beherrscht die Menschheit das mathematische Geheimnis der
Reihenberechnung, mit der von verlässlichen Daten aus auf die pandemischen Verläufe geschlossen werden kann. Mathematisch, so scheint es, ließe sich das Infektionsgeschehen konturenscharf
berechnen – gäbe es da nicht das menschliche Verhalten, das trotz ausgeklügeltster Algorithmen nicht wirklich in die Modelle eingepreist werden kann. Das Leben entzieht sich immer wieder der
Kontrolle, flüchtet in private Räume oder bleibt undiszipliniert trotz Ordnungsgeld. Unvernünftig sei solches Verhalten, ja verantwortungslos, und an diesem Urteil wäre kaum zu rütteln, gäbe es
da nicht den Verdacht, dass vernünftig heißt, sich den Gleichungen der Mathematik zu unterwerfen. Gewiss: es geht um Menschenleben, und jeder einzelne Tod streut Leid tief hinein in die Familien.
Es geht um den Kampf der Ärzte auf den Intensivstationen, umDoppelschichten der Pflegekräfte, es geht um die Corona-Generation in Schule und Hochschule, und
es geht auch um die vielfachen Tode derjenigen Wirtschaftszweige, die im Lockdown mit Berufsverboten belegt sind. Die Liste der Opfer ist lang, und da klingt es zynisch, den Verdacht zu äußern,
die derzeit allseits angeratene Vernunft käme einer mathematischen Ordnungsmacht gleich. Nichts als ein philosophisches Sandkastenspiel, frivol und eben unverantwortlich?
Wieder stehe ich mit einem Bein im Klassenzimmer von damals. Was ist richtig und was ist falsch? Für den Freiraum
individueller Präferenzen haben die westlichen Gesell-schaften einen immens hohen Preis bezahlt. Das autoritäre Regime Chinas hat das Virus unter Kontrolle, und nicht wenigen Kommentatoren
erscheint das Reich der Mitte als der große Gewinner der schwersten Weltkrise seit dem letzten Weltkrieg. Das fein verästelte, tief in das private Leben eindringende Tracking aller Bewegungen der
Untertanen-Bürger ist der größte Kotau vor der mathe-matischen Vernunft. Das kann uns, das muss uns schrecken. Allein, die demokratische Antwort scheint derzeit, nach sechs Wochen Lockdown light
nicht sehr erfolgreich. Was ist richtig, was ist falsch?
Die Eule der Minerva, sie beginnt erst zur Abenddämmerung ihren Flug.
Wer nur andere imitiert, wird
nie etwas Eigenes schaffen:
Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen
nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die
Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und
erschaffe Deine eigenen Werke.