Gedanken-Akrobatik 

 

Meditationen und Reflexionen über Zeitliches und Zeitloses,

oder schwere Kost für kluge Köpfe

Von Bernhard Horwatitsch

 

Die Beiträge erscheinen jeweils per 15. und 30. des Monats

Der zwölfte Beitrag 2024

 

vom 15. Juli 2024

 

 

 

Über Nietzsche in Assoziationen mit Nietzsche denken

 

Nietzsche, dieser Mann mit dem beeindruckenden Schnauzer kam 1844 in Röcken zur Welt. Dieser kleine Stadtteil der Stadt Lützen liegt im Bundesland Sachsen-Anhalt. Der heutigen Hochburg der neuen Rechten. Nietzsche war ein berühmter Philologe und Philosoph und starb relativ früh zwei Monate vor seinem 56. Geburtstag im August in Weimar. Er war da schon ein seit über zwanzig Jahren pensionierter Professor. Dieser kränkliche und an einer degenerativen Erbkrankheit (CADASIL, eine Häufung von Schlaganfällen in bereits jungen Jahren) leidende Mann schuf die Lehre vom Übermenschen.

 

In Friedrich Nietzsche haben wir einen Vertreter jener spätbürgerlichen Pseudodominanz, die Thomas Mann in seinen Buddenbrooks untergehen ließ. Einerseits Leidensgröße und Todessehnsucht, andererseits Leistungsstärke und Unempfindlichkeit im Leiden. Diese Gegensätze beschrieb Thomas Mann in seinen Literaturen und sein Vorbild in der Hinsicht war - neben Wagners Leitmotivik und Schopenhauers Wille - Friedrich Nietzsches Gegensatzpaar Apollo und Dionysos. Apollo, der gute Hirtengott des goldenen Zeitalters, die schöne, strenge Form einer geordneten und geruhsamen immer gleichen Welt. Dionysos dagegen, immer wieder gebiert er sich neu aus seiner Asche, ist wild, rauschhaft und nicht zu bändigen, bis er wieder in Form gepresst wird und zugrunde geht, weil er eben nur in seiner formlosen Wildheit ganz existieren kann. Und immer wieder wird Apollo selbst diesen wilden Dionysos erschaffen, immer wieder wird die Form selbst sich zerstören, weil sie erstarrt und brüchig wird.

  Nietzsche forderte einerseits das erfolgreiche und starke frühbürgerliche Prinzip der unbedingten Autorität zurück. Eine Art natürlicher Aristokratie, nicht wie im Barock blutleer und verweiblicht, sondern erstarkt, wie sie sich Machiavelli wünschte und schon nicht mehr hatte. Doch andererseits waren Nietzsches Helden (Alkibiades, Napoleon, Friedrich II.) Leidende in ihrer Größe, wurden sie doch alle vom Kleinen besiegt. Die Eroberer, die dann im 20. Jahrhundert kamen und den ganzen Mist weg bombten, waren schon Parodie auf diese Leistungs- und Leidensgrößen. Übrig blieben nach zwei verheerenden und kurz aufeinander folgenden Weltkriegen nur noch die „Mißratenen“, die kleinen Würschtel wie wir übrig. Heute lässt sich mit Nietzsche eine traurige Feststellung machen. Selbst die größten Herrscher sind nur kleine Würschtel. Den ersten und den zweiten Weltkrieg haben nur die Würschtel überlebt. Und wir werden noch einige Generationen brauchen, damit es wieder einen Herrscher gibt, der in seiner Leidens- und Leistungsgröße dem Ideal Nietzsches nahekommt. Vielleicht aber hat es diesen Herrscher noch nie gegeben! Das halte ich sogar für wahrscheinlicher. Doch wenn alle Menschen Würschtel sind, was dann? Sollen die Tiere herrschen? Oder kommen die Außerirdischen?

 

Unsere aktuellen Herrscher sind Imitate, Witzfiguren. Aber sie sind so sehr von ihrer eigenen Größe überzeugt, dass sie die nietzscheanischen Tugenden scheinbar verkörpern. Stolz, Pathos der Distanz, große Verantwortung, Übermut, prachtvolle Animalität, kriegerische und eroberungslustige Instinkte, Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis. All diese Tugenden werden von den Putins und Trumps dieser Welt imitiert und parodiert und sogar pervertiert.

 

Nietzsches Anliegen wird wohl erst verständlich, wenn man sich auch mit kleineren Details der Geschichte beschäftigt und sie beispielhaft in Anschauung nimmt. So werden die philologischen Kernelemente der nietzscheanischen Hypertrophie ein wenig schärfer und weniger monströs. In der Querelle des Anciens et des Modernes begegnen wir einer Auseinandersetzung Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich, noch unter Ludwig XIV.. Dort dichtete der französische Märchenonkel Charles Perrault ein Lobgedicht auf die Genesung von seinem König Ludwig XIV..

    Doch nie, glaubte ich, Anbetung. / Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen, / Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir; / Und man kann den Vergleich anstellen, ohne ungerecht zu sein, / Zwischen dem Zeitalter von LOUIS und dem schönen des Augustus.

 

Diese Parallele von Kunst und Wissenschaft zwischen der Moderne und der Antike gipfelte darin, dass Perrault den französischen König über Augustus stellte, weil die moderne Welt leistungsfähiger sei. Ein König, der sich schon damals von seiner Mätresse (Marquise de Maintenon) an der Nase herumführen ließ, sollte größer sein als der römische Kaiser Augustus? Lächerlich. Dagegen erhoben sich einige Stimmen. Nun, Perrault war Jurist, Sohn eines Juristen als Beamter eingesetzt, er war ein Rotüre, ein Bürger und kein Adeliger. Es war aber eine sehr wohlhabende Familie, der Perrault entsprang. Schon früh machte sich Perrault über antike Vorbilder respektlos lustig. Sein Gegenspieler war Nicolas Boileau, ebenfalls gelernter Jurist, aber sein Vater war noch stolz auf seine adlige Herkunft. Boileau verehrte die antiken Klassiker wie Horaz oder Pseudo-Longinus, den er selbst übersetzte. Diese beiden durchaus dem König treuen Literaten gerieten in Streit, weil Perrault mit seinem Lob der Moderne die formale Verwilderung der Literatur lobte (also Dionysos), die Boileau wiederum kritisierte. Der Streit schuf dann zwei Lager, die Alten und die Neuen. Die Alten waren für Nachahmung, dem aristotelischen Grundprinzip der Mimesis. Nur durch Nachahmung kann man sich überhaupt literarisch entwickeln, indem man eben seine Vorgänger studiert und sich am Ideal der Antike orientiert.

 

Die Neuen, die Modernen bevorzugten das Genie, also eine Art Literatur, die sich von den antiken Vorbildern befreien kann, weil eben die Moderne besser, reicher, vielfältiger als die Alten ist. Wirklich beendet wurde der Konflikt nicht. Er erschöpfte sich nur an der von Kardinal Richelieu begründeten französischen Akademie, wo der Streit ausgetragen wurde und am 30. August 1694 mit einer öffentlichen Umarmung von Boileau und Perrault vorläufig endete.

 

Ein paar Jahrzehnte später flammte der Konflikt wieder auf mit einer anstößigen Übersetzung der Ilias von Homer durch de La Motte (Querelle Homer genannt), einem der Günstlinge am Privathof von Madame du Maine. Fenelon, der Autor der Abenteuer des Telemach, mischte sich ein und auch dieser Konflikt ebbte wieder ab. Aber die Auseinandersetzung ging tief in die DNA der französischen Literatur ein, begleitete die Aufklärung und hatte auch international Auswirkungen, bis zu Deutschlands Sprachenstreit zwischen Gottsched und Bodmer. Dort vertrat Gottsched den klassischen Ansatz, einer grammatischen Festlegung, während Bodmer den natürlichen Ansatz verfolgte, dass Sprache frei sich aus dem Dialekt entwickeln solle. Der siebenjährige Krieg beendete den Streit mehr oder weniger und es setzte sich Gottscheds Grammatik durch. Doch ist das so? Die Regulierung von Sprache ist ja auch heute wieder ein großer Streitpunkt unter den Politiker*innen.

    Nun, was hat das mit Nietzsche zu tun? Nietzsche hat sich nie direkt zu diesen berühmten Querelen aus der Zeit des Ancien Regime geäußert. Aber Nietzsche war ein Philologe, und das war er in seiner Gelehrtenstube mit Haut und Haaren. Er geriet in fremdes Gewässer, weil die Philologie einmal eine Kardinalswissenschaft war. Heute ist es das nicht mehr. Zu Nietzsches Zeiten schaffte es ein Streit zweier Philologen um die Vergabe einer Professur in die Hohe Politik und es musste sich seinerzeit sogar Otto Bismark darum kümmern. Bekannt ist das historisch als der Bonner Philologenstreit zwischen Friedrich Ritschl (dem Mentor von Nietzsche) und Otto Jahn. Also Nietzsches Philosophie ist nicht ohne Philologie zu haben. Das übersteigt viele Rezipientin der heutigen Zeit, da sie weder fähig noch willens sind, die antiken Originale zu lesen, wie das Friedrich Nietzsche noch machte. Und nur so kann ein Alkibiades am Horizont der klassischen Moderne auftauchen, kann altes, antikes Gehölz wie Schwemmgut, Treibholz in den Jahrhundertwechsel hinein poltern und Heraklits Vater aller Dinge das Kriegs- und Literaturgebrüll für mehrere Jahrzehnte bestimmen. Denn um 1890 begann Nietzsche Kult zu werden. Er selbst war bereits umnachtet in dieser Zeit, als die Kunstwarte eine überästhetische, formal zugespitzte  geistige Schönheitshöhe verlangte. Nietzsches Vermächtnis waren die Werte und Gedanken der Alten in eine Zeit zu transformieren, wo das Neue und die Neuen wie eine Horde wildgewordener Verrückter explodierten, also die Industrialisierung Telefone, Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge schuf, Geschwindigkeiten erreichte, die jedem Alten davonliefen. Da saß der einsame Philologe ängstlich in seiner Gelehrtenstube und beschwor den antiken Geist wie eine Katharsis herauf. Nicht immer ganz zu Unrecht geißelte Nietzsche die Sklavenmoral des platonisch-christlichen Wertekanons, die demütige Unterwürfigkeit gegenüber einem rein erfundenen Gott und seinen Elogen. Alle diese verlogenen Religionen im Grunde, legten es darauf an, den Menschen zu unterdrücken, zu disziplinieren und damit zu verkrüppeln, ihn am Fortschreiten zu hindern, klein zu halten. Nietzsche ist ein Vorläufer von Michel Foucault, der feststellte, wie sehr die Aufklärung durch Schule und Militär Körper und Geist der Menschen trainierte und durch Folter gefügig machte, bis jeder selbst daran glaubte, so müsse es sein. Und nur noch Massenmenschen wie traurige Lemuren halb durchsichtig durch die Straßen geistern. Heute ist das nicht mehr verständlich, was Nietzsche dachte, weil die Stoffe aus denen sein Geist sich nährte kaum noch gelesen respektive wirklich verstanden werden – es gibt nur noch wenige Philologen im Sinne einer Kardinalwissenschaft, nur noch Teilphilogien die sich zu Orchideenfächern zerstückelt haben. Das zeigt sich auch in der Bildungskrise. Die moderne Bildung des 21. Jahrhunderts leugnet den Fortschritt, hat kein Ziel vor Augen und bildet Lakaien aus für eine degenerierte geistlose und weitestgehend unfähige Demokratie. Die Schüler und Studenten passen sich ein in die Horde der Zombies, die so weitermachen wie die Zombies vor ihnen.


Das Natürliche, das wilde, schöne Tier, einen Tiger zum Beispiel, einzusperren in ein formales Konzept heißt auch, die Wahrheit, die Wirklichkeit, das eigentlich Echte zu zerstören. Sowohl Nietzsche als auch die "Modernes" der Querelle kritisierten traditionelle Werte und Normen. Während die "Modernes" die Idee unterstützten, dass die moderne Kultur und Literatur genauso wertvoll sei wie die Antike, kritisierte Nietzsche die christliche Ethik und die metaphysischen Annahmen des Abendlandes. Nietzsche verabscheute John Stuart Mills: „Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt: `was dem einen recht ist, ist dem andern billig; was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu‘, welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir.“

 

Nietzsche sieht äußerst hellsichtig einen Zusammenhang zwischen der goldenen Regel der Christenheit und dem kaufmännischen Kleingeist des englischen Libertins.  Heute haben wir nur noch Heilige, die nicht stehlen und morden, weil sie die Polizei fürchten.
      Die "Modernes" betonten den Fortschritt und die Entwicklung der Kultur über die Zeit. Ähnlich betonte Nietzsche die Idee des "Übermenschen" und den Fortschritt der Menschheit jenseits traditioneller moralischer und metaphysischer Konzepte.
    Sowohl Nietzsche als auch die "Modernes" akzentuierten die Bedeutung der individuellen Freiheit und Kreativität in Kunst, Literatur und Philosophie. Nietzsche setzte sich stark für die Selbstverwirklichung des Einzelnen ein und unterstrich die Rolle des Schöpfers und Künstlers in der Kultur.

   Sowohl Nietzsche als auch die "Modernes" schätzten die griechische Kultur und Philosophie hoch ein. Die "Anciens" der Querelle betrachteten die Antike als Maßstab für kulturelle und intellektuelle Exzellenz, während Nietzsche die griechische Philosophie als eine Quelle der Inspiration für seine eigenen Ideen betrachtete.

 

Damit gab es einen sehr nachhaltigen Zusammenhang zwischen diesem Kulturstreit am Rande des Zusammenbruchs des französischen Feudalsystems und Nietzsches aristokratischen Anarchismus.

 

Nietzsche in seiner verstaubten Gelehrtenbude sitzend, tief eingegraben in alten Büchern, und über ihn hinweg rast die Zeit, donnert der große Krieg mit seinen eisernen Panzern und seinem Giftgas voraus, so dass Nietzsches Schmiss über seiner Nase jucken musste. Vieles ist so eingetroffen, wie es Nietzsche sah. Und vieles was so eintraf hätten wir gerne nie erlebt. Dieser Machiavelli der klassischen Moderne ist der Renaissance seines Vorgängers längst entflohen und ist mit seiner Prätention insofern ein Ungeheuer, weil er uns immer wieder aufs Neue darlegt, dass wir politisch und soziologisch ein oder zwei Jahrhunderte hinter der technischen Entwicklung her laufen. Der Mensch wird so zum Monster, weil er nicht mehr versteht, was er tut. Das ist Nietzsches Warnung im Zarathustra und hier bedarf es immer wieder der dionysischen Reinigung, einer Art moralischer Barbarei, um uns wieder an die Technik heranzuführen.

 

 

ENDE

 

 

 


Der elfte Beitrag 2024

 

vom 30. Juni 2024

 

 

Die Geburt der Tragödie

 

Einleitung

Die Tragödie endet mit dem Scheitern des Helden. Ihre Wirkung erzielt sie durch den hohen Fall. Dadurch löst sie beim Zuschauer zwei Emotionen aus, die von Bedeutung sind. Mitleid und Angst. Für den Philosophen Aristoteles bedeutete dies, dass die Zuschauer einer Tragödie sich von diesen Gefühlen reinigen können. Ein simples psychologisches Rezept liegt dem zugrunde. Von außen kommen die Emotionen in mich, also muss ich mich ihrer entledigen. Einverleiben und ausscheiden. Andererseits wird die Intensivierung von Mitleid und Angst auch zeigen, dass sie gegenüber anderen Leidenschaften überlegen sind, tiefer, kräftiger und bedeutender. Drei gute Erziehungsmaßnahmen verursachen diese Evokation von Mitleid und Angst durch die Tragödie. Einmal Abhärtung, dann schaffen sie ein Mittelmaß, und zu guter Letzt lustvolle Erleichterung. Ich härte mich ab, pendle mich ein und erleichtere mich.  Die Tragödie erfuhr im Laufe der Geschichte mehrere Metamorphosen von der römischen Tragödie zur französischen Klassik (Racine, Corneille) bis zum bürgerlichen Trauerspiel (Hebbel, Schiller, Goethe).

Heute im 21. Jahrhundert ist von der Tragödie nur noch der darstellende Effekt übrig geblieben.

 

Erster Teil

Es gibt drei große antike Tragödiendichter, die man mit der griechischen Tragödie, dem Bocksgesang zusammenbringt. Aischylos, Sophokles und Euripides. Einer ihrer unmittelbaren Vorläufer, den die Geschichtsschreibung gerne unterschlägt, ohne den aber die drei Väter der attischen Tragödie so nicht denkbar wären, war Thespis, der unter dem Tyrann Peisistratos im Jahr 534 v. Chr. erstmals einen Schauspieler auftreten ließ zusätzlich zum sonst nur vorhandenen Chor. Der Schauspieler bei Thespis war in ein Dionysos-Kostüm gekleidet und trat in einen Dialog mit dem Chor. Die Tragödie war geboren. Anfangs noch der Monolog und der Chor als überdimensionaler Kommentator. Aber dieser innovative Schachzug von Thespis ist noch heute in Spuren erhalten, im so genannten Thespiswagen.  Der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus – bekannt unter seinem Spitznamen Horaz – behauptete 500 Jahre später, Thespis sei immer mit einer Wanderbühne auf einem Karren herumgezogen. Die Tradition der wandernden Schausteller mit ihren Wohnwägen bildeten bis ins 19. Jahrhundert die Grundlagen des Volkstheaters.

 

Nummer zwei

Aischylos stellt dem Chor zwei Schauspieler gegenüber und schafft  damit die Voraussetzung jedes Dramas, den Dialog – Grundwissen deutsche Literatur, Ernst Klett 1981.

Sein großer Nachfolger Aischylos jedenfalls hatte es nicht mehr so schwer, als er die Tragödie um noch einen Schauspieler erweiterte und so das klassische Drama endgültig erschuf, das wesentlich auf dem Dialog ruht.

Aischylos wurde 525 vor Christus in Eleusis geboren. In dem Wikipedia-Artikel über ihn heißt es, er sei der Sohn des Euphorion. Wäre er der Sohn des Euphorion, stammte er unmittelbar von Achilles und Helena ab, die ja bekanntermaßen auf Elysion einen Sohn zeugten, den sie Euphorion nannten (und auf den sich auch Goethe in seinem Faust bezieht, als Faust und Helena in Arkadien einen Sohn haben, nennen sie ihn auch Euphorion). Doch Zeus hat ihn schon als Jüngling mit seinem Blitz erschlagen, weil er seine Liebe nicht erwiderte. Und die Nymphen, die Euphorion dann bestatten wollten, verwandelte Zeus in Frösche. Diese Arschgeige von Gott. Goethe hat Euphorion dann in seinem Faust jung sterben lassen, weil er enthusiastisch die Griechen von den Türken befreien wollte (wie das zur Zeit Goethes alle wollten, auch Goethes britischer Kumpel Lord Byron), dabei kam der Junge ums Leben (wie Goethes Kumpel Lord Byron). Die Nymphen gehen quasi auf natürliche Weise wieder in die Quelle zurück, der sie entsprungen waren, verwandeln sich in Pflanzen und Wasserschlangen. Goethe erwähnt Zeus nicht einmal.
Wie auch immer und abgesehen davon, dass die schriftliche Quelle dieses Euphorion-Mythos deutlich jünger ist, als Aischylos selbst (sie stammt nämlich von Ptolemaios von Chennos, aus der Schrift Kaine Hystoria aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert). Auf einer weiteren Internetseite „Philosophie der Stoa“, heißt es in einem Artikel von Bernhard Zimmermann, er sei der Sohn des Euphonion. Ein „n“ statt eines „r“. Wer auch immer von wem abgeschrieben hat, hat sich vertippt. Es erscheint mir immerhin logischer, dass Aischylos der Sohn eines Gutsbesitzers war, als der Sohn eines mythischen Kindes. Aischylos stammt aus einem Adelsgeschlecht. Das Gut von Euphonion stand in Eleusis in der Region Attika, die Athen umgibt. In Eleusis wurden die Mysterien zu Ehren von Demeter abgehalten. Der Tyrann Peisistratos herrschte von 546 bis 527 vor Christus in Athen und er förderte dieses Fest, verehrte Athene und Dionysos. Danach herrschten seine Söhne Hippias und Hipparchos. Aischylos erlebte als Junge von vielleicht 10 Jahren, wie Harmodios und Aristogeiton den Hipparchos töteten und anschließend von seinem Bruder Hippias getötet und gefoltert wurden.  Der berühmte Tyrannenmord geschah während der großen Panathenäen zu Ehren Athene. 510 vor Christus wurde dann der im Exil lebende berühmte Kleisthenes mit Hilfe von Sparta Herrscher. Es kam zu den kleisthenischen Reformen, der Basis der attischen Demokratie, die dann Mitte des fünften Jahrhunderts unter Perikles seine Blütezeit hatte. Die Dionysien führte man weiter in Eleusis durch.

Aischylos ist also ganz ein Kind seiner Zeit, nimmt bei den Perserkriegen teil, bei der berühmten Schlacht bei Marathon (490 v.Chr.), und der Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.). Er gewinnt den Siegespreis der Dionysien 472 v. Chr. mit seiner Tragödie „Die Perser“, wo er seine Erlebnisse als Soldat dramatisierte.

 

Ein typischer Fünfakter mit Chor, Chorführer und einer Hauptdarstellerin, der Königin Mutter Atossa vom zweiten bis zum vierten Akt. Der erste Akt (Exposition) wird in einem Monolog des Chorführers dargestellt. Er erzählt darüber, wie sich das gewaltige Heer von Xerxes I. auf den Weg nach Griechenland macht, eine Brücke bauen lässt über den Hellespont (die Dardanellen, einer Meerenge zwischen Ägäischem Meer und Mittelmeer). Xerxes I. will seinen Vater Darius I. rächen, der in der Schlacht bei Marathon zehn Jahr zuvor eine Niederlage gegen die Griechen kassierte, auch die Sorgen der persischen Frauen um ihre Männer, die in den Krieg ziehen, wird erwähnt.  Dann tritt Atossa auf, die Mutter von Xerxes I.. Sie hatte einen sonderbaren Traum. Sie sieht zwei Schwestern gleichen Stammes, die eine in persischem, die andere in griechischem Gewand. Die beiden streiten. Xerxes spannt beide in ein Joch vor den Wagen, um so den Streit zu schlichten. Eine der Schwestern akzeptiert dies, aber die andere reißt sich los und der Wagen bricht zügellos davon, Xerxes fällt runter vor den Augen seines Papis, schämt sich, zerreißt seine Kleider. Atossa will den Göttern opfern, um Leid von ihrem Sohn abzuwenden, da sieht sie einen Adler zum Altar fliegen, wohl auf der Flucht vor einem Habicht. Der Adler gibt sich dann dem Habicht willenlos preis.
Der dritte Akt ist ein Zwiegespräch zwischen Atossa und dem Chor. Sie befragt den Chor ausführlich nach den Sitten und Gebräuchen der Athener. Als sie erfährt, dass die Athener keinen Gebieter haben, reagiert Atossa mit Unverständnis. Hier kann man noch besser erkennen, dass „Die Perser“ von Aischylos ein Stück Propagandaliteratur sind.

Nun erscheint ein Bote auf der Bühne, der vom Untergang der Flotte erzählt. Xerxes ist geradeso entkommen. Überall, auch in Asien verweigert man dem König von Persien die Tribute. Wir haben hier den Beginn des dritten Aktes und das bringt nun den so genannten Umschwung, die Peripetie. Klassisch vermittelt durch einen Boten. Eines der kleinen Indizien, die den amerikanischen Mythen-Forscher Joseph Campbell zu seiner Heldenreise-Idee (Heros in tausend Gestalten von 1949) anregten, die bis heute zum Lehrstoff des Creative Writing an amerikanischen Colleges zählt.
Der vierte Akt ist nun wichtig als Spannungsaufbau durch Handlungsverzögerung, als retardierendes Moment. Atossa beschwört mit Hilfe des Chors ihren verstorbenen Gatten Darius I. aus dem Totenreich. Dieser kommt auch als Geist und verflucht seinen Sohn, der so hochmütig war, eine Brücke über den Hellespont bauen zu wollen und dass er die Götter beleidigt habe, weil er ihre Bilder und Heiligtümer zerstören ließ. Er bittet noch darum, dass man seinen Sohn trotzdem wie einen König empfangen möge. Und dann versinkt der Geist Darius I. wieder ins Reich der Toten. Es ist durchaus typisch, dass das retardierende Moment mit Geistern aus dem Totenreich dargestellt wird. Dann kommt es zum fünften Akt, der Katastrophe. Man könnte das altgriechische Wort mit herab (kata) wenden (strephein) übersetzen. Xerxes erscheint, mit zerrissenen Kleidern und einem leeren Köcher. Der Chor wirft ihm nun bitter vor, dass er die Blüte seines Volkes in den Hades schickte. Xerxes fühlt sich von einem Gott besiegt und in gemeinsamen Wehklagen zwischen Xerxes und dem Chor endet das Stück.

 

Aischylos wird den ersten Preis der Dionysien insgesamt dreizehnmal gewinnen. Einmal verliert er gegen seinen Schüler und Nachfolger Sophokles, das war 463 v. Chr.

Aischylos stirbt auf Sizilien (Gela) im Jahr 456 v. Chr. Einer Legende nach hatte ein Orakel Aischylos gewarnt, dass sein Haus einstürzen würde und er dabei ums Leben käme. Daher zog er sich auf die Felder zurück. Klar, mit Orakelsprüchen sollte man sich nicht anlegen. Da kreiste über Aischylos ein Adler, der hatte eine Schildkröte in seinen Klauen und suchte nach einem passenden Stück Felsen, auf dem er die Schildkröte knacken könnte, um an ihr inneres Fleisch zu kommen. Der Adler sah einen glänzenden Felsen, der ihm perfekt erschien. Dieser Felsen war die in der Mittagssonne glitzernde Glatze von Aischylos. So starb er, erschlagen von einer Schildkröte. Das ist dann nicht mehr tragisch, sondern für uns klingt das eher komisch.

Sophokles führt den dritten Schauspieler ein – Grundwissen deutsche Literatur, Ernst Klett 1981.

Sophokles kommt 497 v. Chr. auf dem Hügel Kolonos zur Welt, einem heutigen Stadtteil von Athen. Er war der Sohn des recht wohlhabenden Waffenfabrikanten Sophillos. Sophokles war 480 v. Chr. der Vorsänger bei der Siegesfeier über Xerxes I. nach der Schlacht bei Salamis. Er erlernte sein Handwerk bei Aischylos selbst und besiegte den Meister 468 v. Chr. bei den dionysischen Festen mit einem vierteiligen Kunstwerk, das unter anderem eine Geschichte über Triptolemos enthielt und über Nausikaa (das ist das Mäderl, dem Odysseus am Strand von Scheria begegnete und dann seine Irrfahrten erzählte). Triptolemos ist noch ein ganz Archaischer, ein bisserl an Gilgamesch erinnerter Held. Triptolemos führte den Ackerbau ein auf Eleusis, er war einer der ersten, die von Demeter in die Mysterien eingeführt wurde. Bei Ovid können wir es nachlesen. Dort ist Triptolemos ein sehr krankes Kind, wird wohl sterben. Sein Vater Keleos stößt zufällig bei einem Verdauungsspaziergang auf ein altes Weib, das zusammengekauert auf der Straße liegt. Er nimmt es mitleidig zu sich und versorgt das alte Weib. Dieses sieht nun den kranken Jungen Tritpolemos und küsst ihn, spricht drei geheime Sprüche über ihn und will ihn gerade mit der Glut des Kaminfeuers bedecken, da reißt die Mutter ihr Kind aus den Armen des alten Weibes.

„Unversehns hast Du gesündigt: Mutterfurcht wendet die Gabe ab und der Knabe bleibt dem Tode verfallen, doch zuvor wird er ackern und säen und ernten.“ Heißt es dann bei Ovid (Fasti 4) Das alte Weib ist Demeter und sie wollte gerade den Jungen unsterblich machen. Das hat die Mutter verhindert. Dafür ackern, säen und ernten wir bis heute. Shit happens. Daraus machte Sophokles ein Drama, in dem er selbst als Lyraspieler auftrat. Sophokles wurde 443 zum Verwalter der Schatzkasse des attischen Seebundes und war zusammen mit Perikles (einem der größten griechischen Staatsmänner) Stratege im Krieg gegen Samos (441-439). Aber er war auch einer der Befürworter der Tyrannei der 400, die 411 in Athen an die Macht kamen und 399 v. Chr. Sokrates ermordeten. Sophokles war Priester für den Gott Asklepios, betätigte sich als Medium für die Götter, war zweimal verheiratet und angeblich bisexuell. Sophokles wurde 90 Jahre alt und überlebte damit seinen jüngeren Kollegen Euripides. Gestorben ist Sophokles 406 v. Chr. vermutlich friedlich. Aber es gibt das Gerücht, er sei an einer Weinbeere erstickt, dem Bolustod (da reizt ein Fremdkörper den am Kehlkopf gelegenen Vagusnerv und das Herz bleibt stehen) erlegen.

Seine thebanische Trilogie ist bis heute ein Meisterwerk, bestehend aus Antigone, König Ödipus und Ödipus auf Kolonos.
Antigone ist die Tochter von Ödipus und wird von dem thebanischen König Kreon lebendig eingemauert, weil sie ihren Bruder Polyneikes gegen Kreons Erlass bestatten wollte. Das ganze Drama führt zu einer Reihe Suiziden. So bringt sich Haimon um. Er ist der Sohn von Kreon und der Ehemann von Antigone. Er versucht seinen Vater davon abzubringen, Antigone zu bestrafen. Aber er scheitert. Als er von ihrem Tod erfährt, bringt Haimon sich um. Als schließlich Eurydike vom Tod ihres Sohnes Haimon erfährt, bringt sie sich auch um.
Es dürfte dies der Grund sein, warum Nietzsche die Griechen nicht für ein glückliches, heiteres Volk hielt, wie Goethe und Konsorten. Sei’s drum. Auch die beiden Ödipus-Stücke von Sophokles sind nicht gerade mit Heiterkeit und Spaß am Leben ausgezeichnet. Dem eigenen Sohn, einem Baby, die Füße durchstechen, zusammenbinden und das Kind dann im Gebirge bei irgendwelchen Hirten aussetzen, und das nur wegen eines Orakelspruchs. Also das ist nicht heiter. Laios, einer der häufig auftretenden bisexuellen Herrscher, verliebte sich in Chrysippos, den Sohn seines Gastes Pelops, lässt diesen entführen und bekommt daher beim Orakel die Weissagung, dass er vom eigenen Sohn abgemurkst wird, aber nicht nur das, der eigene Sohn würde dann auch noch seine Frau, also die Mutter, koitieren. So ein Kind kann man nicht lieben. Der Hirte, bei dem Laios das üble Kind abliefert, hat ja keine Ahnung. Er hat Mitleid mit dem verstümmelten Baby und bringt es zu einem befreundeten Hirten in Korinth. Dort kommt das Baby irgendwie in die Hände von dem Königspaar Polybos und Merope, die es adoptieren und ihm seinen mittlerweile berühmten Namen geben. Ödipus, wegen seiner geschwollenen Füße. In Korinth wächst der Junge auf, wird zum Mann und hat keine Ahnung, wo er herkommt. Auf einem Fest macht dann ein Betrunkener eine Andeutung.

Ich persönlich finde diese Stelle bedeutsam. Es ist ein Betrunkener, ein Vertreter von Dionysos, der die Geschichte zum Laufen bringt! Nietzsche hatte also nicht ganz unrecht, wenn er es als einen schweren Verlust an Wirklichkeit beklagte, dass uns das Dionysische verloren ging.

Ödipus befragt das Orakel und das sagt ihm die Wahrheit, er werde seinen Papi meucheln und seine Mami heiraten. Das war nicht lustig. Ödipus beschließt, weit, weit wegzugehen. Der Klassiker. Immer wenn das Orakel eine Äußerung über die Zukunft macht, versuchen die Protagonisten alles, dass das nicht geschieht und gerade deshalb geschieht es. So auch bei Ödipus, der auf seiner Reise, seiner Flucht vor dem Schicksal, an einer Kreuzung auf eine Kutsche trifft. Der Fahrer der Kutsche benimmt sich voll mies gegen Ödipus und Ödipus, ein junger, zorniger Mann, wird wütend und tötet den Fahrer. Er weiß nicht, dass der Fahrer der Kutsche sein Papi war, Laios. So wurde Laois von seinem eigenen Kind doch noch erschlagen, nur dass Laios es gar nicht wusste, als es passierte.  Vor den Toren Thebens begegnet Ödipus einer Sphinx. Klar, die stehen da oft so rum, um irgendwelche Touristen zu foppen. Egal. Jedenfalls, die Sphinx stellt ihre Frage, - wahrscheinlich schon ein wenig gelangweilt, weil es Nachmittag ist und schon mehrere von ihr getötete Touristen herumliegen. Niemand hat das blöde Rätsel bisher gelöst. Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen? Na wer? Der Mensch, am Anfang krabbelt er blöd auf allen vieren rum, dann rafft er sich auf zwei Beine, hat zwei Arme frei und erschlägt eine Zeitlang seine Mitmenschen damit, dann wird er alt und schwach und braucht einen Stock. Super gelöst. Bravo Ödipus! Die Sphinx schreit auf. Verflucht! Stürzt sich suizidal vom Felsen und stirbt. Theben ist befreit. Ödipus hat das Monster erledigt und wird zum König von Theben erhoben. Die Königinmutter bekommt er gratis dazu. Und das ist Iokaste. Mit seiner Mutter zeugt Ödipus dann vier Kinder. In Unwissenheit, dass sie verwandt sind. Poyneikes und Eteokles, Antigone und Ismene.

 

Nach Jahren der Verbannung kommt der greise Ödipus mit seiner Tochter Antigone auf den Hügel Kolonos in Athen, legt sich dort gemütlich in einen Eumenidenhain, der immerhin heilig ist. Der Chor bittet den alten Mann freundlich, sich zu verpissen. Ist hier heilig, kein Altenheim. Als der Chor auch noch erfährt, wer der Alte ist, nämlich ein Vatermörder und Mutterficker, fordert der Chor den alten Ödipus auf, sofort zu gehen. Ödipus jammert rum. Theseus kommt, der König von Athen, und behält den alten Mann erst mal als Gast. Weil er selber mal verbannt war und weiß wie man sich da fühlt.

Nebenbei: Theseus war lange bei den Griechen so gut wie nicht beachtet worden. Er wurde unter der Tyrannenherrschaft von Peisistratos und seiner Söhne im 6.ten vorchristlichen Jahrhundert zum Nationalhelden erst aufgebaut. Dazu bediente man sich einer anonymen Dichtung, die schlicht zum Epos ausgebaut wurde. Das zeigt ein weiteres Mal genau an, wie stark Dichtung in die sozialen und historischen Zwänge eingebunden ist. Dabei ist es wiederum anachronistisch faszinierend, dass die Muster dieser Dichtungen tiefer liegen und dadurch auch in sozial und historisch unterschiedlichen Epochen überleben bzw. ihre je eigene Rolle spielen.

Dann kommt Kreon, der König von Theben und meint, Ödipus könne wieder nach Theben zurück. Aber Ödipus bleibt lieber in Athen, weil es eine schlechte Weissagung gibt, sollte er nach Theben zurückkehren. Wie gesagt, Ödipus hat ja immer noch keine Ahnung und glaubt, das Orakel verhindern zu können, das längst eingetreten ist. Es kommen nun auch die Söhne von Ödipus, und meinen sie könnten für ihn Theben erobern. Aber Ödipus verflucht die beiden und sagt ihnen, sie würden sich gegenseitig meucheln. Seine Söhne waren nie für ihn da, im Gegensatz zu seinen Töchtern. Auch ein interessanter Zug bei Ödipus, dass er seine Töchter viel, viel lieber hat, als seine Söhne. Die beiden Söhne von Ödipus machen sich aus dem Staub. Der alte Ödipus sucht sich nun ein Versteck, wo er dann in Ruhe sterben wird, so dass seine Töchter ihn nicht finden und am Ende aus Gram ihm nachfolgen. Tja und dann kommt ja das Drama um Antigone. Ödipus auf Kolonos - dieses Mittelstück der Trilogie von Sophokles -wurde erst posthum aufgeführt. Aber man kann mit jedem Recht sagen, dass diese Trilogie einen enormen Einfluss auf die gesamte europäische Literatur hatte. Immerhin hatte man schon zurzeit von Aischylos und Sophokles den thebanischen Sagenkreis in schriftlicher Form vorliegen. Vermutlich hat ihn der Dichter Antimachos aus Theos um 750 v. Chr. aufgeschrieben und damit in Grundzügen festgelegt. Wir halten uns natürlich an die Ausformulierungen von Sophokles und lange an die Interpretationen von Aristoteles.

 

Der Tod der Tragödie

Euripides ist von der Sophistik und vom Zweifel an allem Götterglauben erfaßt - Grundwissen deutsche Literatur, Ernst Klett 1981.

Euripides, der jüngste der drei großen Tragödiendichter, ist 480 v. Chr. auf der Insel Salamis geboren worden. Seine Eltern mussten wohl im Rahmen der Perserkriege 480 aus Athen fliehen. Angeblich ist Euripides immer wieder nach Salamis gefahren und hat sich dort in seiner Höhle zurückgezogen. Diese Höhle des Euripides wurde 1997 von Archäologen entdeckt. Sie liegt im Süden der Insel. Die Archäologen fanden eine Trinkschale aus dem Jahr 430 mit dem Namen des Dichters. So ist es naheliegend, dass Euripides dort seine Dramen schrieb, oder einen Teil von ihnen. Euripides war zudem Fackelträger bei den Riten um den Gott Apollon Zoster (das hat ihm Nietzsche angekreidet). Und er soll Anaxagoras und Protagoras gekannt haben. Im Jahr 441 hat er erstmals die Dionysien gewonnen mit dem Stück „Der bekränzte Hippolytos“. Hippolytos ist der Sohn von Theseus und verehrt Artemis, die Göttin der Jagd. Das macht Aphrodite eifersüchtig und neidisch. Sie übt fiese Rache indem sie Phaidra, die Stiefmutter von Hippolytos verzaubert. Diese verliebt sich in ihren Stiefsohn. Der weist ihr Liebeswerben schockiert ab, worauf sich Phaidra umbringt. Aber – typisch Stiefmutter – sie hinterlässt einen Abschiedsbrief, indem sie behauptet Hippolytos habe ihr nachgestellt. Das macht Theseus super wütend und er verflucht seinen eigenen Sohn bei Poseidon. Der Meeresgott schickt ein Ungeheuer und das erschrickt das Pferd von Hippolytes, der beinahe zu Tode getrampelt wird. Während dieser Ereignisse taucht Artemis auf und klärt Theseus auf, wie es wirklich war mit seiner Frau und seinem Sohn. Theseus verzeiht seinem Sohn Hippolytos, der aber kurz darauf verstirbt. Hier sieht man schon die ambivalente Rolle des attischen Nationalhelden Theseus aufblitzen. Eine Art Verfall, eine Art Dekadenz zeigt sich darin.

Euripides war übrigens auch mit Sokrates befreundet. Und Sokrates ging immer zu den Veranstaltungen des Euripides, obwohl er kein Freund von solchen Aufführungen war.  Sokrates ist auch bei vielen anderen Denkern eine zentrale Schnittstelle. Zum Beispiel Karl Jaspers sah in Sokrates einen Protagonisten seiner Achsenzeit und den Beginn der eigentlichen Philosophie. Euripides starb 406 in Pella, der damaligen Hauptstadt von Makedonien. Der Sage nach wurde er irgendwo bei Thessaloniki von wilden Hunden zerrissen, womit man wohl liebevoll umschreiben wollte, dass in seinen Stücken die dionysische Ekstase eine Rolle spielte.

Berühmt ist sicher sein letztes Stück, die Iphigenie in Aulis, das er 406 noch vor seinem Tode verfasste und von seinem Sohn Euripides dem Jüngeren 405 v. Chr. an den Dionysien aufgeführt wurde.

Agamemnon ist gerade mit seinen Soldaten auf den Weg nach Troja, als eine Windflaute ihn in Aulis festhält. Aulis in Böotien ist ein Kultort für Artemis. So kann es nur weitergehen mit der fröhlichen Schifferlfahrt der griechischen Soldateska, wenn Agamemnon seine eigene Tochter Iphigenie an die Götter opfert. Iphigenie ist ohnehin grade unterwegs nach Aulis, um dort Achilles zu heiraten. Agamemnon schickt ihr einen Brief um sie zu warnen, den fängt nun sein Bruder Menelaos ab und stellt Agamemnon zur Rede. „Du Hund, wegen eines Weibes willst du die Ehre Griechenlands gefährden?“ Ein Bote meldet nun, dass Iphigenie grade mit ihrer Mama (Klytemnestra) und ihrem Bruder (Orestes) in Aulis eingetroffen ist. Plötzlich hat nun Menelaos Mitleid und will das Opfer verhindern, aber Agamemnon ist nun entschlossen, das Opfer durchzuführen. Brüder! Es wundert einen gar nicht, wo Kain und Abel diese Scheiße herhaben. Iphigenie freut sich derweil total, ihren Papa wieder zu sehen. Agamemnon und Iphigenie umarmen sich herzlich. Die Mama von Iphigenie, die Klytemnestra ist mit dem Bräutigam Achilles allein und erzählt dem Helden, dass sie von einem Diener erfahren hat, dass die ganze Hochzeit ein Fake ist, nur eine List, um Iphigenie nach Aulis zu locken, wo sie eben geopfert werden soll. Das macht den jungen Helden Achilles stinksauer und er will Iphigenie retten. Jetzt streiten sich Achilles und Agamemnon. Iphigenie beschließt dann – ganz treudoofe Frau – sich für Griechenland zu opfern.  Sie wird als Opfer geschmückt und geweiht. Ganz zum Schluss kommt die Überraschung. Ein Bote bringt die Nachricht, dass Artemis das Opfer persönlich verhindert hat und stattdessen eine Hirschkuh geschlachtet wurde.  Dieses Happyend mit Hilfe deus ex machina hat noch Friedrich Nietzsche zornig gemacht und er dachte, das sei eine elende Verschwörung zwischen Sokrates und Euripides, wider dem tragischen Geist der Griechen. Wie? Die Götter richten nur und belohnen nie? Und so setzte er an dieser Stelle eine Zäsur in der Zeit. Mit Euripides und Sokrates wurde Dionysos verraten zugunsten des vernünftelnden und herzensguten Hirtengott Apollon. So macht es durchaus auch Sinn, wenn man weiß, dass Euripides der Fackelträger der Feste für Apollon war. Dass er von Hunden zerrissen wurde ist dann eher als Rache des Weingottes zu sehen.

 

Goethe machte aus Aulis Tauris, also aus dem Land in Böotien wurde die Krim. Und aus der glücklich geretteten opferbereiten Iphigenie machte Goethe ein Ideal aus Pflicht und Neigung. Und Iphigenie löst bei Goethe den Konflikt selbstständig, braucht also kein deus ex machina. Aber allein ist es zu erwähnen, dass an der Schwelle zum bürgerlichen Drama Goethe die Antike noch einmal hochkarätig beschwor.

Aischylos, Sophokles und Euripides haben das Drama 2000 Jahre lang bestimmt. Erst mit dem bürgerlichen Drama im 18. Jahrhundert, mit den Dramentheorien des Diderot, oder Lessing, hat sich alles geändert.

Übrig blieb im Grunde nur noch die Idee der Darstellung.

 

 

 

ENDE

 

 

 


Der zehnte Beitrag 2024

 

vom 30. Mai 2024

 

 

Geburt der Komödie

 

Das Satyrspiel

 

Die Komödie hat sich in der Antike aus zwei Richtungen entwickelt. Oft wird ihr Ursprung im Satyrspiel gesehen. Diese Satyrspiele waren nur unstrukturierte Scherze und Possen. Das Wort „komos“ bedeutet Umzug und „ado“ bedeutet singen. Also war die Komödie ein von Satyrn angeführter singender Umzug. Bei den dionysischen Literaturfesten der attischen Demokratie gehörte zur Tragödie immer auch ein Satyrspiel dazu. Die Dichter schufen meist eine Tetralogie, das heißt, auf drei Tragödien folgte ein Nachspiel in Form eines mythologischen Singspiels. Satyrn sind Mischwesen, eine Art Dämonen, die dem Dionysos folgten. Sie wurden oft nackt, glatzköpfig und mit großem erigiertem Penis dargestellt. Sie waren das männliche Gegenprinzip zu den Nymphen. Vier bekanntere Satyrn waren Ampelos, Krotos, Marsyas und Silenos. Sie tauchten so etwa um das 7. Jahrhundert v. Chr. auf, also recht spät und sind im Grunde schon Verfallserscheinungen einer absterbenden mythischen Tradition. Die meisten schriftlichen Zeugnisse der Satyrn sind daher jüngeren Datums als die Satyrspiele selbst.

   Ampelos erscheint in einem Epos des Autors Nonnos von Panopolis aus dem 5ten vorchristlichen Jahrhundert. Er ist durch die Geliebte von Dionysos. Bei der Jagd reitet er einen Stier und stürzt runter, kommt dabei zu Tode. Zeus verwandelte Ampelos in den ersten Weinstock, den es gab, und Dionysos packte den Samen in einen Eselsknochen und konnte diesen Weinstock dadurch überall hin mitnehmen und verbreiten.

   Krotos war der Sohn des Hirtengottes Pan und ein guter Bogenschütze und als er starb, bat man Zeus, ihn an den Sternenhimmel zu setzen. Das tat Zeus als Sternbild des Schützen und macht aus ihm ein Mischwesen halb Pferd und halb Mensch, um seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit gleichermaßen darzustellen. Marsyas kennen wir von Herodot und später von Ovid. Er fand im Wald die Doppelflöte, die Athene angeekelt weggeworfen hatte, lernte auf ihr so gut spielen, dass er Apollo herausfordern konnte. Aber Apollo hat neben seiner Gitarre auch den Gesang und besiegte Marsyas im Wettstreit. Der Verlierer wurde von Apollo an einer Fichte aufgehängt und die ganze Haut abgezogen, so dass aus ihm der Fluss Marsyas entsprang. Ein ziemliches Massaker, das man dem sonst so freundlichen Hirtengott gar nicht zutraut. Silen wird auch von Nonnos von Panopolis erwähnt. Er war auch ein Sohn des Pan und der Lehrer von Dionysos. Er gilt als Trinker ebenso als Weiser. Ovid erzählt uns die Geschichte, wie Silen zu Gast bei König Midas war und ihm einen Wunsch freigab. Der berühmte Wunsch von Midas war, dass alles zu Gold werde, was er berührt. Midas verdurstete. In den Satyrspielen war Silen oft der Chorführer.

 

Leider gibt es kaum überlieferte Satyrspiele aus der Zeit der Dionysien. Eine ist „Der Zyklop“ von Euripides. Der große Tragödiendichter hat sich hier an Homers Odyssee bedient. Silen erzählt im Prolog, dass er und seine Satyrn auf der Suche nach Dionysos waren, dann aber Schiffbruch erlitten und auf der Insel der Kyklopen strandeten und als Diener des Polyphem dienen mussten. Dann strandete auch Odysseus mit seinen Gefährten und bietet dem Silen an, Wein gegen Essen zu tauschen. Bei der Verhandlung taucht Polyphem auf und beschuldigt Odysseus des Betrugs und der Silen gibt dem Polyphem sofort recht. In der Odyssee spielt die Haupthandlung in der Höhle. Das geht bei einem Drama nicht, weil das ja die Zuschauer nicht sehen können, also verlegt Euripides die Handlung vor die Höhle. Odysseus behauptet, in der Höhle seien zwei seiner Gefährten gefressen worden. Mit dem Silen schmiedet Odysseus nun einen Racheplan, wird aber von dem Silen betrogen. Immerhin gelingt Odysseus mit seinen Gefährten doch noch die Flucht, und der Chor der Satyrn hilft dabei, indem sie Polyphem verwirren.

    Man sieht, der Unterschied zur Tragödie ist das glückliche Ende für den Helden. Die Abenteuer sind dabei eben nicht tragisch, sondern komisch. Daher erzählt die Komödie nicht über Kriege und Fehden anderer Art.

 

Dorisch-sizilische Komödie

Schon etwas früher als die attische Komödie des Satyrspiels, gab es ab dem 6ten vorchristlichen Jahrhundert in Sizilien die dorisch-sizilische Komödie, die aus einem Erbe von Korinth hervorging.   

   Ein Hauptvertreter dieser Richtung ist der vermutlich 540 in Megara geborene Dichter Epicharmos. Er lebte in Syrakus und wurde von dem Tyrannen Hieron I. gefördert. Hieron I. hatte damals Sizilien unabhängig gemacht. Epicharmos war wohl mit Pythagoras befreundet. Seine Komödien waren tiefgründiger, als die alten Komödien (die eigentlich jünger sind) aus der attischen Demokratie. Bekannt ist Epicharmos wegen seiner weisen Sprüche wie zum Beispiel: Sterben will ich nicht. Aber tot sein achte ich für nichts.
Oder: Ein weiser Mann scheut das Bereuen. Er überlegt seine Handlung vorher.

     Bleib nüchtern und vergiss nicht, zu misstrauen!
Die Ruhe ist eine liebenswürdige Frau und wohnt in der Nähe der Weisheit.

    Sein Schüler war Sophron von Syrakus, dessen Stücke allesamt verloren gingen. Aber man weiß noch, dass Platon von ihm begeistert war und einige seiner Stücke nach Athen brachte. Dies dürfte wohl auch Euripides befruchtet haben zu einem etwas komplexeren Satyrspiel. Und später soll sie Einfluss auf die bukolische Dichtung von Theokritos gehabt haben. Theokritos gilt als Schöpfer des pastoralen Dramas.

    Bis in das 18. Jahrhundert blieb die Komödie immer ex negativo zur Tragödie, entwickelte also keine eigene Haltung.  Für Aristoteles war sie stets minderwertig, da die ausgelöste Freude als kathartische Wirkung nicht sehr tief ging und keinen pädagogischen Nutzen hatte.

 

Alte Komödie

Doch für die Dionysien war die Komödie sehr geeignet und ein großer Dichter hat sie in Eleusis, weiter vervollkommnet und das war Aristophanes, der 450 v. Chr. in Athen geboren wurde. Er hatte in Athen ein hohes Amt inne. Er sorgte dafür, dass das Feuer der Göttin Hestia stets brannte. Die Prytanen waren dafür zuständig. Hestia war eine Göttin der Familie und des Staatsherdes, also eine Art Familienministerium. Aristophanes starb 380 v. Chr. ebenfalls in Athen, wo er fast durchgehend lebte. Einige Male soll er auf Ägina gewesen sein, eine nahegelegene Insel, welche die Athener um 430 v. Chr. besiedelten.

Lystrata, die Wolken, die Frösche sind seine größten Werke. Sein Werk Lysistrata wird bis heute regelmäßig aufgeführt und hat nie seine mächtige Wirkung verloren. In dem Stück sind die Frauen unzufrieden, weil ihre Männer ständig Kriege führen. Daher besetzen sie unter Führung von Lysistrata die Akropolis, verweigern den Männern den Sex und stoppen die Kriegsfinanzierung. Dieses Motiv geht bis in die Hippie-Bewegung mit dem berühmten Spruch Make Love not war.

     Auch die Frösche sind voller politischer Anspielungen. Athen ist in einem miesen Zustand, politisch und kulturell im Arsch. Dionysos beschließt daher, mit seinem Diener in die Unterwelt zu reisen und dort einen bedeutenden verstorbenen Dichter wieder ins Diesseits zu holen. Die Überfahrt muss er allein machen, da Charon seinen Diener nicht ins Boot lässt. Der Diener muss zu Fuß gehen. Das ist eine ausgesprochen sozialkritische Passage der Komödie. Auf der Überfahrt wird Dionysos ständig von den quakenden Fröschen gestört. Daher kommt der Name des Stückes. Endlich angekommen stellt sich heraus, dass Aischylos einen Ehrenplatz an der Seite von Hades hat. Aber auch der inzwischen verstorbene Euripides tritt in Konkurrenz zu Aischylos. Die beiden treten in einen Wettstreit und Aischylos gewinnt. So darf Aischylos wieder auf die Erde. Hades bittet nun den Dionysos darum, die derzeit herrschenden Politiker und Dichter möglichst bald in die Unterwelt zu schicken.

     Das Stück „Die Frösche“ wurde 405 v. Chr. in Eleusis aufgeführt und gewann den Wettbewerb. Interessant ist, dass 410 die Oligarchen der 400 gestürzt wurden und die Demokratie wieder eingeführt wurde. Doch es gab immer wieder Unruhen. 405 ist das Jahr, in dem Athen gegen Sparta verlor und damit den peloponnesischen Krieg. Kurz darauf kam es zu einer prospartanischen Oligarchie in Athen, die Herrschaft der 30.

     Im Jahr 423 v. Chr. gewann Aristophanes mit seinem Stück „Die Wolken“ den ersten Preis bei den Dionysien. Ein Bauer erwacht mit seinem Sohn auf der Bühne. Aristophanes hatte dazu extra eine Art Fassade errichten lassen, die ein fiktives Gebäude darstellt. Es gibt davon leider keine Bilder, nur Vermutungen, wie es ausgesehen haben könnte. Jedenfalls der Bauer Strepsiades klagt darüber, dass er verschuldet ist und keinen Ausweg sieht, kommt aber dann auf die Idee, seinen Sohn Pheidippides in die Schule des Sokrates zu schicken, da könne er Jura lernen, also wie man die schlechte Sache vor Gericht vertritt. Erst hat sein Sohn keine Lust dazu und Strepsiades – obwohl alt und vergesslich – geht selbst zu Sokrates. Der liegt auf einer Hängematte, die eine Wolke darstellen soll. Sokrates meint, dass man nur einen höheren Geist bekomme, wenn man den Wolken näher ist. Die Wolken sind die neuen Götter, verkörperten „die Gedanken, Ideen, Begriffe, die uns Dialektik verleihen und Logik und den Zauber des Wortes und den blauen Dunst, Übertölpelung, Floskeln und Blendwerk“. Der Bauer aber erweist sich nicht gerade als gelehriger Schüler und so muss doch sein Sohn ran. Pheidippides soll nun zwischen zwei Lehren wählen. Der eine Lehrer vertritt die gute Sache, nämlich Selbstdisziplin. Der andere Lehrer vertritt die schlechte Sache, nämlich Genusssucht. Pheidippides entscheidet sich für die Genusssucht und vor Gericht gewinnt er damit sogar und sein Vater muss nichts zahlen, nicht einmal die Zinsen.

     Zuhause feiern die beiden ihren Sieg vor Gericht und betrunken fangen sie an zu streiten und Pheidippides verprügelt seinen Vater heftig. Er argumentiert, dass er damit nichts anderes tue, als ganz handfest jene „liebevolle Behandlung“ zu erwidern, die der Vater selbst „aus Lieb’ und Fürsorg’“ einst dem Kind angedeihen ließ.
Der Vater Strepsiades ist darüber derart verärgert, dass er die Schule des Sokrates komplett niederbrennen lässt. Damit endet diese Komödie gar nicht mal gut. Sie ist aber darin durchaus eine Ausnahme.

 

Die neue Komödie

Durch den Einfluss der Makedonier war Rede- und Gedankenfreiheit eingeschränkt. Man konnte nicht mehr nach Lust und Laune über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens spotten. Daher entwickelte man Persönlichkeitstypen. Ein neuer Komödientyp entstand. Sein Hauptvertreter ist der 342 v. Chr. in Athen geborene Menander. Er besuchte die Schule von Aristoteles unter der Leitung von dessen Nachfolger Theophrast. Er war auch mit Epikur befreundet, einem berühmten Philosophen der hedonistischen Schule. Menander starb 291 bei einem Badeunfall.

     Sein Werk „Dyskolos“ wurde 316 v. Chr. bei den Lenäen in Athen aufgeführt und gewann den ersten Preis. Darin schildert Menander einen Bauern, der mit seiner Tochter in einer Grotte lebt. Gegenüber wohnt sein Stiefsohn mit seiner Mutter. Sie haben den alten Bauern Knemon verlassen, weil er ein unerträglicher Ekel ist. Dyskolos übersetzt sich als Grießkram, auch als Menschenhasser, Misanthrop.
   Der Hirtengott Pan hat für Knemons arme Tochter eine Heirat eingefädelt mit dem reichen Sostratos. Doch der Stiefsohn Gorgias und seine Mutter Myrrhene glauben nicht recht daran, dass der alte fiese Bauer seine Tochter frei gibt. In Pans Grotte soll nun ein Opferfestmahl stattfinden. Da kommt die Dienerin des alten Bauern Knemon dahergerannt. Sie ist verzweifelt, weil ihre Hacke mit der sich auf Befehl des Bauern den Stall ausmisten soll, in den Brunnen gefallen ist.
    Bei dem Versuch, die Hacke selber aus dem Brunnen zu holen, fällt der alte böse Bauer Knemon selbst in den Brunnen. Gorgias und Sostratos retten den alten Bauern aus dem Brunnen. So wird dem Bauern klar, dass er ohne die Hilfe anderer nicht leben kann, und er gibt seine Tochter frei. Aber seinen Charakter wird er wohl nicht mehr ändern können.

    Es ist eine große Veränderung vorgegangen vom Satyrspiel zur alten Komödie bis zur neuen Komödie. Aus den Possen, Scherzen und Witzen wurde allmählich ein strukturiertes Stück, das vor allem Zeitgenossen karikierte. In der neuen Komödie wurde es noch ein Stück abstrakter. Nicht Zeitgenossen, sondern allgemeine Charakterzüge wurden dargestellt. Das schuf bereits die Grundlage für die Theaterformen des Barock.

 

 

ENDE

 

 

 


Der neunte Beitrag 2024

 

vom 15. Mai 2024

 

Wovon können wir sprechen?

 

Dass wir mehr wissen können, als wir sagen wollen, diese Tatsache scheint offensichtlich genug. Aber es ist nicht einfach, genau zu sagen, was es bedeutet. Nehmen Sie ein Beispiel. Wir kennen das Gesicht eines Menschen und können es unter Tausenden, ja sogar unter einer Million erkennen. Dennoch können wir normalerweise nicht sagen, woran wir ein uns bekanntes Gesicht erkennen. Der größte Teil dieses Wissens lässt sich also nicht in Worte fassen. So schrieb es der österreichisch-ungarische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi (1891–1976) in seinem Buch The-Tacit-Dimension. Unsere Sprache scheint also oft unzureichend für die Repräsentation der sinnlich erfahrbaren Welt. Die alten Griechen nannten das egestas verborum.  Diese „Armut der Sprache“, ein Stoßseufzer Ciceros, hat als Gegengewicht einen Exzess von Sprache, der jenseits allen sinnlich wahrnehmbaren Erscheinens im Wesentlichen aber unsere Welt durch formt. Durchsucht man kulturelle Symbolsysteme, kommt man aktuell kaum an der Erzähltheorie des 1922 in St. Petersburg geborenen Literaturtheoretikers Juri Lotmann vorbei. Denn Lotmanns Theorie kann uns erklären, warum wir einerseits mit der Ausdruckskraft von Sprache hadern, weil sie uns ungenügend erscheint, und andererseits geradezu explosiv mit Sprache umgehen, dass sie uns inflationär erscheint und in ihrer Vielfalt nicht mehr oder fast nicht mehr zu organisieren.


Man kann Lotmanns Erzähltheorie in vier wichtige Grundideen einteilen und sich auf diese Art in Lotmanns semiotischen Kosmos orientieren.

 

Lotmanns Semiosphäre

Nach dem Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand Saussure (1857–1913) ist Sprache ein System von Zeichen, die sich aufeinander beziehen. Während aber das Sprechen sich zum System verhält wie der Inhalt zum Trinkglas, wobei das Trinkglas das System ist (die Form) und der Inhalt eben im Sprechen (von Saussure parole genannt, während er das System langue nannte) sich zeigt. Die Semiosphäre ist bei Juri Lotmann eine Art umfassender Zeichenkörper, der mehrere solcher Sprachsysteme umfasst und jeweils einen Kern und eine Peripherie aufweist. Lotmann entfernte sich von den eher klassischen Raumkonzepten eines Behältnisraumes (Strömungen, Wellen, Ladungen) hin zu einer Schwellentheorie der Falten, Kerben, Furchen oder Raster. Am Rand dieses von Lotmann konzipierten Zeichenkörpers lösen sich die im Kern hegemonialen Deutungen und Bedeutungen der Zeichen mehr und mehr auf und transformieren in die nächste Sphäre. Die Schnittmengen in den sich kreuzenden Sphären liegen daher in der Peripherie und bilden im Grunde die eigentliche Sprache und Sprachtransformation ab, die den Kern füttert, der dann seinerseits verhärtet und sich hegemonial gebärdet.

 

Doppelcodes

Lotmann geht von einem anderen Kommunikationsmodell aus, das nicht auf der üblichen Ansicht beruht, dass ein Sender seine Nachricht codiert, und der Empfänger diese wiederum decodiert. Denn hier könnte man tatsächlich von einer bloßen Illusion identischer Codes für Sender und Empfänger sprechen. Moderne Gesellschaften haben Individuen ausgebildet, deren sprechender Zugang zu den Sprachsystemen von existenzieller Einzigartigkeit geprägt ist. Man könnte – etwas plakativ – sagen, niemand spricht so, wie es das Sprachsystem vorgibt. Diejenigen, die Informationen austauschen, verwenden – nach Lotmann – daher keinen gemeinsamen Code, sondern zwei verschiedene Codes, die sich teilweise überschneiden. Der kommunikative Akt ist so keine passive Übermittlung von Informationen, sondern eine Übersetzung, eine Neukodierung der Nachricht. Es gibt damit keine klaren Grenzen mehr. Es gibt auch keine Sicherheit, ob man den Sender überhaupt verstanden hat, oder die in seinem Sinne codierte Nachricht vom Empfänger auf einer völlig anderen Sinnebene decodiert wird und ein damit völlig anderer Sinn herauskommt. Diese Idee von Kommunikation – die tatsächlich der Wahrheit sehr nahekommt – macht unsere Welt der Zeichen zu einer kafkaesken Kuriosität. Eine sinnlose Nachricht für den Empfänger bedeutet nicht, dass sie für den Sender sinnlos war. Andererseits kann eine Nachricht für einen Empfänger plötzlich Sinn ergeben, obwohl der Sender sie ausdrücklich sinnlos codierte. Es ist also mehr als nur eine Unsicherheit zwischen Information und Rauschen – wie das Albrecht Koschorke in seinem Buch Wahrheit und Erfindung einordnete – sondern viel dramatischer und kurioser. Nun haben wir diese Semiosphären an der Peripherie und dort treffen unterschiedliche Codes aufeinander und es kommt zu ständigen, neuen Transformationen. Diese Wirbel, sprachliche Wirbelwinde, füttern den Kern von Kulturen, die sich dann in festen Institutionen wie zum Beispiel Verlagen, Fernsehsendern, Zeitungen, sozialen Medien (TikTok, YouTube, etc.) Infrastrukturen der Macht aufbauen, deren Zweck gar nicht Literatur bzw. Informationsvermittlung, Wissensvermittlung etc. ist, sondern ökonomischer Erfolg. Innerhalb dieser sprach systematisch als Ökonomie bezeichneten gemeinsamen Klammer gibt es wiederum die Spaltung von Kern und Peripherie. Nicht jeder Beitrag in YouTube ist kommerziell orientiert (nur die Plattform ist es), ebenso sind Autoren, die Bücher in kommerziell orientierten Verlagen veröffentlichen, nicht automatisch selbst kommerziell orientiert. Nur gestalten diese Institutionen im Kern das Sprachsystem, innerhalb dessen sich das Sprechen individuell transformieren will.

 

Es ist unter diesen grausigen Bedingungen ein regelrechtes Wunder, dass es überhaupt tolle Bücher, Romane, Gedichte gibt, wenn es nicht am Ende sogar ein Missverständnis ist.

 

Bildung und Zerfall von Kodes

Nach Lotmanns Erzähltheorie bauen sich permanent Kodierungen auf und ab. Bildung und Zerfall von Deutung und Bedeutung machen die Kommunikation aus. Es wäre unmöglich, zu kommunizieren, wenn diese beiden miteinander opponierenden Zustände nicht mehr wären. Für die Kommunikation zwischen Menschen in ihren Zeichensphären ist es zwingend, dass Bildung und Zerfall dieser Kodes gleichzeitig existieren. Das heißt, dass nur dann Verstehen entsteht, wenn gleichzeitig Unverständnis koexistiert. Individuelle Abweichungen innerhalb des großen Zeichenkörpers, in dem wir Menschen leben, sind für eine semiotische Varietät nötig und diese Vielfalt wiederum ist nötig, um die ganz am Anfang erwähnte egestas verborum (Armut der Sprache) auszugleichen. Ohne die Vielfalt durch Sinnverwirrung und so erforderliche Sinngestaltung wäre unsere Welt völlig unzureichend beschrieben und völlig lächerlich in den Semiosphären repräsentiert. Unsere Welt wäre als sinnliche Repräsentation nicht über ein paar grobe Striche hinausgekommen.

 

Resümee

Differenz von Kern und Peripherie, zwei unterschiedliche Codes von Sender und Empfänger, sowie Stimmengewirr und Unordnung, die daraus resultiert, ergeben zusammen den vierten Punkt, der Lotmanns Erzähltheorie so spannend und aktuell macht. Denn Ideologien operieren vom Kern aus, als ein dichtes Medium, das die Zeichen nicht einfach durchleitet, sondern auf die Übermittlung einwirkt, sie nach den eigenen Ansprüchen von Macht verändert. Vereinfacht gesagt: Zeitungen haben eine Redaktion, Verlage ein Lektorat, Fernsehsender ein Programm und so weiter.

Diese Machtgebilde sind anisotrope Räume. Damit meint Lotmann, dass ihre Ausbreitung nicht gleichförmig und wie die Sonne auf alle strahlt. Ideologische Machtzentren, die sich über die dichten Medien als eigener Code verbreiten, verbreiten sich eben uneindeutig und keineswegs immer so steuerbar, wie die Ideologen selbst gerne glauben bzw. sich einbilden. Schon allein durch die Medienvielfalt entstehen kulturelle Räume und permanente Transformationen des Sprechens, dass aufgrund des Stimmengewirrs an der Peripherie Nachrichten vom Kern auf eine Art und Weise decodiert werden, die nie so beabsichtigt waren, und strahlen dann zurück auf den Kern. In diesem Chaos entwickeln sich Erzählungen ohne Sinn zu höchster Sinnhaftigkeit und andersrum. Beziehungsweise ist der Sinn jeder Erzählung auf eine Art fragil, dass man sich wundert, dass sie formal nicht völlig enthauptet werden. So würde ich mit Lotmann weiter denken: Selbst das Sinnlose hat einen semiosphärischen Kern des Sinns und jeder Sinn kann sich in der semiosphärischen Peripherie auflösen oder zu einem ganz neuen Sinn transformieren oder völlig sinnlos werden. Dass sich Sprechen zu einem Sprachsystem verhärtet, das dann das weitere Sprechen dominiert, steht immer in Konkurrenz zu einem Sprechen, das sich vom dominanten Sprachsystem emanzipieren will. Die Grenzen verlaufen also nicht zwischen konservativ und progressiv, oder rechts und links, oder identisch versus alternativ. Diese politische Landkarte, die wir heute immer noch vorfinden, ist ein kurioser Anachronismus und längst hat sich das Sprechen der Meisten aus diesen alten Systemen gelöst. Es ist, wie Günther Anders es schon sagte, der Mensch ein antiquiertes Wesen. Und es geht sogar so weit, dass wir oft schon modern sprechen, während wir noch altmodisch denken.  Tatsächlich ist unser eigenes Sprechen (parole) in dauernder Spannung zwischen Anpassung an das Sprachsystem (langue) und Emanzipation bzw. inneren Widerspruch zum Sprachsystem. Denn wir unterscheiden uns als Menschen so sehr, wie wir uns ähneln.

 

 

 

ENDE

 

 


Der achte Beitrag 2024

 

vom 30. April 2024

 

 

Natur und Verstand –

 

eine unglückliche Mesalliance 

 

Sieht man sich die Kunstgeschichte an, die ganze Kunstgeschichte  – Gott bewahre, ich hätte sie im Ganzen je gesehen  – lässt sie sich in einem einfachen Antagonismus darstellen. Auf der einen Seite haben wir die Natur. Auf der anderen Seite die Ratio, also unseren diese Natur begreifenden Verstand. Und hier gibt es schon große Missverständnisse.

 
Naturalismus – Rationalismus sind die Begriffe dieses Antagonismus und sie bedeuten oft nicht das, was man glaubt, was sie bedeuten. Die Zeichnungen von Kindern und von Primitiven sind „rationalistisch“. Das ist die erste Überraschung. Sie sind nicht sensorisch, sie zeigen, was das Kind und der Primitive wissen, nicht, was sie tatsächlich sehen, sie geben ein theoretisch-synthetisches, nicht ein optisch-organisches Bild vom Gegenstand. Die Darstellung primitiver Kulturen, also die Darstellung der Hirtengesellschaften, der Ackerbau treibenden und Metall verarbeitenden Gesellschaften nach der neolithischen Revolution weist große Ähnlichkeiten auf mit der Darstellung der Wirklichkeit von kleinen Kindern bis etwa zum dritten, vierten Lebensjahr. So sieht man eine vereinfachte und stilisierte Darstellung bei Kindern ebenso wie bei den frühen neolithischen Kulturen. Die Komplexität der Formen wird reduziert, um die Essenz des dargestellten Objekts oder der Szene einzufangen. Das ist rationalistisch gedacht, da hier nicht die Wirklichkeit abgebildet wird, sondern ein Stil, ein Gedanke. Frühe Kulturen und Kinder verwenden symbolische oder ikonische Elemente, um bestimmte Konzepte oder Ideen darzustellen. Beiden (Kindern und Primitiven) fehlt die Perspektive, Objekte werden oft flach und ohne räumliche Tiefe dargestellt. Auch hier fehlt also Wirklichkeit. Es kommt in beiden Fällen zu einer Betonung der Linie: auffällige, deutliche Linien, um Formen zu umreißen und Details hervorzuheben. Die Linie wird oft als primäres gestalterisches Element verwendet. Ebenso gibt es den expressiven Ausdruck: Ausdruck von Emotionen und unmittelbare Verbindung zum Erleben und Empfinden. Nicht was ist, sondern was erlebt, empfunden, für das Subjekt bedeutend ist, wird dargestellt.

 

Also es wird zum Beispiel – das Profil nicht frontal, sondern von der Seite dargestellt, das biologisch oder motivisch Wichtige wird vergrößert und vernachlässigt alles, was für den gegenständlichen Zusammenhang keine direkte Rolle spielt.

 

In der älteren Steinzeit hingegen, im Paläolithikum, das etwa vor 2,5 Millionen Jahren bis etwa 10.000 vor Christus geht, begegnen wir regelrechten Bewegungsstudien, die uns beinahe schon an photographische Momentaufnahmen erinnern. Der Paläolithiker malt noch, was er unmittelbar sieht. Das wäre im Gegensatz zur rationalen und begrifflich orientierten Faktur ab der Jungsteinzeit, als Naturalismus zu bezeichnen. Also der Anspruch der Dichter im 19. Jahrhundert, die Dinge, gesellschaftlichen Verhältnisse, etc. so darzustellen, wie sie sind und nicht, wie man sie gerne hätte. Oder wie sie wahrgenommen werden in der ganzen Verfälschtheit subjektiver Wertung, sondern so, wie sie sind, dieser  – heute als naiv zu bezeichnende – Ansatz lässt sich also in den vorgesellschaftlichen Menschen erkennen.

 

Der Paläolithiker kennt diese kindlich rationale Darstellung eines Seitenprofils, ein Gesicht aus der Silhouette im Profil und den Augen en face zusammengesetzt, noch nicht. Das ist sicher ein wesentlicher Unterschied zu den Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Émile Zola oder Gerhard Hauptmann kannten die andere Seite des rationalen, bewertenden, deutenden Spektrums der Literatur sehr wohl.

 

In dieser Altsteinzeit gab es den Dualismus des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Gesehenen und des Gewußten nicht, das ist den Menschen dieser Zeit fremd. Hier im Urgrund es Mythos wird noch nicht gedeutet.-

 

Die Menschen waren Jäger und Sammler. Jäger und Sammler dieser Zeit waren unproduktiv, auf einer parasitären Wirtschaftsstufe, erbeuteten oder sammelten ihre Lebensmittel, erzeugten sie aber nicht. Vermutlich glaubten sie nicht an Götter, oder an ein Jenseits oder einem Dasein nach dem Tode (das ist in jüngster Zeit zwar umstritten, aber sicher war das Jenseits des vorgesellschaftlichen Menschen ohne feste Form).

 

Was bezweckten diese Darstellungen (Altamira, Lascaux) ? Dachte der Maler, in dem Bild das Ding selbst zu besitzen, mit der Abbildung Gewalt über das Abgebildete zu gewinnen? Glaubte er, dass das wirkliche Tier die am abgebildeten Tier vollzogene Tötung selber erleidet?

   Tatsächlich dürfte es sich nicht um symbolische Ersatzfunktionen gehandelt haben, sondern um richtige Zweckhandlungen, um wirkliches Tun, wirkliches Verursachen. Und diese atavistische Motivation steckt bis heute in jedem Kunstwerk.


Die Welt der Fiktionen und Bilder, die Sphäre der Kunst und der bloßen Nachahmung (Mimesis) wurde bei den vorgesellschaftlichen Menschen noch nicht unterschieden von der Erfahrungswirklichkeit. Es waren keine verschiedenen, keine voneinander geschiedene Bezirke.

Diese Sphäre der Unentschiedenheit verschwand dabei nie ganz. Sie kommt noch – unter anderem – in der Legende des Pygmalion vor, in der sich der König von Zypern in eine elfenbeinerne Statue der Aphrodite verliebt. Es ist die gleiche Statue, die er selbst geschaffen hat, und sie stammt aus dieser vorgeschichtlichen Gedankenwelt. Die ausführlichste Schilderung des Pygmalion findet sich bei Ovid (augusteisches ZA) in den Metamorphosen 10,243–297. Die früheste stammt von Phylostephanos aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert. Erstmals wurde sie von dem aus dem heutigen Libyen stammenden griechischen Dichter Philostephanos als Sage übermittelt. Die Geschichte selbst ist sicher schon um vieles älter. Aber das sei außen vor. Entscheidend ist der Inhalt, dass es einen verschmelzenden Übergang gibt von Kunst und Wirklichkeit, von der Natur zur Ratio. Es gibt die Utopie des unverstellten Blicks auf die Welt. Sie ahnt uns aus unserer Vorgeschichte an. Inwieweit wir heute fähig sind, die Natur ohne deutende und verzerrende Bias wahrzunehmen, das steht auf einem unbeschriebenen Blatt. Aber genau hier liegt die epistemische Grenze allen Seins. Und was würde unser Leben bedeuten, wenn es nur eine Fiktion ist? Und was ist da die Wahrheit, die Wirklichkeit?

 

 

 

ENDE

 

 

 


Der siebte Beitrag 2024

 

vom 15. April 2024

Maximale Quadratur

 

(Das Bild von Friedrich Hagemann zeigt den Philosophen Kant beim Anrühren von Senf).

Dreihundert Jahre nach Kants Geburtstag gelten die vier Sätze seines kategorischen Imperativs immer noch als Grenzmarkierung zur Barbarei.

Die Naturgesetzformel, dass die maxima propositio (oberste Regel) meiner Handlung durch meinen Willen zum allgemeinen Natur-gesetze werden sollte, da sei wahrlich Gott vor. Schon in dieser Hinsicht bin ich persönlich froh drum, nicht in einer solchen Lebensposition zu sein, in der mein Handeln einem Naturgesetz gleichkäme. Aber es gibt natürlich Menschen, die können einen Knopf drücken und eine Maschine in Gang setzen, die wie ein Naturgesetz auf uns wirkt. Tagtäglich sind wir mit diesen Auswirkungen konfrontiert. Die technische Komplexität unseres Daseins auszuhalten, erfordert schon übermenschliche Kräfte. Dazu noch all die Anstrengungen halbwegs unbeschädigt und nicht traumatisiert durch dieses Leben zu kommen, sind kaum noch zu erreichen. Und das in einer Welt, in der die Naturgesetze mein geringstes Problem sind. Vielmehr verursachen mir gerade jene Gesetze schwerste Traumata, die von Menschen gestaltet wurden, deren Handlungen tatsächlich zum allgemeinen Naturgesetz wurden. Und das ist wahrlich nicht schön. In dieser Hinsicht leben wir in einer barbarischen Welt.

Die zweite kantische Formel betrifft nicht die Naturgesetze, sondern die allgemeinen Gesetze des Menschen, also Recht und Ordnung. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Wer dieses „Allgemeine“ nicht denken kann, wer also nur nach seinen eigenen Gesetzen und nicht nach den allgemeinen Gesetzen handelt, der ist ein Barbar. Da wir Menschen evolutionsbiologisch nicht über unsere kleine Horde hinausdenken können, liegt allein in dieser kantischen Formel ein ganz eigenes kulturelles Unbehagen begraben. Kants Begriff von der „faulen Vernunft“, die derjenige anwendet, der nur seine Gesetze kennt und gleichzeitig so tut, als wären seine Gesetze allgemeingültige Gesetze, diese „faule Vernunft“ ist weit verbreitet und bestimmt den Lebenslauf fast aller meiner Mitbürger. Schon dies macht mich unendlich traurig. Denn die Menschen sind nicht dumm. Sie sind nur nicht fähig, aus ihrer evolutionsbiologischen Haut zu kriechen und sich eine Allgemeinheit vorzustellen, die so abstrakt ist wie die Vorstellung von einem schwarzen Loch im Universum. Allgemeine Gesetze werden hier durch die Demokratie ausgehandelt. Sie wechseln ständig und niemand versteht mehr, warum eigentlich. Das allgemeine Gesetz in dieser Formel von Kant ist zur Tagespolitik verkommen und bedient nicht die Allgemeinheit, sondern wechselnde Interessensgruppen. Das ist pure Barbarei.

 

Die dritte Formel von Kant ist die Menschheitszweckformel. Der Satz des kategorischen Imperativs von Kant lautet hier: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Diese Formel ist immerhin umsetzbar. Doch für die Agenten des Kapitals bin ich nur ein Endverbraucher und nur Mittel zur Bereicherung. Es ist eher ein Wunder, dass die produzierten Waren in ihrer Praxis auch einem Zweck dienen für die Menschen, denen diese Waren am Ende zum Verbrauch zugewiesen werden. Denn die Praxis der Produktion von Waren hat diesen Zweck nicht vorgesehen. Die Produktion von Waren dient allein einer Erhöhung der Rendite. Würden wir Menschen Scheiße fressen, würde der Kapitalist auch Scheiße produzieren. Tatsächlich ist das sogar der Fall. Bei den großen Marktführern der Nahrungsproduktion (Nestlé, Unilever) wird längst Scheiße produziert und verkauft. Für diese Firmen ist es nicht von Bedeutung, ob die produzierten Waren auch dem Endverbraucher Vorteile bringen. Sie produzieren diese Waren zur Vermehrung ihrer Rendite. Dazu kalkulieren sie lediglich, wie viel Geschmacksverstärker die produzierte Scheiße übertünchen und ob es sich lohnt, die Scheiße überhaupt noch zu parfümieren. Die kantische Formel so zu handeln, dass der Endverbraucher der parfümierten Scheiße aus den Supermärkten, auch etwas davon hat außer Diabetes zu bekommen oder ein metabolisches Syndrom, diese Formel erfüllen Nestlé und Co nicht. Dezidiert nicht. Auch andere Global Player im kapitalistischen Produktionshimmel interessiert es nicht im Geringsten, ob ihre bezahlenden Endverbraucher den Konsum dieser Waren überleben. Sie sind am Überleben der Endverbraucher nur interessiert, weil diese Leben ihre Rendite garantieren. So leben wir auch in unserem kapitalistischen Verbraucher-Himmel in luxuriöser Barbarei. Jeder tägliche Discounter-Besuch bestätigt diese Perversion. Dennoch lieben wir alle unsere Waren und umgeben uns mit ihnen so sehr, dass unsere Wohnungen aus allen kapitalistischen Nähten platzen. Der einzige Mangel unserer Gesellschaft ist der Mangel an Bescheidenheit. Es ist pervers. Was unsere Welt der Waren und des Tauschens betrifft, leben wir in tiefster Barbarei. Und da Geld den Alltag bestimmt, darüber bestimmt, wer ich bin, was ich bin und ob ich überhaupt sein darf, haben wir eine Form der Barbarei entwickelt, die geradezu dem Gegenteil der Menschheitszweckformel entspricht. Hier ist alles für die Menschheit unzweckmäßig. Das ist keine Behauptung, sondern belegt durch die aktuelle Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Diese Zerstörung der Erde ist ein Ergebnis unseres Wirtschaftens. Simpel.

Daher sind wir von Kants Endformel, so zu handeln, als ob wir durch unsere Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wären, so weit entfernt wie ein Stern in einer anderen Galaxie.

Dieses von Immanuel Kant beschworene allgemeine Reich der Zwecke ist keine Utopie im Sinne des goldenen Zeitalters. In dieser von Hesiod beschworenen Vergangenheit, als wir in Arkadien lebten, mit den Göttern befreundet von Sorgen befreit das Gemüte, fern von Mühen und fern von Trübsal; entrückt von jeglichem Übel, in dieser Vergangenheit war der Mensch nicht mündig und auch gar nicht fähig ein sittliches Wesen zu sein. Bei Hesiod heißt es weiter: Wie vom Schlummer bezwungen verschieden sie; keines der Güter missten sie; Frucht gab ihnen das nahrungsspendende Saatland gern von selbst und in Hülle und Fülle; und ganz nach Belieben schafften sie ruhig das Werk im Besitze der reichlichsten Gaben, wohl mit Herden gesegnet. Also ein kapitalistisches Schlaraffenland. Das war Arkadien. Aber das Ideal von Immanuel Kant ist nicht der naive und glückliche Mensch, der ohne Kummer und Sorgen in einem Garten wohlbehütet wie ein Kind lebt. Die Freiheit, die uns als Mensch vor allem auszeichnet, ist eine Freiheit von den kausalen Naturgesetzen. So frei zu sein bedeutet, sich sittlich selbst zu bestimmen. Aber wie lässt sich das – ohne totales Chaos auszulösen – für acht Milliarden Menschen (und es werden immer mehr, 2050 werden wir die 15-Milliarden-Grenze überschreiten), bewerkstelligen? Wie können wir ein Reich der Zwecke gestalten, in der jeder einzelne Mensch die Option hat, sittlich frei zu handeln? Gelingt dies nur unter Berücksichtigung der vier Formeln von Immanuel Kant? Und sind wir dann noch frei? Und jetzt, spätestens jetzt, sprengt es mir den Schädel und ich will nicht ein Wort mehr hören über Philosophie.

 

 

 

ENDE

 

 


Der sechste Beitrag 2024

 

vom 30. März 2024

 

 

Der Riesenmaulwurf – eine kleine Monografie

 

In seinem großen Verbreitungsgebiet nutzt er zahlreiche verschiedene Lebensräume, von Waldlandschaften über offene Gebiete bis hin zu Weiden und Parks und teilweise auch städtische Areale.

In der als Broschüre gedruckten Ausgabe von „ein Maulwurf, so groß wie ihn noch nie jemand gesehen hat“, gibt es eine sehr geschickte Zeichnung des Dorfschullehrers. Sehr präzise ausgearbeitet sind die Grabschaufeln des Maulwurfs, die wie eine breite Hand geformt sind, mit kurzen Fingern und langen Nägeln. Die Innenflächen der Schaufeln sind voller Falten und erwecken den Eindruck von tiefster Weisheit. Die ganze Gestalt dieses Tieres, das – wenn es sich erhebt – nach den Schätzungen des Dorfschullehrers eine Höhe von über zehn Fuß erlangen würde, erweckt im Betrachter große Gefühle der Ehrfurcht. Es ist unverständlich, dass die Schrift des Dorfschullehrers weitestgehend Gespött erntete und in Vergessenheit geriet. Angeblich – so hatten die Dorfbewohner damals einstimmig behauptet – sei es gar nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend, dass es etwas kräftigere Maulwürfe gebe als anderswo, da das Land für seine fruchtbare schwarze Erde bekannt sei. Der Dorfschullehrer wollte sich nur wichtigmachen und habe sich dadurch lächerlich gemacht.

 

Umso ehrenvoller erscheint mir daher die Arbeit eines Kaufmanns, eines Vertreters für landwirtschaftliche Geräte, dessen Forschungen allerdings dem gleichen Schicksal folgten, wie die des Dorfschullehrers. Während der Kaufmann von dem Dorfschullehrer nie erwähnt wurde, fand man im Nachlass des Kaufmanns Aufzeichnungen über Gespräche zwischen dem Dorfschullehrer und dem Kaufmann, die weiteren Aufschluss über die mögliche Existenz des Riesenmaulwurfs geben könnten. Diese – jüngst in einer kleinen zoologischen Zeitschrift nachgedruckten Aufzeichnungen des Kaufmanns, bestätigten allein durch die Genauigkeit der Schilderungen die Existenz des sagenhaften Tieres. Seine unterirdischen Bauten müssen gewaltig gewesen sein, wenn die Angaben des Kaufmanns wirklich stimmen. Aber genau darüber gab es einen Streit zwischen dem Kaufmann und dem Lehrer. Der Kaufmann behauptete, dass der Maulwurf auf der Grundlage der Berechnungen des Lehrers mindestens 15 Fuß hoch sein müsse, wenn er sich aufrichtet. Der Lehrer bestritt dies mit dem Argument, er habe den Maulwurf ja mit eigenen Augen gesehen, als dieser aus einem seiner Hügel herausgekrochen sei. Der Maulwurf sei sehr groß gewesen, aber so groß auch wieder nicht. Der Kaufmann dagegen konterte, dass das schon sein könne, aber seine anschließenden Aufzeichnungen und die Berechnungen der Hügel ließen für ihn – der sich in der Landwirtschaft wie zu Hause fühle – keinen anderen Schluss zu, als den, dass der Maulwurf ein wahrer Hüne unter seinen Vertretern sein müsse, also viel, viel größer, als der Lehrer angenommen habe. Es könne durchaus sein, so der Kaufmann, dass der Lehrer aus unterschiedlichsten Erwägungen heraus seiner eigenen Wahrnehmung nicht getraut habe und die Berechnungen ein tiefenpsychologischer Beleg für diesen Widerspruch. Oder wenn der Lehrer seinen Wahrnehmungen getraut habe, sich nicht getraut habe, dieser Wahrnehmung auch zu folgen, was ja offensichtlich verständlich ist, da der Spott und die offene Ablehnung seiner Maulwurfsschrift deutlich zeige, dass die Leute nicht bereit sind, einen solchen Maulwurf zu akzeptieren. Es sei so ein Beleg der Ehrenhaftigkeit des Lehrers, schmeichelte der Kaufmann, dass die schriftlichen Berechnungen des Lehrers in Gegensatz zu den Behauptungen des Lehrers wahr seien. Der Lehrer fasste diese Argumente des Kaufmanns nicht gerade freundlich auf. In einer kleinen Glosse der Dorfzeitung machte sich der Dorfschullehrer über die Annahmen des Kaufmanns lustig, der Maulwurf sei „größer als das Haus“ in dem er wohne. „Das ist lachhaft, so lachhaft wird es natürlich“, schrieb der Lehrer in der Glosse, „wenn sich ein Vertreter für Mähdrescher in die Wissenschaft einmischt.“ Weiter schrieb der Lehrer in der Glosse, dass „ein Vertreter für Mähdrescher bestenfalls Rechnungen verstehe, aber keine Berechnungen, höchstens sei er in seiner Selbstdarstellung berechnend, wie eben Kaufleute so sind.“

 

Der Kaufmann schrieb – in einem Brief an seinen Bruder, gefunden im bereits erwähnten Nachlass – dass er versuchte, eine Gegendarstellung in der Dorfzeitung zu veröffentlichen. Aber der Redaktionsleiter habe ihm dies verweigert mit dem Hinweis, dass er dem Lehrer nur deshalb erlaubt habe, diese Glosse zu drucken, weil er ihm von früher her noch etwas schulde. Der Redaktionsleiter der Dorfzeitung war Schüler des Dorflehrers gewesen. Der Kaufmann regte sich daher nicht ganz zu Unrecht über die Korruption auf, die, wie er schreibt „im Dorf herrscht, ja das ganze Dorf vollständig umschlungen hält und wie einen Maulwurfbau aushöhle.“ Diese Übertreibungen schickte er brieflich an den Dorfschullehrer, der daraufhin ätzte, „dass der Herr Kaufmann generell zu Übertreibungen neige, und infolgedessen auch die von ihm beschriebenen Berechnungen von der angeblichen Größe des Maulwurfs entsprechend übertrieben sein müssen.“ Dann schrieb der Lehrer noch bösartig dazu „man sollte daher auch seine von ihm angebotenen Mähdrescher für durchaus kleiner halten, als vom Herrn Kaufmann angepriesen“. Dieser Streit zwischen den beiden verstummte irgendwann ganz, allein, weil wirklich niemand mehr sich für den Riesenmaulwurf interessierte. Die beiden Streithähne wurden alt und schweigsam.

 

 Diese Auseinandersetzungen um den Riesenmaulwurf sind nun 100 Jahre alt. Die jüngste Veröffentlichung darüber in der zoologischen Fachzeitschrift war eigentlich nur eine Art Kuriositätenbericht eines gut gelaunten Wissenschaftshistorikers. Er hatte sich dabei nichts weiter gedacht und im gesamten Tonfall des kleinen Textes liest der geübte Leser den satirischen Tonfall heraus. Wie es dann zu der Schlagzeile in einer landesweit bekannten Zeitung kam „Riesenmaulwurf gesichtet“, das ist eine weitere Kuriosität. Vermutlich hat ein Journalist mehr oder weniger zufällig den Text des Wissenschaftshistorikers aus dem zoologischen Fachblatt aufgeschnappt und etwas recherchiert in dem Dorf, wo vor hundert Jahren dieser angebliche Riesenmaulwurf vom Dorfschullehrer gesehen wurde. Eins gab das andere. Einer der Dorfbewohner hat dann wohl dem Journalisten gegenüber behauptet, er habe auch schon mal einen gesehen. Eher aus Spaß. Welchen bäuerlichen Dorfbewohner juckt es nicht in den Fingern, einem aus der Stadt kommenden, dialektfrei sprechenden Journalisten, der offensichtlich einer Mär aufgelegen ist, die Mär noch mehr einzureden? Ein paar Dorfbewohner sollen später zugegeben haben, dass sie sich abgesprochen hätten, dem Journalisten Märchen zu erzählen. Aber wenn Märchen erst einmal in der Welt sind, gehen sie nicht mehr. Und der Riesenmaulwurf wurde immer lebendiger und größer. Auch die Schlagzeilen mehrten sich. Es kam zu einem „dark tourism“ in dem Dorf und immer öfter wurde der Riesenmaulwurf gesichtet. Die Vielzahl der Berichte von Augenzeugen und zahlreiche Belege von ziemlich großen Hügeln, die im Umkreis des Dorfes eindeutig zu bestaunen sind, bestätigen die Existenz des Riesenmaulwurfs. Es brauchte hundert Jahre, um ihn wiederzuentdecken. Und nach hundert Jahren wird nun der Dorfschullehrer zu einem Ehrenbürger des Dorfes ernannt und der Kaufmann bekommt eine eigene Straße. Sie sind nun die Helden des Dorfes. Lange vergessen und zu Unrecht vergessen, erinnert der Bürgermeister des Dorfes daran, dass das Dorf und seine Gemeinschaft immer schon hinter ihrem begnadeten Lehrer gestanden hätten und sehr, sehr stolz seien, darauf, dass noch heute Schüler von ihm im Dorfe leben. Einer medienkritischen Journalistin gelang es tatsächlich, einen Schüler des Dorfschullehrers ausfindig zu machen. Dieser lebte im Nachbardorf, war aber leider bereits hoffnungslos dement um noch als glaubwürdiger Zeuge über den berühmten Lehrer berichten zu können. Dennoch behauptete dieser alte Mann gegenüber der Journalistin, dass er selbst gemeinsam mit dem Lehrer bei einem Ausflug mit der Klasse, diesen Riesenmaulwurf gesehen hätte. Dabei machte er eine Geste, die seine Größe andeutete und ein wenig an den römischen Gruß erinnerte. Wie auch immer. Der Riesenmaulwurf wurde noch nicht gefangen und erste Überlegungen, mit größeren Baggern die unterirdischen Bauten des Riesenmaulwurfs auszuheben, entstanden. Das ganze Dorf drohte sonst, in den unterirdischen Riesenmaulwurfsgängen zu versinken. Daraufhin entstand eine Gruppe von Umweltaktivisten, die das Ausheben der Maulwurfsgänge des Riesenmaulwurfs verhindern wollte. Sie fanden auch die Unterstützung des Tierschutzvereins. Der Bürgermeister geriet nun erheblich unter Beschuss und es ist fraglich, ob er sich bei der nächsten Wahl wird halten können. Und das, obwohl er schon seit drei Wahlperioden unangefochten der Bürgermeister der Stadt ist. Über einen womöglich gar nicht existierenden Riesenmaulwurf politisch zu scheitern, hätte sich der Bürgermeister wohl auch nicht träumen lassen. Seit Monaten ist nun das Dorf in den Schlagzeilen. Man spricht von den Umweltaktivisten, vom korrupten Bürgermeister, von einer Krise der Bauern, einem ganzen Dorf, das zu versinken droht, von einem Stadt-Land-Konflikt in der Moderne, von der Politik die das Land vergisst und so weiter. Der Riesenmaulwurf indes, scheint ein weiteres Mal in die Vergessenheit zu geraten. Und seine Existenz bleibt drängend, aber fragwürdig. Wir bräuchten ihn, den Riesenmaulwurf. Dringend. Er fehlt in dieser so tragischen Zeit.

 

 

 

ENDE

 

 

 


Der fünfte Beitrag 2024

 

vom 15. März 2024

 

 

Das Gilgamesch-Epos

 

Der babylonische Orakelpriester Sin-leqe-unnini gilt allgemein als der Verfasser des Gilgamesch-Epos. Sin-leqe-unnini lebte vermutlich ca. 1200 vor Christus in der Stadt Uruk (heute im Süden des Irak gelegen). Doch war er nicht Verfasser des Epos, sondern eher ein Herausgeber, ein Kompilator, da sich der Text des Epos aus vielen Dialekten zusammensetzt. Die Geschichte des Epos handelt von Gilgamesch und seinen Abenteuern. Gilgamesch war ein sumerischer König altbabylonischer Zeit, so um 3000 vor Christus dürfte er geherrscht haben. Er wird in einer berühmten sumerischen Königsliste erwähnt. Aber seine reale Existenz gilt nicht als gesichert. Er wurde auch als Gott, vor allem als Totengott verehrt.

 

Das Epos selbst ist eine Textsammlung von 12 Tontafeln in Keilschrift. Diese Schrift zählt – neben den ägyptischen Hieroglyphen - zu den ältesten Schriftsystemen und reicht bis 4000 vor Christus zurück. Die Schrift wurde bis 100 nach Christus benutzt. Das Gilgamesch-Epos galt bis dahin als eine Art Ausbildungstext für Priesteranwärter, war aber schon zur Epoche der Assyrer (ab 900 vor Christus) einer breiteren Bevölkerungsschicht nicht mehr vertraut.


Wieder entdeckt wurden die Tontafeln im späten 19. Jahrhundert in Ninive, einer Stadt im Osten des Irak. Dort fanden bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert Ausgrabungen statt. Man fand Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Bibliothek mit 25.000 Tontafeln, die Bibliothek von König Assurbanipal. Dieser König lebte im 7. Jahrhundert vor Christus und war ein Herrscher über das assyrische Reich, das sich zu seiner Zeit über Ägypten bis Nubien ausdehnte.


Bei den Übersetzungsarbeiten des Epos zeigte sich, dass der Text aus verschiedenen Schrift-Fragmenten zusammen gesetzt war, aus akkadischer, hurritischer und hethitischer Zeit. Die Akkader (herrschten 2500 vor Christus in Mesopotamien und lösten die Sumerer ab) übernahmen die Keilschrift der Sumerer. Vor allem die Tafel XII ist in dieser Schrift verfasst und wurde den anderen elf Tontafeln angehängt. Man könnte diese Tafel als eine Art Ur-Gilgamesch bezeichnen. Allerdings veränderten die Akkader die anfänglich auf Piktogrammen beruhende Keilschrift zunehmend in eine Silbenschrift. Die Hurriter siedelten an der nördlichen Grenze Mesopotamiens, verwendeten aber weder eine semitische noch eine indogermanische Sprache. Dennoch spielten sie bei der kulturellen Vermittlung der Keilschrift an die Hethiter eine wichtige Rolle. Die über 500 Jahre später kommenden Hethiter brachten eine indogermanische Sprache mit und verwendeten die sumerische Keilschrift ebenfalls. Aber so veränderte sich die Bedeutung der Silben ein weiteres Mal.

 

Damit reicht das Epos bis ins 3. Jahrtausend vor Christus zurück. Das Gilgamesch-Epos zählt so zu einer unserer ältesten Schriftzeugnissen und ist vermutlich das älteste literarische Zeugnis. Doch bis heute ist die Übersetzung sehr lückenhaft.

 

Die Stadt Uruk bildet den Rahmen der Geschichte von Gilgamesch.  Gilgamesch baute die Mauern von Uruk. Er errichtete die Mauer von Uruk-dem-Schafspferch, des heiligen Eanna (Haus des Gottes Anu, A.d. A.), des reinen Schatzhauses. So wird es auf Tafel I/12 erwähnt. Deutsche Ausgrabungen von 1912 legten die Ruinen frei und man kann dort noch die Ausmaße erkennen. Die Mauer hatte eine Länge von 9 Kilometern und umschloss fast 6 Quadratkilometer Stadtgebiet. Die Stadt wurde auch als „Schafspferch“ bezeichnet, da wohl die Schafzucht ein wichtiges Handelsgut dieser Zeit war. Die Menschen teilten sich die Stadt also mit einer Menge Schafen.

 

Gilgamesch herrschte in Uruk als brutaler König, der seine Untertanen zur Feldarbeit zwang und für sich das ius primae noctis in Anspruch nahm, das Recht auf die erste Nacht mit einer neuen Braut. Es gilt als erstes Zeugnis dieser bis ins 14. Jahrhundert gebräuchlichen Tradition, dass ein Herr den Frauen seiner Untertanen beiliegen darf. Sogar Georg Orwell erwähnt dieses Recht in seinem dystopischen Roman 1984: „Es gab auch etwas, was das Jus primae Noctis genannt wurde, was wahrscheinlich nicht in einem Lehrbuch für Kinder erwähnt worden wäre. Es war das Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jeder Frau zu schlafen, die in einer seiner Fabriken arbeitete.“

 

Die Frauen wehrten sich gegen den brutalen Herrscher Gilgamesch. Gilgamesch war zu zwei Drittel göttlich und riesig von Gestalt. Er tyrannisierte die Stadtbewohner.

 

Vor allem, weil die Männer nach ihrer Feldarbeit so erschöpft waren, dass sie ihre Pflicht als Mann nicht mehr erfüllen konnten, wendeten sich die Frauen an die Göttin Ischtar (Tochter von Gott Anu und eine kriegerische Göttin der sexuellen Liebe) und klagten darüber. Ischtar empfahl ihnen, den in der Steppe lebenden Menschen Enkidu als Hilfe. Enkidu lebte außerhalb der Stadt mit den Tieren, er fraß wie sie das Gras, war vollständig behaart und nicht zivilisiert. Aber er war so kräftig wie Gilgamesch. Doch Enkidu musste erst zivilisiert werden, damit er den Stadtbewohnern helfen konnte. Ein Jäger konnte ihn einfangen und man beauftragte die Dirne Schamschach damit, Enkidu beizuwohnen. Sie zeigte sich dem wilden Menschen in all ihrer Üppigkeit und nackt. Enkidu verfiel ihren Reizen und schlief sieben Nächte lang mit ihr. Danach flohen ihn die Tiere, weil Enkidu nach Mensch roch. Die Dirne Schamschach gab Enkidu Bier und Brot, das Enkidu nicht kannte. Danach kleidete sie ihn ein, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Stadt Uruk. Dort stellte sich Enkidu in seiner ganzen Gestalt vor das Tor eines Hochzeitsfestes und verwehrte Gilgamesch den Eintritt. Der darauf folgende Kampf endete unentschieden. Gilgamesch war beeindruckt und brachte den starken Enkidu zu seiner Mutter Ninsun. Diese adoptierte Enkidu und so wurden Gilgamesch und Enkidu Brüder.

 

Gilgamesch beschließt, dass er sich einen Namen machen will und da er mit Enkidu einen Begleiter hat, der sich außerhalb der Stadt auskennt, verlässt Gilgamesch mit Enkidu die Stadt Uruk und sie wandern zum Zedernwald, zum Zwillingsgebirge des Libanon. Sie treffen auf Chumbaba. Er war eine Art Dämon, von dem Wettergott Adad als Wächter des Zedernwaldes eingesetzt. Es kommt zum Kampf. Tatsächlich kann Gilgamesch den Dämon überwinden. Der gefangene Dämon bittet nun Gilgamesch um Verschonung, verspricht ihm zu dienen, wenn er ihn nicht tötet. Doch Enkidu überredet Gilgamesch, ihn dennoch zu töten, denn der Dämon würde sonst seine sieben Auren anlegen und dann wäre er unbesiegbar. Die „Sieben Auren (Gewänder) galten vermutlich als magischer Schutz, die seinen Träger unsichtbar machten. Gilgamesch schwankt. Enkidu bleibt hart und schließlich zieht Gilgamesch sein Schwert und enthauptet Chumbaba. Enkidu reißt dem Dämon das Herz aus der Brust. Danach verwüstet Gilgamesch im Siegesrausch den gesamten Zedernwald. Enkidu ist über diesen Vandalismus entsetzt.

 

Beide kehren nun mit dem abgeschlagenen Haupt des Dämons in die Stadt zurück. Sie werden gefeiert. Auch die Göttin Ischtar ist begeistert und verliebt sich in Gilgamesch, bietet sich ihm als Ehefrau an. Doch Gilgamesch lehnt ab. Warum sollte ich dich heiraten? Du bist ein Frost, der kein Eis frieren lässt, eine unfertige Tür, die Wind und Zug nicht abhält, ein Palast, der die eigenen Krieger erschlägt … heißt es im Text. Ischtar ist daraufhin beleidigt und rennt weinend zu Enlil, dem Vater aller Götter. Sie beschwert sich bitter und fleht den Göttervater an, er möge ihr den Himmelsstier geben, damit dieser Gilgamesch tötet. Der Himmelsstier ist vermutlich mit dem Sternbild Tauris (Stier) assoziiert.

 

Der Himmelsstier kommt tatsächlich und tötet mehrere hundert junge Männer, ehe Gilgamesch ihn gemeinsam mit Enkidu fängt und töten kann.  Das ist eine ausgesprochen coole Schilderung. Denn Gilgamesch trinkt in Ruhe sein Bier aus, ehe er sich dem Kampf mit dem wütenden Stier stellt.

 

Die Götter verhängen über Gilgamesch und Enkidu die Todesstrafe wegen der Tötung von Chumbaba und dem Himmelsstier. Doch der Sonnengott Schamasch protestiert. Daraufhin beschließen die Götter, Gilgamesch zu verschonen und nur Enkidu zu töten.


Nach dem Tod seines Freundes und Bruders trauert Gilgamesch lange. Er versteht nicht, was geschehen ist und er bekommt Angst, dass auch er sterben wird wie sein Freund und Bruder. Gilgamesch fasst den Beschluss, Utnapischtim zu besuchen. Utnapischtim ist ein Held aus der Zeit vor der Flut und der einzige Überlebende der Sintflut. Von ihm will Gilgamesch erfahren, wie er den Tod überwinden kann. Doch er wird enttäuscht werden. Gilgamesch ist sterblich. Seine Aufgabe wird es sein, die alten Kulte aus der Zeit vor der Sintflut zu bewahren und so die Verbindung der Menschen mit den Göttern zu erhalten.

 

Nach altbabylonischer Vorstellung teilte sich die Zeit in eine Zeit vor der Flut und nach der Flut. Die ab der Tafel IX einsetzenden Erzählabschnitte erinnerten den ersten Übersetzer des Gilgamesch-Epos, den Briten Georg Smith (übersetzte 1872 als erster das Epos), an die biblische Erzählung vom Garten Eden und der Sintflut.

Sumers Weltsicht mit Details findet sich auf Tafel XII im Epos Gilgamesch und Enkidu. Das sumerische Weltbild wird auch ausführlich im Atrahasis-Epos erläutert, das sind drei Tontafeln aus der Zeit um 1800 vor Christus. Zwischen diesem und dem Gilgamesch-Epos gibt es diverse Schnittstellen. Daraus lässt sich das Weltbild der Sumerer rekonstruieren.

 

Unsere Erde liegt tief unter Wasser in einer Art kosmischem Urozean, der einen Ring um die ganze Erde bildet. Der obere Teil des Ozeans  bildet eine Atem-Luftblase. Dort liegen auch die Gebirge des Libanon und Zagros. Sie sind die Stützen des Süßwasser-Himmels. Ein Tunnel ermöglicht es dem Sonnengott Shamash, des Nachts trockenen Fußes von West nach Ost zu eilen. Dort am Sonnenaufgang liegt die Insel Dilmun (ein paradiesisches Land, vermutlich die Insel Bahrain), auf der der am Tod seines Freundes Enkidu verzweifelnde Gilgamesch den später Noah genannten Uta-napišti und das Kraut der nur dem göttlichen Lebensphänomen eignenden Unsterblichkeit aufspürt. Technisch wichtig sind die oben im Himmelsrund eingelassenen Schleusentore, durch die die in der Kunst des Bauens von Anlagen zur Bewässerung äußerst bewanderten Götter ihren Garten Eden mit Regen zu bewässern wussten, aber eben auch die Sintflut entfesselten.

 

Auf Tafel XI wird die Geschichte des Wunderkrauts der Unsterblichkeit erzählt. Eröffnen will ich dir, Gilgamesch, eine geheime Sache, und ich will dir ein Geheimnis der Götter sagen: Es gibt eine Pflanze, deren Aussehen wie ein Dornstrauch ist, ihr Dorn ist wie der der Rose, und sie wird dich stechen. Wenn deine Hände diese Pflanze erreichen können, wirst du durch sie deine Lebenskraft wiedergewinnen …. Gilgamesch sprach zu ihm, zu Ur-schanabi, dem Schiffer, diese Pflanze ist die Herzschlagpflanze, mit der ein Mensch seine Lebenskraft wiedergewinnt. … Diese Pflanze will Gilgamesch nun nach Uruk bringen und einem Greis geben, der so wieder jung werden wird. Doch eine Schlange roch den Duft der Pflanze, kam lautlos herauf und trug die Pflanze davon.

 

Dieses tief schürfende Epos aus den Anfängen der Zivilisation erzählt uns nicht nur von einer intensiven Männerfreundschaft, er erzählt uns auch den Anfang unserer Kultur, die neolithische Revolution durch die Landwirtschaft, das Epos erzählt uns auch etwas über den Tod und seine Bedeutung für den Menschen.

Bier, Brot und Kleidung machten den in der Steppe mit den Tieren lebenden Enkidu zu einem zivilisierten Menschen. Die gemeinsamen Abenteuer in der Steppe, in der Wildnis erzählen uns den Prozess der Wandlung. Die Welt außerhalb der Stadt galt als dämonisch und Enkidu tötet mit Gilgamesch den Dämon der Wildnis. Das Fällen der Zedernbäume wird hier als eine neue Technik erwähnt.


Die Auseinandersetzung mit der Sexgöttin Ischtar könnte die Wandlung vom Matriarchat ins Patriarchat darstellen.
Fast 5000 Jahre ist der Text nun alt und kann immer noch begeistern. Die Kraft der Schrift ist in diesem Epos immer spürbar. Es ist faszinierend, dass man ohne allzu große Vorkenntnisse diesen Text lesen und verstehen kann.

Der österreichische Literaturwissenschaftler Raoul Schrott erzählte das Epos nach und ergänzte die Lücken kongenial. Doch sind diese Ergänzungen in der Fachwelt umstritten.

Für Liebhaber dieses Textes sei noch ein Comic von Jens Harder zu empfehlen. In großartigen Bildern hat der Zeichner das Epos nacherzählt. Abgerundet wird der Comic mit einem Nachwort von Raoul Schrott.

Hier noch ein Link zu einer Rezension des Comics.

 

http://www.comicradioshow.com/Article3484.html

 

 

 

 

 


Der vierte Beitrag 2024

 

vom 29. Februar 2024

 

 

Der Mythos von den spartanischen Dioskuren

und ihren messenischen Vettern

 

Zum Sehen geboren / zum Schauen bestellt / dem Turme geschworen / gefällt mir die Welt. (Faust II, V11290).

Lynkeus, der luchsäugige, ist eine zentrale Figur im zweiten Teil von Goethes berühmtem Faust-Drama. In der griechischen Mythologie ist er der Bruder von Idas. Beide waren sie Teilnehmer eines berühmten Seeabenteuers, der Argonautenfahrt. Diese Seefahrt führte eine Reihe der größten Helden Griechenlands unter Führung von Jason bis nach Georgien in das sagenhafte Land Kolchis. Dort würden sie das goldene Fell eines merkwürdigen Widders finden. Ein Widder, der sprechen und fliegen kann. Das ist aber eine andere und lange Geschichte, die uns von Apollonios von Rhodos erhalten blieb, der etwa 300 vor Christus das Epos Argonautika verfasste, bzw. aus dem bereits vorhandenen mythologischen Wissen in vier Büchern zusammenstellte.

Beginnen wir die Geschichte von Lynkeus (bei Goethes trägt er den Beinamen, Der Türmer) zunächst bei der Großmutter von Lynkeus. Das war Gorgophone. Sie ist die Tochter von Andromeda und Perseus. Andromeda war eine äthiopische Prinzessin. Ihre eigene Mutter wollte sie an ein Seeungeheuer verfüttern. Perseus rettete sie und heiratete sie.

Gorgophone wurde selbst zur Gorgo-Töterin ausgebildet. Darauf deutet schon ihr Name, der sich darauf bezieht, dass Perseus der Gorgone Medusa das Haupt abschlug (kurz bevor er auf seinem Rückweg Andromeda befreite). Auch dies ist eine andere Geschichte. Medusa war die sterbliche Geliebte des Meeresgottes Poseidon und sie war abgrundtief hässlich, hatte Schlangen auf dem Kopf statt Haaren. Sie war also ein Meeresungeheuer. Selbst der Anblick ihres abgeschlagenen Hauptes verwandelte ganz Serophos und ihre Bewohner in Stein und bis heute kann man diese unbewohnte Kykladeninsel und ihre in Felsen verwandelten Bewohner (südliche Ägäis) bewundern.

 

Lynkeus Großmutter Gorgophone, hatte mit ihrem ersten Ehemann Pereieres (er war Prinz von Messenien, in der südlichen Peleponnes gelegen) zwei Söhne, Aphareus und Leukippos.

 Sie war dann die erste Frau (laut Ilias 3, 236), die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal heiratete, nämlich Oibalos, den König von Sparta. Sparta lag in Lakonien, einem unmittelbaren Nachbarort von Messenien. Das waren eigentlich zwei rivalisierende Orte, südlich unterhalb von Arkadien gelegen.

Diesem zweiten Ehemann Oibalos gebar Gorgophone zwei weitere Jungs, Tyndareus und Ikarios. Tyndareus heiratete die aus Arkadien stammende Leda und ist so der Vater von Helena. Wir wissen aus der Mythologie, dass Leda von Zeus verführt wurde und Helena in Wahrheit die Tochter von Zeus ist. Ein Kuckuckskind vom Feinsten.
Sein Bruder Ikarios gilt der Sage nach als Begründer des Weinbaus, indem er den herumwandernden Gott Dionysos freundlich aufnahm und dieser ihm diese Kulturtechnik stiftete.

So sind Lynkeus und Idas die Söhne von Aphareus aus Messenien (Peleppones).
Kastor und Pollux wiederum sind die Söhne von Tyndareus von Lakonien (Sparta).
Aphareus nahm sich die Schwester seines Halbbruders Tyndareus zur Frau (Arene, später bei Homer eine antike Stadt unter dem Einfluss von Nestor).

Die beiden Brüderpaare Lynkeus/Idas und Kastor/Pollux erlebten gemeinsam viele Abenteuer und stets war Helena ihr leuchtender Stern in der Mitte. Sie jagten gemeinsam den kalydonischen Eber, suchten das goldene Vlies mit Jason.

 

Von Idas wird berichtet, dass er sich eine Jungfrau namens Marpessa raubte. Doch kaum in Messenien angekommen schnappte sie sich Apollon (Hirtengott). Idas war darüber so erzürnt, dass er schon seine Pfeile auf den Gott abschießen wollte. Doch Zeus verhinderte das in letzter Sekunde. Die von Apollon dem Helden Idas geraubte Braut Marpessa sollte nun selbst entscheiden, wen sie wählt. Sie wählte den Sterblichen Idas. Die Umarmung eines Gottes hätte sie nämlich nicht überlebt. Der Mädchenraub war eine übliche Form der Hochzeit. Helena selbst wurde zum ersten Mal im zarten Alter von 12 Jahren entführt. Der berühmte Held und König von Athen Theseus entführte sie nach Athen. Ihre Brüder (Kastor, Pollux, Idas und Lynkeus) befreiten sie von dort und so wurde Helena schließlich mit Menelaos, dem damaligen Prinzen von Sparta, verheiratet. Die Geschichte ist dann aus der Ilias weitestgehend bekannt.

 

Der Streit zwischen den beiden Zwillingspaaren ging los, als Kastor und Pollux die Töchter des Leukippos raubten. Diese Töchter waren allerdings den messenischen Zwillingen Idas und Lynkeus versprochen.


Als nun die Troer als Gäste bei Menelaos waren, der inzwischen König von Sparta war, stritt sich das Brüderpaar heftig über die alte Geschichte mit dem Brautraub der Töchter des Leukippos. Eigentlich waren sie beauftragt, während der Feier auf Helena aufzupassen. Menelaos wusste ja schon, wie gerne Helena entführt wird.

 Zuerst verließen Kastor und Pollux das Festgelage, um Rinder zu jagen, die sie dem Leukippos schenken wollten. Kurz darauf verließen auch die Brüder Idas und Lynkeus das Fest. Auch Menelaos war abgelenkt. Nur so konnte die Entführung Helenas durch Paris überhaupt gelingen. Man hatte sich schlicht nicht um sie gekümmert, sie schutzlos zurückgelassen.

 

Lynkeus und Idas kletterten auf einen Hügel des Taygetos und Lynkeus erspähte Kastor, sagte es seinem Bruder Idas und der warf seinen Speer und tötete den überraschten Kastor. Pollux jagte nun die beiden messenischen Brüder und stellte sie am Grabmal ihres Vaters Aphareus. Idas und Lynkeus rissen den Grabstein aus der Erde und schleuderten ihn auf Pollux, dieser warf im Fallen noch seinen Speer und traf damit Lynkeus tödlich. Bevor der Grabstein Pollux treffen konnte, schleuderte Zeus seinen Blitz und tötete damit Idas. Pollux rannte zu seinem sterbenden Bruder Kastor und flehte Zeus um Hilfe an. Zeus war gerührt und gewährte den Brüdern ein gemeinsames Jahr, ein halbes Jahr im Olymp (Pollux war ein Unsterblicher / Sohn von Leda und Zeus) und ein halbes Jahr in der Unterwelt (Kastor war ein Sterblicher / da durfte mal Tyndareus ran). Hauptquellen dieser Story sind Homer (Ilias), Thukydides (Historien) und Pausanias (Beschreibung Griechenlands).

 

So haben sich die spartanischen Jungs Kastor und Pollux einen Platz im Himmel verdient. Denn sie sind die hellsten Sterne im Sternbild Gemini und daher auch die Namensgeber dieses Sternbildes. Da die Zwillinge auf der Ekliptik liegen, ziehen Sonne, Mond und die Planeten durch das Sternbild. Die Sonne durchläuft die Zwillinge gegenwärtig vom 21. Juni bis zum 21. Juli. Legt man die heutigen Sternbildgrenzen zu Grunde, befand sich der Sommerpunkt von 15 v. Chr. bis 19. Oktober 1989 n. Chr. in diesem Sternbild.

Abwechselnd im Hades und im Olymp ihre Tage fristend, gaben sie auch die Psychologie für diejenigen, die unter dem Sternzeichen Zwilling zur Welt kommen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, kennt der Zwilling Höhen und Tiefen des Daseins.
Dass sie Brudermörder sind, ging dann etwas unter in der verwirrenden Familiengeschichte der Götter und Helden.


Der von ihnen ermordete Lynkeus wird nicht nur deshalb von Goethe wiederbelebt. Als Turmwächter und Haussklave seines Entrepreneurs, Faust beobachtet Lynkeus den Untergang der Alten Welt, (bis zur Wurzel glühn die hohlen / Stämme, purpurrot im Glühn / Was sich sonst dem Blick empfohlen / mit Jahrhunderten ist hin, Faust II V11335).

 

 

 

ENDE

 

 

 


Der dritte Beitrag 2024

 

vom 15. Februar 2024

 

 

Die Lehrer von Thomas Mann

 

Der berühmte deutsche Schriftsteller Thomas Mann kam 1875 in Lübeck zur Welt. Wir feiern ihn im nächsten Jahr 2025 ganz sicher, denn da würde er 150 Jahre alt werden. Durchaus ein Grund, schon einmal vorauszublicken, bzw. zurück. Welche Haltung vertrat der Autor der Buddenbrooks, des Zauberbergs, des Doktor Faustus? Wie lässt er sich intellektuell, geistig einordnen?
Um Thomas Mann besser zu verstehen, ist es unerlässlich sich mit drei großen Männer zu beschäftigen: Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Sie dienen als Grundlage für das Verständnis des Werkes von Thomas Mann.

 

Schopenhauer

 

Der 1788 in Danzig geborene und 1860 in Frankfurt am Main verstorbene Philosoph Arthur Schopenhauer ist gewiss eine Ausnahme unter den Philosophen, da sein Einfluss auf die Kunst so enorm war: Von Richard Wagner bis Thomas Mann, aber auch Sigmund Freud, C.G. Jung, Samuel Beckett, Tolstoi, Thomas Bernhard, Arno Schmidt, Jorge Luis Borges, Stanislaw Lem, August Macke, Kurt Tucholsky, und zuletzt Michel Houellebecq.

 

Was machte seine Philosophie so attraktiv für die Kunst?

 

Zunächst ganz knapp und unterkomplex Schopenhauers Grundlage: Die Welt wird von ihm in Wille und Vorstellung unterteilt. Wobei wir den Willen selbst nicht mehr wollen können. Sigmund Freud würde diesen Willen als Trieb bezeichnen. Etwas, das uns von unten heraus antreibt. Die Vorstellung ist wörtlich gemeint als das vor uns Gestellte, der Gegenstand. Dazu zählt auch unser Körper, unsere Sinne etc., die Schopenhauer in der vierfachen Wurzel des zureichenden Grundes genauer darstellt. Das sind einmal Raum und Zeit, dann unsere Sinne die all das wahrnehmen, und unsere Vernunft, die das dann interpretiert. Zuletzt wissen wir davon durch unser Selbstbewusstsein. So wird alle Erkenntnis immer nur mittelbar stattfinden können. Um mit Goethes Schlusssatz seines Faust zu schreiben: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Wir sind vergänglich und doch entstehen wir immer wieder neu. Das ist Schopenhauers Wille zum Leben. Dieser Wille liefert uns mehr oder weniger aus. Während wir sind in, unserer Vergänglichkeit, verrichten wir lediglich eine Übersetzungsleistung. Und das ist natürlich eine Steilvorlage für die Kunst, aber auch für die Psychologie. Schopenhauers grundlegend pessimistische Sicht der Welt, die er aus seinen vielen Reisen mitbrachte, übersetzte er als eine Forderung von der Abkehr von der Welt. Nicht zuletzt seine orientalistische Sicht fördert diese Abkehr von der Welt. Schopenhauer übersetzte als erster die indische Nationalschrift der Baghavad-Gita ins Deutsche. Alles Leben wird von Trieb und vom Egoismus bestimmt und dieser bedingungslose Wille lässt eine von der Vernunft gesteuerte Welt am Ende nicht zu. So bekennt er sich zu den vier Grundwahrheiten des Buddhismus:

 

1.dukkha (Das Leben im Daseinskreislauf ist leidvoll),

2. samudaya (Verlangen nach Leiden ist der Ursprung des Leidens),

3. nirodha (durch das Erlöschen des Verlangens erlischt der Ursprung des Leidens)

4. magga (der Pfad der Ausübung von Konzentration und Meditation).

 

Die Vita contemplativa Schopenhauers resultiert aus diesem Pessimismus, nichts ändern zu können. Wir können es unterschiedlich übersetzen, ja. Aber das ist nur ein Kleid, eine Verkleidung des Seins. Im Grunde bleibt die Welt sich immer gleich in einem ewigen Werden und Vergehen. Und das Beste, was man hier tun kann, ist es, sich von diesem Werden und Vergehen abzuwenden und aus diesem dauernden Rad des Schicksals auszusteigen.

 

Richard Wagner

 

Der 1813 in Leipzig geborene und 1883 in Venedig gestorbene Komponist und Schriftsteller Wilhelm Richard Wagner lernte im Herbst 1854 “wie ein Himmelsgeschenk” Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung kennen. So kam es dann, wie bei vielen anderen vor und nach ihm, zum großen Schopenhauer-Erlebnis. Am 16. September 1854 schrieb Wagner an Liszt: „Sein (Schopenhauers) Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er natürlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat mir ihn erst dieser Philosoph.”

 

In seinem Essay Leiden und Größe Richard Wagners aus dem Jahr 1933 – diesem für Thomas Mann so bedeutenden Essay, weil es einen Schicksalsschlag begründete – schreibt er über Wagners Verhältnis zu Schopenhauer:

   „Die Bekanntschaft mit der Philosophie Arthur Schopenhauers ist das große Ereignis im Leben Wagners; keine frühere intellektuelle Begegnung, etwa die mit Feuerbach, kommt dieser an persönlicher und historischer Bedeutung gleich: denn sie bedeutete höchsten Trost. tiefste Selbstbetätigung, geistige Erlösung für den, dem sie in so vollkommenem Sinne ´zukam`. und sie hat ohne Zweifel erst seiner Musik den entfesselnden Mut zu sich selbst gegeben. Wagner glaubte wenig an die Wirklichkeit der Freundschaft; die Schranken der Individuation, die die Seelen trennen, machten in seinen Augen, nach seiner Erfahrung, die Einsamkeit unüberwindbar, volles Verstehen unmöglich. Hier (in Schopenhauers Philosophie) fühlte er (Richard Wagner) sich verstanden und verstand vollkommen: `Mein Freund Schopenhauer` - ´Ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit` - ´Aber einen Freund habe ich`, schreibt er, ´den ich immer von neuem lieber gewinne. Das ist mein alter, so mürrisch aussehender und doch so tief liebevoller Schopenhauer!“

 

Nun: Richard Wagner und der 25 Jahre ältere Arthur Schopenhauer waren Zeitgenossen. Beide wussten voneinander, doch kam es zu keiner persönlichen Begegnung. In seiner Autobiografie Mein Leben berichtete Richard Wagner, dass Arthur Schopenhauer sich “bedeutend und günstig über meine Dichtung” ausgesprochen habe. Das mag für Wagners “Dichtung” gelten, aber nicht für seine Musik, denn hierzu äußerte sich Schopenhauer gegenüber einem gemeinsamen Bekannten: „Sagen Sie ihrem Freunde Wagner in meinem Namen Dank für die Zusendung seiner Nibelungen, allein er solle die Musik an den Nagel hängen, er hat mehr Genie zum Dichter! Ich, Schopenhauer, bleibe Rossini und Mozart treu!“

 

Friedrich Nietzsche

Der 1844 in Röcken (Sachsen-Anhalt) und 1900 in Weimar verstorbene Philologie und Philosoph Nietzsche machte Schopenhauer zu seinem Lebensprojekt, seinem Erzieher. Doch im Gegensatz zu Schopenhauers Pessimismus setzte Nietzsche auf den Willen zur Macht und auf einen radikal-optimistischen Vitalismus. Statt das Leben zu verneinen – wie der Nihilist Schopenhauer – bejahte Nietzsche diesen Willen zum Leben. So wie das Nietzsche in seinem neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse ausdrückte:

   „Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte.“

Diesen Gegensatz brachte Nietzsche in seiner Schrift Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zum Klingen. In dem Gegensatzpaar Apollo und Dionysos, dem Gott der Erkenntnis, der Klarheit und des Maßes (Apollo war ein Hirtengott in Arkadien im goldenen Zeitalter) und dem Gott des Rausches, der Verzückung und eben des Unmaßes und auch der Wiedergeburt. Dionysos wurde von den Titanen getötet und Zeus brachte die Asche zu Apollo, wo er in einem rauschhaften Fest immer wieder auferstand. Aus der Asche des Dionysos und der Titanen soll das Menschengeschlecht geschaffen worden sein. Dieser Gegensatz von Maß und Unmaß, Erkenntnis und Rausch (Vergessen, auch Lethe wird als Mutter des Dionysos genannt) sieht Nietzsche in Wagners Musik als Wiedergeburt der griechischen Tragödie erneut vereint, feiert Wagners Musik als Geburtshelfer einer neuen Urwillenskraft der Kunst. Nachdem Sokrates und Euripides die griechische Tragödie intellektualisiert hatten (nach Nietzsche), war die alte Dissonanz zwischen dem rauschhaft und naturhaft Entgrenzenden des Dionysos und dem in Form pressenden und damit alles ursprüngliche Leben herauspressendem apollinischem Ordnungs- und Harmoniedrang, wieder da. Der Künstler der Dekadenz (des Niedergangs, des Verfalls) kennt kein ursprüngliches Gefühl mehr, nur noch ein alles umfassendes, gelangweiltes, Déjà-vu. Alle Gefühle sind bereits Literatur. Es gibt kein unverfälschtes Erlebnis mehr. Doch Wagner, so der 27 Jahre junge Philologe Nietzsche, sei mit seiner Oper der Erneuerer der griechischen Tragödie, in der sich die Einheit dieser Zweiheit synthetisch kundtut. Es ist diese Erneuerung als Wiedergeburt des Ursprünglichen, die Nietzsche feiert und als radikalen Vitalismus dem Pessimismus Schopenhauers entgegensetzt.


1888 erscheint in „Der Fall Wagner“ Nietzsches letztes selbst veröffentlichtes Buch. In diesem Text bezeichnet Nietzsche Wagner nur noch als seine Krankheit, von der er geheilt wurde. Da sich Wagner nur noch in der Götterdämmerung, dem Untergang als Erlösung ausdrückt, sieht Nietzsche den Künstler Wagner als Künstler der Dekadenz. Der Niedergang, der Verfall war Nietzsches Sache nicht. Er hatte sich ja vom Pessimismus Schopenhauers gelöst und sah sehr wohl eine Ursprünglichkeit und Lebensbejahung als möglich an. Das heißt eine Konklusion von Wille und Vorstellung, als ein ursprüngliches Erlebnis des Daseins.

 

Anstößig könnte man den Abstand zwischen erstem und zweitem Proszenium nennen, den Wagner als mystischen Abgrund bezeichnete. Das verdeckte Orchester sollte die Bühnenillusion verstärken, indem jede Ablenkung von der Bühne und die „widerwärtige Störung durch die stets sich aufdrängende Sichtbarkeit des technischen Apparates“ verhindert wurde. Die „Idealität“ der Szene sollte von der „Realität“ des Publikums geschieden sein, um die Zuschauer „in den begeisterten Zustand des Hellsehens“ zu versetzen. Damit wird das ganze zum Schauspiel, unehrlich, verlogen, raffiniert, kurz dekadent.

 

Thomas Mann im Spiegel seiner Lehrer

 

   „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“ So beschreibt Nietzsche in Der Fall Wagner dessen Musik und Theatralik. Als

   „Ausgepichte Teufelsartistik“ beschreibt Thomas Mann Wagners Musiktheater in seinem Essay Ibsen und Wagner und meint damit die Detailversessenheit Wagners. Thomas Mann nimmt also Nietzsches Kritik an Wagner auf und formt daraus eine Schreibanleitung für sich. Gerade aus der Kritik Nietzsches an Wagner lernt Thomas Mann, seine eigene Technik zu perfektionieren. Er wendet die Methode des Leitmotivs an, die Wagner auszeichnete, er wendet eine besondere Form der Illusion an, indem er die Montage-Technik auf die Spitze treibt. Thomas Mann ging so weit, den Abschiedsbrief seiner Schwester Carla in seinem Roman Dr. Faustus nahezu unverändert einzumontieren.

 

Gleichzeitig gibt er sich selbst keinerlei Illusion hin; und das markiert die besondere Ironie der Mann’schen Erzählhaltung. Immer wieder entlarvt der Erzähler all das, bricht der Intellekt, der Geist den Lebenswillen durch übermäßiges Kommentieren der Figuren. Heute wirken die Figuren gelegentlich wie hingestellt. Schon Bruder Heinrich hat dies kritisiert und schrieb über die Figuren seines jüngeren Bruders „alles nur Statisten“. Worum es Thomas Mann aber eigentlich ging, war die Erkenntnis, dass dieser Widerspruch von Geist und Leben nicht mehr zusammen geht. Lediglich über die Geisteshaltung der Ironie wird das möglich. Literaturhistorisch hat diese Ironie weitergelebt in der Literatur der Postmodernen einerseits (da aber konstruktivistisch gebrochen und nur noch intellektualisiert) und andererseits mehr das Sinnliche betonend im magischen Realismus der südamerikanischen Literatur. In einem Kommentar zu seinem einzigen Theaterstück (Fiorenza, Askese von Savonarola gegen den weltlichen und kunstsinnigen Lorenzo d‘ Medici) schreibt Thomas Mann:

   „Es hat niemals einen durchaus naiven, niemals einen durchaus sentimentalischen Dichter gegeben (Einteilung von Friedrich Schiller, https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_naive_und_sentimentalische_Dichtung) – die Worte in ihrer reichsten und tiefsten Bedeutung genommen. Denn der Dichter ist die Synthese selbst. Er stellt sie dar, immer und überall, die Versöhnung von Geist und Kunst, von Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit (1912).“

 

Der Dichter liefert also eine Synthese von reinem Gefühl und der Darstellung von Gefühlen. Es gibt nicht nur die Darstellung, sondern in jeder Darstellung ist immer auch Gefühl mit vorhanden.

In seinem Vortrag / Essay über Richard Wagner, der Thomas Mann seine deutschen Bürgerrechte kostete, schreibt Thomas Mann:

   „Jede Kritik, auch die Nietzsche`s, neigt dazu, die Wirkungen einer Kunst als bewußte und berechnende Absicht in den Künstler zurückzuverlegen und die Idee des Spekulativen zu suggerieren – sehr fälschlich, ganz irrtümlich und gerade, als ob nicht jeder Künstler genau das machte, was er ist, was ihn selber gut und schön dünkt -, als ob es ein Künstlertum gäbe, dessen Wirkungen ihm selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkungen auf ihn, den Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort sein, das auf eine Kunst anwendbar sei, – der Künstler ist unschuldig. (Leiden und Größe Richard Wagners)“

 

Der unschuldige Künstler!

 

Weiter schreibt er in diesem berühmten Essay über den Begriff der Bürgerlichkeit:

„Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen berechnete und erzielte, die ihm selber ein Spott, denen es selbst überlegen wäre und die nicht zuerst auch Wirkungen auf ihren Urheber wären, ein solches Künstlertum gibt es nicht. Und daraus folgt, daß die objektiven Wirkungen eines Künstlers, auch die breite bürgerliche Wirkung Wagners, immer für sein eigenes Sein und Wesen beweisend sind.“

 

Diese Verteidigung der versteckten Quellen und die Verheimlichung des Gemachten in der Kunst lassen sich als romantische Ironie der Göttlichkeit des Künstlers als Schöpfer deuten. Letztlich wird ihn das Thema nie ganz verlassen und der Vorwurf seines Bruders Heinrich, dass seine Figuren nur „Schatten, nur Statisten“ seien, saß immer tief. Und das Problem ist ja bis heute erhalten geblieben. Es ist mehr in den Bereich der Psychologie abgerutscht. Heute sprechen wir von einem authentischen Verhalten, von Kongruenz. Und wenn man nun bewusst authentisch ist, wie authentisch ist man denn da noch? Wie gut spielen wir unsere Rollen in der Gesellschaft? Und wie erst konstruieren wir diese Rollen in der Kunst? Es geht in diesem Diskurs um Inhalt und Form des Kunstwerks.

 

Wenn man einen Château Margaux 1787 aus einem Plastikbecher trinkt, dann liegt die dekadente Würze dieses Tuns sicher nicht am Wein. Inhalt und Form mengen sich zu einer hochprovokanten Aussage. Und Goethes berühmter Spruch

   „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters besteht darin, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, bekommt eine hinterhältige Bedeutung. Wenn man dagegen einen Domkellerstolz von seiner Plastikflasche in ein edles Zwiesel-Glas schüttet, ist dann die Dekadenz dieser Handlung nicht vom Wein abhängig? Noch verwerflicher, wenn man den Domkellerstolz auch noch degustiert? Als notorischer Biertrinker hätte ich nicht die geringste Chance, diesen Betrügereien auf die Schliche zu kommen. In der Form liegt die Täuschung. Damit ist der Meister im Sinne Goethes ein Betrüger. Wertfrei gesehen, kann man auch zum Wohle anderer betrügen, ohne Egoismus schöne Werke (Form) schaffen, die dennoch Betrug sind. Die große Gefahr besteht darin, dass der Betrug auffliegt. Und dazu sagte Thomas Pynchon trefflich:

   „In der Arglosigkeit der Kreatur liegt die Amoral des Meisters.“  

Die Amoral des Meisters? Wenn man den Inhalt nicht mehr aus der Form lösen kann, wie kann man ihn dann noch erkennen? Thomas Mann würde darauf antworten: Sollte man schlechte Bücher schreiben? Nur um den Inhalt besser sehen zu können? Den Arglosen zur Hilfe?

Das könnte man weiter diskutieren. In der Kunst ist das Thema nicht mehr so aktuell. Dennoch: Vor Jahrzehnten begannen postmoderne Kunsttheorien zu lehren, dass Authentizität und die davon abgeleiteten Kategorien wie Originalität, Echtheit, Ursprünglichkeit oder Unverfälschtheit bloßes Konstrukt seien. Aneignung, Kopie, Reenactment (bloß nachgestellt), Simulacrum und das Spiel mit der Fälschung sollten den Begriff der Authentizität überwinden. Bis heute hat dies auf die akademische Ausbildung und die Imagepflege der Kunstschaffenden oder die Entstehung ökonomischer Werte von Kunst allerdings kaum Auswirkungen gehabt. In der bildenden Kunst macht gerade die Zunahme der Anrufung von Authentizität die Krise des Realitätsbegriffs wahrnehmbar. Dadurch hat der Authentizitätsbegriff eine definitorische Unschärfe erhalten.

 

In seiner Rede 1933 setzt hier auch Thomas Manns Kritik an Wagner und dem Selbstverständnis der Nationalsozialisten an. Thomas Mann bekämpfte die Nazis in der Weimarer Republik nicht als Linker, sondern als Nationalkonservativer, der die Einheit von Griechenland und Moskau von Marx und Hölderlin wollte. Deutschland war für Thomas Mann die Mitte, die unpolitische Ästhetik. Thomas Manns Hauptkritik an Wagner geht denn auch in diese Richtung. Der nationalsozialistische Wagnerismus strebte die „totale sinnliche Illusion“ an, die Aufhebung der Wirklichkeit im Theater. Und das ist es, was auch den Nationalsozialismus als quasiromantische aus der Spätromantik pervertierte Bewegung ausmacht. Notfalls muss man die Wirklichkeit abtöten. So wurde der Zweite Weltkrieg zu einer Art Bühne, zum Theater, zum Höllentheater. Thomas Mann kritisierte an diesem Kunstverständnis vor allem, dass es nicht möglich ist. Man kann die Wirklichkeit nicht ausblenden. Das rauschhafte Erleben ist eine Illusion. Thomas Mann kritisierte dieses Rauschhafte (Dionysische) an der Kunst, die Aufhebung von Geist und Reflexion. Das nur Sinnliche führt letztlich in die Barbarei! Deutlich ausgeführt wird dies im späten Roman des Doktor Faustus. Die ambivalente Haltung Thomas Manns zu Wagner, der ihn quasi herunterstuft zum bloßen creative director, zum Lehrmeister der Methoden, wie man Illusionen schaffen kann, der aber den gewaltigen Anspruch Wagners, die Hierarchisierung der Kunst, ablehnte und ironisch reflektierte, das waren Ungeheuerlichkeiten.

 

Hans Knappertsbusch (Dirigent, geboren 1888 in Wuppertal, gestorben 1965 in München) initiierte nach diesem Wagner-Vortrag von Thomas Mann einen öffentlichen Protest, den neben 40 anderen namhaften Künstlern unter anderem Hans Pfitzner (deutscher Dirigent und wichtiger Kulturpolitiker der Nazis) und Richard Strauss unterschrieben und der im Münchner Merkur veröffentlicht wurde. Knappertsbusch war kein Mitglied der NSDAP, er wurde sogar als „politisch unzuverlässig“ eingestuft und 1935 als Direktor der Münchner Oper abgesetzt, Knappertsbusch stieß den Führer selbst des Öfteren vor den Kopf. Aber als ehemaliger Assistent von Siegfried Wagner (Festspielleiter Beyreuth) war er ein glühender Wagnerianer. Und was Thomas Mann da gesagt hatte, das ging gar nicht. Man muss sagen, das war ein willkommener Anlass für die Nazis. Ein Dossier über Thomas Mann gab es schon länger. Insofern ist die Kritik von Thomas Mann noch 19. Jahrhundert, noch durch und durch romantisch. Die Nazis waren aber Realisten. Sie haben die Leute besoffen gemacht, um ihnen die Seele zu stehlen. Und es ist Ironie des Schicksals, dass gerade Wagner und Thomas Manns Verhältnis zu Wagner dazu führte, dass Thomas Mann ins Exil musste. Gerade sein Wagner, sein tiefes Verhältnis zu Wagner lässt ihn an Deutschland scheitern.

 

 

ENDE

 

 

Der zweite Beitrag 2024

 

vom 30. Januar 

 

Streifschuss:

vom 09. Dezember 23

 

Anlass: 

eins und eins ist Merzahl

 

 

 

Der Dung in der Bildung

 

Deutschland ist pleite und was man nun gar nicht gebrauchen kann, sind auch noch dumme Kinder. Vor allem – oh Wunder – können unsere Kinder nicht rechnen. Jetzt sind die Politiker etwas ratlos. Denn sie erkennen selbst: Woher sollen die Kinder das lernen? 100 + 100 ist eine Million Sondervermögen. Das lernen die Kinder von TikTok. Und wie man sich korrekt schminkt. Die wenigen Mathe-Lehrer zerbeißen sich an der Trigonometrie aus dem 17. Jahrhundert die Lippen beim Versuch, sie den Pubertierenden beizubringen. Es gibt auch intelligente Kinder. Sie haben reiche Eltern, die rechnen können. Die Rechnung der reichen Eltern geht so. Wenn ich clever bin, kann ich die armen Leute ausnehmen und am besten kürzen wir noch deren Sozialbezüge und verwandeln diese in Firmenzuschüsse, damit die Wirtschaft wächst, und ansonsten scheißen wir auf den Planeten und den Rest der Welt. Und so wird die Armut ausge-Merzt. Wegschauen. Eine Merziade. Und das einzige, was den Verantwortlichen dazu einfällt, ist der Spruch „wir können uns die Bildungskrise nicht mehr leisten“. Die Bildungskrise wird nur noch als ökonomisches Desaster betrachtet. Der Mangel an Bereitschaft, sich anzustrengen, um Wissen zu erwerben wird analog verglichen mit dem Kontostand der Eltern. Das ist die eigentliche Bildungsmisere in diesem Land. Wissen wird nur noch als Wissen verkauft. Hat man genug Geld, kann man sich ja das Wissen kaufen. Es ist logisch und eine kluge Entscheidung von Kindern, dass sie sich sagen, dass Schule nicht lohnt, wenn man an einem guten Tag mit einem clever eingefädelten Drogendeal locker ein Jahresgehalt erwerben kann. Scheiß auf die Bildung, wenn sie dich nicht reich macht. Fachkräftemangel? Wozu malochen? Abziehen ist die Devise. Den ganzen Tag auf der Straße rumlungern und hin und wieder ein Sondervermögen abziehen von einem dieser Looser, diesen Nerds. So machen es die Lindners und Co ja auch. Scheiß auf die Armen, kürzen wir die Sozialbeiträge, ficken wir die armen Rentner, diese Versager, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Was für Idioten. Hätten sie mal nachgedacht und eine Bank ausgeraubt, dann bräuchten sie keine Sozialhilfe. Siehe Merz. Siehe Scholz. Deutsche Bildung? Goethe? Schiller? Die Faust im Gesicht und die Glocke am Arsch. Die Illusion eines Landes. Die aktuelle Hitlerjugend kann nicht richtig lesen, nicht richtig rechnen. Wozu auch? Man muss nur auf die richtigen Knöpfe drücken können und dann fließen die Dollars von alleine. Bildung ist Luxus. Und den können wir uns nicht mehr leisten. Also: diese Bildungsmisere ist ein logisches Ergebnis unseres ökonomischen Lifestyles. Geile Klamotten, das neuestes Handy, alles kann man abziehen. Das ist kein Diebstahl, das ist ökonomischer Sachverstand. Jeder Drogendealer auf der Straße kann rechnen. Wozu sollte er in die Schule gehen. Und die weltfremden Intellektuellen mit ihrer idiotischen Pisastudie haben ihre Statistik von den „Losern“ und den Nerds erstellt. Geht mal auf die Straße! Nicht in die Schule. Dann seht ihr: Deutschland holt auf, wird zunehmend zum Marktführer in Sachen Kriminalität und Sondervermögen. Der Frühling! Der Merz kommt.

 

ENDE

 

 

Der erste Beitrag 2024

 

vom 15. Januar 

 

 

Inani usu – vom unnützen Nutzen

 

Matthäus 25, 14–30 schildert uns das Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Ein Unternehmer gibt seinen Angestellten Geld zur Verwaltung. Dem ersten 5 Talente (biblische Währung, Gewichtseinheit für Silber), dem zweiten 2 Talente und dem dritten 1 Talent. Am Ende kehrt der Unternehmer von einer längeren Reise zurück und möchte nun eine Abrechnung sehen. Was haben seine Angestellten mit dem Geld gemacht? Der erste Angestellte hat die fünf Talente zu zehn verdoppelt, ebenso der Zweite, der immerhin zwei Talente zu vieren verdoppelte. Nur der Angestellte mit nur einem Talent hat ihn aus Angst nur vergraben und nicht vermehrt. Auf diesen Nichtsnutz ist der Unternehmer stinksauer und entlässt ihn, schlimmer noch. Im Text heißt es wörtlich: Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.

Für einige Interpreten gilt diese Bibelstelle als Beleg für die Christlichkeit des Kapitalismus. Man soll seine Begabung, seine Fähigkeiten, sein Hab und Gut möglichst vermehren. Das Eigenschaftswort „talentiert“ hat sich tatsächlich im Mittelalter über dieses Bibelgleichnis in die deutsche Sprache eingeschlichen. Und das Wort „Begabung“ geht auf die indogermanische Wurzel „ghab“ zurück, was „ergreifen, fassen“ bedeutet. Wer seine Talente nicht nutzt, faul in der Sonne liegt und dabei das väterliche Erbe verprasst – man sieht sie vor sich, die rich kids mit Sonnenbrille im schicken Cabrio – nun, der kommt sicher nicht in den Genuss, einst an der Seite seiner Herrlichkeit zu sitzen und nach seinem Tode auf Wolke sieben zu schweben. Nein. Solche Faulpelze schweben schon jetzt auf Wolke sieben und benötigen keine Herrlichkeit. Sie verschwenden ihre Talente und beleidigen den Herrn. Solche Nichtsnutze werden vor allem vom deutschen Streber allzu gerne verurteilt, ja geradezu gehasst.

  Im Jahr 2015 hat man das eben von mir geschilderte Gleichnis von den anvertrauten Talenten auf wissenschaftliche Füße gestellt. In einem Experiment an der Universität Bonn (Wirtschafts-wissenschaftler Armin Falk führte das durch und es ist inzwischen berühmt) gab man Teilnehmern zehn Euro in die Hand. Sie hatten jetzt die Gelegenheit, mit diesem Geld einer ausrangierten Labormaus einen friedlichen Lebensabend zu ermöglichen. 40 Prozent entschieden sich gegen die Labormaus und behielten die zehn Euro. Immerhin, die Mehrheit hatte Mitleid mit der armen Maus. In einem weiteren Experiment gab man den Teilnehmern sogar 20 Euro. Ein Verkäufer trat nun mit ihnen in Verbindung, um den Preis für das Überleben der Maus zu verhandeln. In diesem Fall ließen über 70 Prozent der Teilnehmer die Maus für zehn oder sogar noch weniger Euro sterben. Das Mäuseleben war einer großen Mehrheit in einer marktähnlichen Situation sogar noch weniger wert. Die Wissenschaftler interpretierten dieses Experiment dahingehend, dass moralische Werte durch die Markt-Situation erodierten. Der beim Feilschen, also in einer Tauschsituation, entstehende Charakter des Wettbewerbs führt zum Homo oeconomicus, dem Menschen, der rational denkt und die Nutzenmaximierung über moralische Werte stellt. Nicht Mitleid mit der Maus, sondern ihr Preis wurde verhandelt.


Doch wer seine Fähigkeiten, seine Begabung nicht nutzt, handelt nicht marktkonform. Jeder Mensch hat seinen Preis, ist etwas wert. Würde hat jeder, doch nicht jeder ist das Gleiche wert. Wer seine Talente nicht nutzt, handelt unmoralisch, ist weniger wert. Die Moral ist in diesem Vergleich von Gleichnis und wissenschaftlichem Experiment nicht eindeutig.

 

Es erscheint wie ein Paradoxon, dem wir modernen, in kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaften erzogenen Menschen tagtäglich ausgesetzt sind. Empathie und Nutzenmaximierung erscheinen uns als Widerspruch. Da ökonomische Werte inzwischen tief in unsere privaten Beziehungen eingedrungen sind (wir investieren in eine Beziehung), wirkt sich diese Paradoxie als kognitive Dissonanz auf unsere zwischenmenschlichen Kontakte aus. Geben – heißt es in der Bibel, in der Apostelgeschichte – ist seliger denn nehmen. Doch wer immer nur gibt, wird hierzulande nicht wirklich selig, sondern geht pleite. Ja, am Ende gilt es als Schande, da man dann selbst vom „Nehmen“ abhängig wird, zum Nichtsnutz verkommt. Der moderne Sozialstaat organisiert heute die Verteilung. Der Staat nimmt von den Talenten der Fleißigen und gibt sie den Bedürftigen. Regelmäßig wird dieses System nach ihrem Nutzen abgeklopft und regelmäßig empfinden die Fleißigen diese Verteilung als ungerecht. Den armen Tropf, der sein Talent aus Angst, es zu verlieren, vergräbt (wie im Bibelgleichnis) animiert der Sozialstaat nun, die Schaufel in die Hand zu nehmen, sein Talent auszugraben und – ja was? – die Maus zu töten.

 

 Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812–1891) war ein rich kid, Sohn eines sehr reichen Getreidehändlers. Aber er nutzte sein Talent und schrieb den inzwischen berühmten Roman Oblomow. Dieser handelt von einem begabten und gebildeten, aber ziemlich faulen russischen Adligen, Ilja Iljitsch Oblomow. Oblomow ist materiell weitestgehend abgesichert. Doch er bekommt gleich zu Beginn des Romans zwei Herausforderungen. Einmal droht ihm der Hausbesitzer zu kündigen, wegen Eigenbedarfs. Oblomow soll umziehen. Und sein Dorfschulze (Gemeindevorsteher, vom Grundherrn eingesetzt) schreibt ihm von Ernteausfällen und Verlusten. Zwar macht sich Oblomow Sorgen, bleibt aber dennoch untätig im Bett liegen, kann sich zu nichts durchringen. Er hat zarte, kleine weiße Hände, zieht sich weder an noch wäscht er sich. Sein Haus ist bereits unordentlich, voller Staub und sein Diener ist alt und mürrisch. Alle Versuche seiner Freunde, ihn aus dieser erstickenden Ruhe, Trägheit und Schläfrigkeit herauszuholen, scheitern. Oblomow bleibt ihnen gegenüber freundlich, aber reserviert und verliert sich in den Traum eines geborgenen, sicheren, von aller Verantwortung freien Lebens, in dem der Mittagsschlaf Zentrum und Schwerpunkt der täglichen Verrichtungen ist. Pläne, das väterliche Gut Oblomowka zu pflegen, werden von einem auf den nächsten Tag verschoben, weshalb es mehr und mehr in Verfall gerät. Schließlich wird Oblomow krank und stirbt an einem Schlaganfall, ohne noch einmal versucht zu haben, sein Leben zu gestalten. Das Paradebeispiel eines dekadenten Landadligen, der von der Leibeigenschaft lebt und keine weitere gesellschaftliche Funktion übernimmt, noch vorhat diese zu übernehmen, wurde weitestgehend als Kritik daran gelesen und als Oblomowtum bezeichnet. Ja, der Name Oblomow ging sogar in die Psychiatriegeschichte ein als Beleg für den Neurotiker, der apathisch, faul und parasitär lebt, obwohl er über andere Fähigkeiten verfügt, diese aber nicht einsetzt und in Muße lebt, ohne diese auch genießen zu können.

 

Mit diesem Oblomow hatte ich immer tiefstes Mitgefühl und hege bis heute eine Sympathie, die ich gar nicht erklären kann. Vielleicht ist es auch ein wenig Neid auf die, denen die Lebenswurstigkeit zur Realität wurde. Doch im Vordergrund steht mein freundschaftliches Mitgefühl mit allen Nichtsnutzen dieser Welt. Während mich die Nutzenmaximierer und die Fleißigen, die Streber unangenehm aufrütteln, mich gegen meinen Willen antreiben, indem sie mir ständig Gewissensbisse machen, Gewissensbisse, die ich schon derart internalisiert habe, dass ich sie kaum noch verdrängen kann. Es sind diese Fleißigen, diese Streber, die beständig die Welt umgraben und aufwühlen, für Unruhe sorgen und uns antreiben, mit dem Argument, Faulheit führe in den Niedergang.

 

Der Angestellte, der sein Talent vergräbt, der Teilnehmer am Experiment, der ein Mäuseleben rettet und Oblomow, sind sich sehr ähnlich, denn ich bin mir sicher, dass Oblomow die Maus gerettet hätte und der Mann aus der Bibel ebenfalls. Warum aber alle am Ende in die Hölle fahren, in die Finsternis? Das muss man mir tagtäglich neu erklären, damit ich so tue, als würde ich es begreifen. Ist es wirklich so schlimm, die arme Labormaus zu retten und ihr einen gemütlichen Oblomow-Lebensabend zu ermöglichen? Ich glaube nicht. So. Aber jetzt muss ich wirklich was arbeiten gehen. Nutzt ja nichts.

 

ENDE