Gedanken-Akrobatik 

 

Meditationen und Reflexionen über Zeitliches und Zeitloses,

oder schwere Kost für kluge Köpfe

Von Bernhard Horwatitsch

 

Die Beiträge erscheinen jeweils per 15. und 30. des Monats

Der sechste Beitrag 2024

 

vom 15. April 2024

Maximale Quadratur

 

(Das Bild von Friedrich Hagemann zeigt den Philosophen Kant beim Anrühren von Senf).

Dreihundert Jahre nach Kants Geburtstag gelten die vier Sätze seines kategorischen Imperativs immer noch als Grenzmarkierung zur Barbarei.

Die Naturgesetzformel, dass die maxima propositio (oberste Regel) meiner Handlung durch meinen Willen zum allgemeinen Natur-gesetze werden sollte, da sei wahrlich Gott vor. Schon in dieser Hinsicht bin ich persönlich froh drum, nicht in einer solchen Lebensposition zu sein, in der mein Handeln einem Naturgesetz gleichkäme. Aber es gibt natürlich Menschen, die können einen Knopf drücken und eine Maschine in Gang setzen, die wie ein Naturgesetz auf uns wirkt. Tagtäglich sind wir mit diesen Auswirkungen konfrontiert. Die technische Komplexität unseres Daseins auszuhalten, erfordert schon übermenschliche Kräfte. Dazu noch all die Anstrengungen halbwegs unbeschädigt und nicht traumatisiert durch dieses Leben zu kommen, sind kaum noch zu erreichen. Und das in einer Welt, in der die Naturgesetze mein geringstes Problem sind. Vielmehr verursachen mir gerade jene Gesetze schwerste Traumata, die von Menschen gestaltet wurden, deren Handlungen tatsächlich zum allgemeinen Naturgesetz wurden. Und das ist wahrlich nicht schön. In dieser Hinsicht leben wir in einer barbarischen Welt.

Die zweite kantische Formel betrifft nicht die Naturgesetze, sondern die allgemeinen Gesetze des Menschen, also Recht und Ordnung. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Wer dieses „Allgemeine“ nicht denken kann, wer also nur nach seinen eigenen Gesetzen und nicht nach den allgemeinen Gesetzen handelt, der ist ein Barbar. Da wir Menschen evolutionsbiologisch nicht über unsere kleine Horde hinausdenken können, liegt allein in dieser kantischen Formel ein ganz eigenes kulturelles Unbehagen begraben. Kants Begriff von der „faulen Vernunft“, die derjenige anwendet, der nur seine Gesetze kennt und gleichzeitig so tut, als wären seine Gesetze allgemeingültige Gesetze, diese „faule Vernunft“ ist weit verbreitet und bestimmt den Lebenslauf fast aller meiner Mitbürger. Schon dies macht mich unendlich traurig. Denn die Menschen sind nicht dumm. Sie sind nur nicht fähig, aus ihrer evolutionsbiologischen Haut zu kriechen und sich eine Allgemeinheit vorzustellen, die so abstrakt ist wie die Vorstellung von einem schwarzen Loch im Universum. Allgemeine Gesetze werden hier durch die Demokratie ausgehandelt. Sie wechseln ständig und niemand versteht mehr, warum eigentlich. Das allgemeine Gesetz in dieser Formel von Kant ist zur Tagespolitik verkommen und bedient nicht die Allgemeinheit, sondern wechselnde Interessensgruppen. Das ist pure Barbarei.

 

Die dritte Formel von Kant ist die Menschheitszweckformel. Der Satz des kategorischen Imperativs von Kant lautet hier: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Diese Formel ist immerhin umsetzbar. Doch für die Agenten des Kapitals bin ich nur ein Endverbraucher und nur Mittel zur Bereicherung. Es ist eher ein Wunder, dass die produzierten Waren in ihrer Praxis auch einem Zweck dienen für die Menschen, denen diese Waren am Ende zum Verbrauch zugewiesen werden. Denn die Praxis der Produktion von Waren hat diesen Zweck nicht vorgesehen. Die Produktion von Waren dient allein einer Erhöhung der Rendite. Würden wir Menschen Scheiße fressen, würde der Kapitalist auch Scheiße produzieren. Tatsächlich ist das sogar der Fall. Bei den großen Marktführern der Nahrungsproduktion (Nestlé, Unilever) wird längst Scheiße produziert und verkauft. Für diese Firmen ist es nicht von Bedeutung, ob die produzierten Waren auch dem Endverbraucher Vorteile bringen. Sie produzieren diese Waren zur Vermehrung ihrer Rendite. Dazu kalkulieren sie lediglich, wie viel Geschmacksverstärker die produzierte Scheiße übertünchen und ob es sich lohnt, die Scheiße überhaupt noch zu parfümieren. Die kantische Formel so zu handeln, dass der Endverbraucher der parfümierten Scheiße aus den Supermärkten, auch etwas davon hat außer Diabetes zu bekommen oder ein metabolisches Syndrom, diese Formel erfüllen Nestlé und Co nicht. Dezidiert nicht. Auch andere Global Player im kapitalistischen Produktionshimmel interessiert es nicht im Geringsten, ob ihre bezahlenden Endverbraucher den Konsum dieser Waren überleben. Sie sind am Überleben der Endverbraucher nur interessiert, weil diese Leben ihre Rendite garantieren. So leben wir auch in unserem kapitalistischen Verbraucher-Himmel in luxuriöser Barbarei. Jeder tägliche Discounter-Besuch bestätigt diese Perversion. Dennoch lieben wir alle unsere Waren und umgeben uns mit ihnen so sehr, dass unsere Wohnungen aus allen kapitalistischen Nähten platzen. Der einzige Mangel unserer Gesellschaft ist der Mangel an Bescheidenheit. Es ist pervers. Was unsere Welt der Waren und des Tauschens betrifft, leben wir in tiefster Barbarei. Und da Geld den Alltag bestimmt, darüber bestimmt, wer ich bin, was ich bin und ob ich überhaupt sein darf, haben wir eine Form der Barbarei entwickelt, die geradezu dem Gegenteil der Menschheitszweckformel entspricht. Hier ist alles für die Menschheit unzweckmäßig. Das ist keine Behauptung, sondern belegt durch die aktuelle Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Diese Zerstörung der Erde ist ein Ergebnis unseres Wirtschaftens. Simpel.

Daher sind wir von Kants Endformel, so zu handeln, als ob wir durch unsere Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wären, so weit entfernt wie ein Stern in einer anderen Galaxie.

Dieses von Immanuel Kant beschworene allgemeine Reich der Zwecke ist keine Utopie im Sinne des goldenen Zeitalters. In dieser von Hesiod beschworenen Vergangenheit, als wir in Arkadien lebten, mit den Göttern befreundet von Sorgen befreit das Gemüte, fern von Mühen und fern von Trübsal; entrückt von jeglichem Übel, in dieser Vergangenheit war der Mensch nicht mündig und auch gar nicht fähig ein sittliches Wesen zu sein. Bei Hesiod heißt es weiter: Wie vom Schlummer bezwungen verschieden sie; keines der Güter missten sie; Frucht gab ihnen das nahrungsspendende Saatland gern von selbst und in Hülle und Fülle; und ganz nach Belieben schafften sie ruhig das Werk im Besitze der reichlichsten Gaben, wohl mit Herden gesegnet. Also ein kapitalistisches Schlaraffenland. Das war Arkadien. Aber das Ideal von Immanuel Kant ist nicht der naive und glückliche Mensch, der ohne Kummer und Sorgen in einem Garten wohlbehütet wie ein Kind lebt. Die Freiheit, die uns als Mensch vor allem auszeichnet, ist eine Freiheit von den kausalen Naturgesetzen. So frei zu sein bedeutet, sich sittlich selbst zu bestimmen. Aber wie lässt sich das – ohne totales Chaos auszulösen – für acht Milliarden Menschen (und es werden immer mehr, 2050 werden wir die 15-Milliarden-Grenze überschreiten), bewerkstelligen? Wie können wir ein Reich der Zwecke gestalten, in der jeder einzelne Mensch die Option hat, sittlich frei zu handeln? Gelingt dies nur unter Berücksichtigung der vier Formeln von Immanuel Kant? Und sind wir dann noch frei? Und jetzt, spätestens jetzt, sprengt es mir den Schädel und ich will nicht ein Wort mehr hören über Philosophie.

 

 

 

ENDE

 

 


Der fünfte Beitrag 2024

 

vom 30. März 2024

 

 

Der Riesenmaulwurf – eine kleine Monografie

 

In seinem großen Verbreitungsgebiet nutzt er zahlreiche verschiedene Lebensräume, von Waldlandschaften über offene Gebiete bis hin zu Weiden und Parks und teilweise auch städtische Areale.

In der als Broschüre gedruckten Ausgabe von „ein Maulwurf, so groß wie ihn noch nie jemand gesehen hat“, gibt es eine sehr geschickte Zeichnung des Dorfschullehrers. Sehr präzise ausgearbeitet sind die Grabschaufeln des Maulwurfs, die wie eine breite Hand geformt sind, mit kurzen Fingern und langen Nägeln. Die Innenflächen der Schaufeln sind voller Falten und erwecken den Eindruck von tiefster Weisheit. Die ganze Gestalt dieses Tieres, das – wenn es sich erhebt – nach den Schätzungen des Dorfschullehrers eine Höhe von über zehn Fuß erlangen würde, erweckt im Betrachter große Gefühle der Ehrfurcht. Es ist unverständlich, dass die Schrift des Dorfschullehrers weitestgehend Gespött erntete und in Vergessenheit geriet. Angeblich – so hatten die Dorfbewohner damals einstimmig behauptet – sei es gar nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend, dass es etwas kräftigere Maulwürfe gebe als anderswo, da das Land für seine fruchtbare schwarze Erde bekannt sei. Der Dorfschullehrer wollte sich nur wichtigmachen und habe sich dadurch lächerlich gemacht.

 

Umso ehrenvoller erscheint mir daher die Arbeit eines Kaufmanns, eines Vertreters für landwirtschaftliche Geräte, dessen Forschungen allerdings dem gleichen Schicksal folgten, wie die des Dorfschullehrers. Während der Kaufmann von dem Dorfschullehrer nie erwähnt wurde, fand man im Nachlass des Kaufmanns Aufzeichnungen über Gespräche zwischen dem Dorfschullehrer und dem Kaufmann, die weiteren Aufschluss über die mögliche Existenz des Riesenmaulwurfs geben könnten. Diese – jüngst in einer kleinen zoologischen Zeitschrift nachgedruckten Aufzeichnungen des Kaufmanns, bestätigten allein durch die Genauigkeit der Schilderungen die Existenz des sagenhaften Tieres. Seine unterirdischen Bauten müssen gewaltig gewesen sein, wenn die Angaben des Kaufmanns wirklich stimmen. Aber genau darüber gab es einen Streit zwischen dem Kaufmann und dem Lehrer. Der Kaufmann behauptete, dass der Maulwurf auf der Grundlage der Berechnungen des Lehrers mindestens 15 Fuß hoch sein müsse, wenn er sich aufrichtet. Der Lehrer bestritt dies mit dem Argument, er habe den Maulwurf ja mit eigenen Augen gesehen, als dieser aus einem seiner Hügel herausgekrochen sei. Der Maulwurf sei sehr groß gewesen, aber so groß auch wieder nicht. Der Kaufmann dagegen konterte, dass das schon sein könne, aber seine anschließenden Aufzeichnungen und die Berechnungen der Hügel ließen für ihn – der sich in der Landwirtschaft wie zu Hause fühle – keinen anderen Schluss zu, als den, dass der Maulwurf ein wahrer Hüne unter seinen Vertretern sein müsse, also viel, viel größer, als der Lehrer angenommen habe. Es könne durchaus sein, so der Kaufmann, dass der Lehrer aus unterschiedlichsten Erwägungen heraus seiner eigenen Wahrnehmung nicht getraut habe und die Berechnungen ein tiefenpsychologischer Beleg für diesen Widerspruch. Oder wenn der Lehrer seinen Wahrnehmungen getraut habe, sich nicht getraut habe, dieser Wahrnehmung auch zu folgen, was ja offensichtlich verständlich ist, da der Spott und die offene Ablehnung seiner Maulwurfsschrift deutlich zeige, dass die Leute nicht bereit sind, einen solchen Maulwurf zu akzeptieren. Es sei so ein Beleg der Ehrenhaftigkeit des Lehrers, schmeichelte der Kaufmann, dass die schriftlichen Berechnungen des Lehrers in Gegensatz zu den Behauptungen des Lehrers wahr seien. Der Lehrer fasste diese Argumente des Kaufmanns nicht gerade freundlich auf. In einer kleinen Glosse der Dorfzeitung machte sich der Dorfschullehrer über die Annahmen des Kaufmanns lustig, der Maulwurf sei „größer als das Haus“ in dem er wohne. „Das ist lachhaft, so lachhaft wird es natürlich“, schrieb der Lehrer in der Glosse, „wenn sich ein Vertreter für Mähdrescher in die Wissenschaft einmischt.“ Weiter schrieb der Lehrer in der Glosse, dass „ein Vertreter für Mähdrescher bestenfalls Rechnungen verstehe, aber keine Berechnungen, höchstens sei er in seiner Selbstdarstellung berechnend, wie eben Kaufleute so sind.“

 

Der Kaufmann schrieb – in einem Brief an seinen Bruder, gefunden im bereits erwähnten Nachlass – dass er versuchte, eine Gegendarstellung in der Dorfzeitung zu veröffentlichen. Aber der Redaktionsleiter habe ihm dies verweigert mit dem Hinweis, dass er dem Lehrer nur deshalb erlaubt habe, diese Glosse zu drucken, weil er ihm von früher her noch etwas schulde. Der Redaktionsleiter der Dorfzeitung war Schüler des Dorflehrers gewesen. Der Kaufmann regte sich daher nicht ganz zu Unrecht über die Korruption auf, die, wie er schreibt „im Dorf herrscht, ja das ganze Dorf vollständig umschlungen hält und wie einen Maulwurfbau aushöhle.“ Diese Übertreibungen schickte er brieflich an den Dorfschullehrer, der daraufhin ätzte, „dass der Herr Kaufmann generell zu Übertreibungen neige, und infolgedessen auch die von ihm beschriebenen Berechnungen von der angeblichen Größe des Maulwurfs entsprechend übertrieben sein müssen.“ Dann schrieb der Lehrer noch bösartig dazu „man sollte daher auch seine von ihm angebotenen Mähdrescher für durchaus kleiner halten, als vom Herrn Kaufmann angepriesen“. Dieser Streit zwischen den beiden verstummte irgendwann ganz, allein, weil wirklich niemand mehr sich für den Riesenmaulwurf interessierte. Die beiden Streithähne wurden alt und schweigsam.

 

 Diese Auseinandersetzungen um den Riesenmaulwurf sind nun 100 Jahre alt. Die jüngste Veröffentlichung darüber in der zoologischen Fachzeitschrift war eigentlich nur eine Art Kuriositätenbericht eines gut gelaunten Wissenschaftshistorikers. Er hatte sich dabei nichts weiter gedacht und im gesamten Tonfall des kleinen Textes liest der geübte Leser den satirischen Tonfall heraus. Wie es dann zu der Schlagzeile in einer landesweit bekannten Zeitung kam „Riesenmaulwurf gesichtet“, das ist eine weitere Kuriosität. Vermutlich hat ein Journalist mehr oder weniger zufällig den Text des Wissenschaftshistorikers aus dem zoologischen Fachblatt aufgeschnappt und etwas recherchiert in dem Dorf, wo vor hundert Jahren dieser angebliche Riesenmaulwurf vom Dorfschullehrer gesehen wurde. Eins gab das andere. Einer der Dorfbewohner hat dann wohl dem Journalisten gegenüber behauptet, er habe auch schon mal einen gesehen. Eher aus Spaß. Welchen bäuerlichen Dorfbewohner juckt es nicht in den Fingern, einem aus der Stadt kommenden, dialektfrei sprechenden Journalisten, der offensichtlich einer Mär aufgelegen ist, die Mär noch mehr einzureden? Ein paar Dorfbewohner sollen später zugegeben haben, dass sie sich abgesprochen hätten, dem Journalisten Märchen zu erzählen. Aber wenn Märchen erst einmal in der Welt sind, gehen sie nicht mehr. Und der Riesenmaulwurf wurde immer lebendiger und größer. Auch die Schlagzeilen mehrten sich. Es kam zu einem „dark tourism“ in dem Dorf und immer öfter wurde der Riesenmaulwurf gesichtet. Die Vielzahl der Berichte von Augenzeugen und zahlreiche Belege von ziemlich großen Hügeln, die im Umkreis des Dorfes eindeutig zu bestaunen sind, bestätigen die Existenz des Riesenmaulwurfs. Es brauchte hundert Jahre, um ihn wiederzuentdecken. Und nach hundert Jahren wird nun der Dorfschullehrer zu einem Ehrenbürger des Dorfes ernannt und der Kaufmann bekommt eine eigene Straße. Sie sind nun die Helden des Dorfes. Lange vergessen und zu Unrecht vergessen, erinnert der Bürgermeister des Dorfes daran, dass das Dorf und seine Gemeinschaft immer schon hinter ihrem begnadeten Lehrer gestanden hätten und sehr, sehr stolz seien, darauf, dass noch heute Schüler von ihm im Dorfe leben. Einer medienkritischen Journalistin gelang es tatsächlich, einen Schüler des Dorfschullehrers ausfindig zu machen. Dieser lebte im Nachbardorf, war aber leider bereits hoffnungslos dement um noch als glaubwürdiger Zeuge über den berühmten Lehrer berichten zu können. Dennoch behauptete dieser alte Mann gegenüber der Journalistin, dass er selbst gemeinsam mit dem Lehrer bei einem Ausflug mit der Klasse, diesen Riesenmaulwurf gesehen hätte. Dabei machte er eine Geste, die seine Größe andeutete und ein wenig an den römischen Gruß erinnerte. Wie auch immer. Der Riesenmaulwurf wurde noch nicht gefangen und erste Überlegungen, mit größeren Baggern die unterirdischen Bauten des Riesenmaulwurfs auszuheben, entstanden. Das ganze Dorf drohte sonst, in den unterirdischen Riesenmaulwurfsgängen zu versinken. Daraufhin entstand eine Gruppe von Umweltaktivisten, die das Ausheben der Maulwurfsgänge des Riesenmaulwurfs verhindern wollte. Sie fanden auch die Unterstützung des Tierschutzvereins. Der Bürgermeister geriet nun erheblich unter Beschuss und es ist fraglich, ob er sich bei der nächsten Wahl wird halten können. Und das, obwohl er schon seit drei Wahlperioden unangefochten der Bürgermeister der Stadt ist. Über einen womöglich gar nicht existierenden Riesenmaulwurf politisch zu scheitern, hätte sich der Bürgermeister wohl auch nicht träumen lassen. Seit Monaten ist nun das Dorf in den Schlagzeilen. Man spricht von den Umweltaktivisten, vom korrupten Bürgermeister, von einer Krise der Bauern, einem ganzen Dorf, das zu versinken droht, von einem Stadt-Land-Konflikt in der Moderne, von der Politik die das Land vergisst und so weiter. Der Riesenmaulwurf indes, scheint ein weiteres Mal in die Vergessenheit zu geraten. Und seine Existenz bleibt drängend, aber fragwürdig. Wir bräuchten ihn, den Riesenmaulwurf. Dringend. Er fehlt in dieser so tragischen Zeit.

 

 

 

ENDE

 

 

 


Der vierte Beitrag 2024

 

vom 15. März 2024

 

 

Das Gilgamesch-Epos

 

Der babylonische Orakelpriester Sin-leqe-unnini gilt allgemein als der Verfasser des Gilgamesch-Epos. Sin-leqe-unnini lebte vermutlich ca. 1200 vor Christus in der Stadt Uruk (heute im Süden des Irak gelegen). Doch war er nicht Verfasser des Epos, sondern eher ein Herausgeber, ein Kompilator, da sich der Text des Epos aus vielen Dialekten zusammensetzt. Die Geschichte des Epos handelt von Gilgamesch und seinen Abenteuern. Gilgamesch war ein sumerischer König altbabylonischer Zeit, so um 3000 vor Christus dürfte er geherrscht haben. Er wird in einer berühmten sumerischen Königsliste erwähnt. Aber seine reale Existenz gilt nicht als gesichert. Er wurde auch als Gott, vor allem als Totengott verehrt.

 

Das Epos selbst ist eine Textsammlung von 12 Tontafeln in Keilschrift. Diese Schrift zählt – neben den ägyptischen Hieroglyphen - zu den ältesten Schriftsystemen und reicht bis 4000 vor Christus zurück. Die Schrift wurde bis 100 nach Christus benutzt. Das Gilgamesch-Epos galt bis dahin als eine Art Ausbildungstext für Priesteranwärter, war aber schon zur Epoche der Assyrer (ab 900 vor Christus) einer breiteren Bevölkerungsschicht nicht mehr vertraut.


Wieder entdeckt wurden die Tontafeln im späten 19. Jahrhundert in Ninive, einer Stadt im Osten des Irak. Dort fanden bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert Ausgrabungen statt. Man fand Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Bibliothek mit 25.000 Tontafeln, die Bibliothek von König Assurbanipal. Dieser König lebte im 7. Jahrhundert vor Christus und war ein Herrscher über das assyrische Reich, das sich zu seiner Zeit über Ägypten bis Nubien ausdehnte.


Bei den Übersetzungsarbeiten des Epos zeigte sich, dass der Text aus verschiedenen Schrift-Fragmenten zusammen gesetzt war, aus akkadischer, hurritischer und hethitischer Zeit. Die Akkader (herrschten 2500 vor Christus in Mesopotamien und lösten die Sumerer ab) übernahmen die Keilschrift der Sumerer. Vor allem die Tafel XII ist in dieser Schrift verfasst und wurde den anderen elf Tontafeln angehängt. Man könnte diese Tafel als eine Art Ur-Gilgamesch bezeichnen. Allerdings veränderten die Akkader die anfänglich auf Piktogrammen beruhende Keilschrift zunehmend in eine Silbenschrift. Die Hurriter siedelten an der nördlichen Grenze Mesopotamiens, verwendeten aber weder eine semitische noch eine indogermanische Sprache. Dennoch spielten sie bei der kulturellen Vermittlung der Keilschrift an die Hethiter eine wichtige Rolle. Die über 500 Jahre später kommenden Hethiter brachten eine indogermanische Sprache mit und verwendeten die sumerische Keilschrift ebenfalls. Aber so veränderte sich die Bedeutung der Silben ein weiteres Mal.

 

Damit reicht das Epos bis ins 3. Jahrtausend vor Christus zurück. Das Gilgamesch-Epos zählt so zu einer unserer ältesten Schriftzeugnissen und ist vermutlich das älteste literarische Zeugnis. Doch bis heute ist die Übersetzung sehr lückenhaft.

 

Die Stadt Uruk bildet den Rahmen der Geschichte von Gilgamesch.  Gilgamesch baute die Mauern von Uruk. Er errichtete die Mauer von Uruk-dem-Schafspferch, des heiligen Eanna (Haus des Gottes Anu, A.d. A.), des reinen Schatzhauses. So wird es auf Tafel I/12 erwähnt. Deutsche Ausgrabungen von 1912 legten die Ruinen frei und man kann dort noch die Ausmaße erkennen. Die Mauer hatte eine Länge von 9 Kilometern und umschloss fast 6 Quadratkilometer Stadtgebiet. Die Stadt wurde auch als „Schafspferch“ bezeichnet, da wohl die Schafzucht ein wichtiges Handelsgut dieser Zeit war. Die Menschen teilten sich die Stadt also mit einer Menge Schafen.

 

Gilgamesch herrschte in Uruk als brutaler König, der seine Untertanen zur Feldarbeit zwang und für sich das ius primae noctis in Anspruch nahm, das Recht auf die erste Nacht mit einer neuen Braut. Es gilt als erstes Zeugnis dieser bis ins 14. Jahrhundert gebräuchlichen Tradition, dass ein Herr den Frauen seiner Untertanen beiliegen darf. Sogar Georg Orwell erwähnt dieses Recht in seinem dystopischen Roman 1984: „Es gab auch etwas, was das Jus primae Noctis genannt wurde, was wahrscheinlich nicht in einem Lehrbuch für Kinder erwähnt worden wäre. Es war das Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jeder Frau zu schlafen, die in einer seiner Fabriken arbeitete.“

 

Die Frauen wehrten sich gegen den brutalen Herrscher Gilgamesch. Gilgamesch war zu zwei Drittel göttlich und riesig von Gestalt. Er tyrannisierte die Stadtbewohner.

 

Vor allem, weil die Männer nach ihrer Feldarbeit so erschöpft waren, dass sie ihre Pflicht als Mann nicht mehr erfüllen konnten, wendeten sich die Frauen an die Göttin Ischtar (Tochter von Gott Anu und eine kriegerische Göttin der sexuellen Liebe) und klagten darüber. Ischtar empfahl ihnen, den in der Steppe lebenden Menschen Enkidu als Hilfe. Enkidu lebte außerhalb der Stadt mit den Tieren, er fraß wie sie das Gras, war vollständig behaart und nicht zivilisiert. Aber er war so kräftig wie Gilgamesch. Doch Enkidu musste erst zivilisiert werden, damit er den Stadtbewohnern helfen konnte. Ein Jäger konnte ihn einfangen und man beauftragte die Dirne Schamschach damit, Enkidu beizuwohnen. Sie zeigte sich dem wilden Menschen in all ihrer Üppigkeit und nackt. Enkidu verfiel ihren Reizen und schlief sieben Nächte lang mit ihr. Danach flohen ihn die Tiere, weil Enkidu nach Mensch roch. Die Dirne Schamschach gab Enkidu Bier und Brot, das Enkidu nicht kannte. Danach kleidete sie ihn ein, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Stadt Uruk. Dort stellte sich Enkidu in seiner ganzen Gestalt vor das Tor eines Hochzeitsfestes und verwehrte Gilgamesch den Eintritt. Der darauf folgende Kampf endete unentschieden. Gilgamesch war beeindruckt und brachte den starken Enkidu zu seiner Mutter Ninsun. Diese adoptierte Enkidu und so wurden Gilgamesch und Enkidu Brüder.

 

Gilgamesch beschließt, dass er sich einen Namen machen will und da er mit Enkidu einen Begleiter hat, der sich außerhalb der Stadt auskennt, verlässt Gilgamesch mit Enkidu die Stadt Uruk und sie wandern zum Zedernwald, zum Zwillingsgebirge des Libanon. Sie treffen auf Chumbaba. Er war eine Art Dämon, von dem Wettergott Adad als Wächter des Zedernwaldes eingesetzt. Es kommt zum Kampf. Tatsächlich kann Gilgamesch den Dämon überwinden. Der gefangene Dämon bittet nun Gilgamesch um Verschonung, verspricht ihm zu dienen, wenn er ihn nicht tötet. Doch Enkidu überredet Gilgamesch, ihn dennoch zu töten, denn der Dämon würde sonst seine sieben Auren anlegen und dann wäre er unbesiegbar. Die „Sieben Auren (Gewänder) galten vermutlich als magischer Schutz, die seinen Träger unsichtbar machten. Gilgamesch schwankt. Enkidu bleibt hart und schließlich zieht Gilgamesch sein Schwert und enthauptet Chumbaba. Enkidu reißt dem Dämon das Herz aus der Brust. Danach verwüstet Gilgamesch im Siegesrausch den gesamten Zedernwald. Enkidu ist über diesen Vandalismus entsetzt.

 

Beide kehren nun mit dem abgeschlagenen Haupt des Dämons in die Stadt zurück. Sie werden gefeiert. Auch die Göttin Ischtar ist begeistert und verliebt sich in Gilgamesch, bietet sich ihm als Ehefrau an. Doch Gilgamesch lehnt ab. Warum sollte ich dich heiraten? Du bist ein Frost, der kein Eis frieren lässt, eine unfertige Tür, die Wind und Zug nicht abhält, ein Palast, der die eigenen Krieger erschlägt … heißt es im Text. Ischtar ist daraufhin beleidigt und rennt weinend zu Enlil, dem Vater aller Götter. Sie beschwert sich bitter und fleht den Göttervater an, er möge ihr den Himmelsstier geben, damit dieser Gilgamesch tötet. Der Himmelsstier ist vermutlich mit dem Sternbild Tauris (Stier) assoziiert.

 

Der Himmelsstier kommt tatsächlich und tötet mehrere hundert junge Männer, ehe Gilgamesch ihn gemeinsam mit Enkidu fängt und töten kann.  Das ist eine ausgesprochen coole Schilderung. Denn Gilgamesch trinkt in Ruhe sein Bier aus, ehe er sich dem Kampf mit dem wütenden Stier stellt.

 

Die Götter verhängen über Gilgamesch und Enkidu die Todesstrafe wegen der Tötung von Chumbaba und dem Himmelsstier. Doch der Sonnengott Schamasch protestiert. Daraufhin beschließen die Götter, Gilgamesch zu verschonen und nur Enkidu zu töten.


Nach dem Tod seines Freundes und Bruders trauert Gilgamesch lange. Er versteht nicht, was geschehen ist und er bekommt Angst, dass auch er sterben wird wie sein Freund und Bruder. Gilgamesch fasst den Beschluss, Utnapischtim zu besuchen. Utnapischtim ist ein Held aus der Zeit vor der Flut und der einzige Überlebende der Sintflut. Von ihm will Gilgamesch erfahren, wie er den Tod überwinden kann. Doch er wird enttäuscht werden. Gilgamesch ist sterblich. Seine Aufgabe wird es sein, die alten Kulte aus der Zeit vor der Sintflut zu bewahren und so die Verbindung der Menschen mit den Göttern zu erhalten.

 

Nach altbabylonischer Vorstellung teilte sich die Zeit in eine Zeit vor der Flut und nach der Flut. Die ab der Tafel IX einsetzenden Erzählabschnitte erinnerten den ersten Übersetzer des Gilgamesch-Epos, den Briten Georg Smith (übersetzte 1872 als erster das Epos), an die biblische Erzählung vom Garten Eden und der Sintflut.

Sumers Weltsicht mit Details findet sich auf Tafel XII im Epos Gilgamesch und Enkidu. Das sumerische Weltbild wird auch ausführlich im Atrahasis-Epos erläutert, das sind drei Tontafeln aus der Zeit um 1800 vor Christus. Zwischen diesem und dem Gilgamesch-Epos gibt es diverse Schnittstellen. Daraus lässt sich das Weltbild der Sumerer rekonstruieren.

 

Unsere Erde liegt tief unter Wasser in einer Art kosmischem Urozean, der einen Ring um die ganze Erde bildet. Der obere Teil des Ozeans  bildet eine Atem-Luftblase. Dort liegen auch die Gebirge des Libanon und Zagros. Sie sind die Stützen des Süßwasser-Himmels. Ein Tunnel ermöglicht es dem Sonnengott Shamash, des Nachts trockenen Fußes von West nach Ost zu eilen. Dort am Sonnenaufgang liegt die Insel Dilmun (ein paradiesisches Land, vermutlich die Insel Bahrain), auf der der am Tod seines Freundes Enkidu verzweifelnde Gilgamesch den später Noah genannten Uta-napišti und das Kraut der nur dem göttlichen Lebensphänomen eignenden Unsterblichkeit aufspürt. Technisch wichtig sind die oben im Himmelsrund eingelassenen Schleusentore, durch die die in der Kunst des Bauens von Anlagen zur Bewässerung äußerst bewanderten Götter ihren Garten Eden mit Regen zu bewässern wussten, aber eben auch die Sintflut entfesselten.

 

Auf Tafel XI wird die Geschichte des Wunderkrauts der Unsterblichkeit erzählt. Eröffnen will ich dir, Gilgamesch, eine geheime Sache, und ich will dir ein Geheimnis der Götter sagen: Es gibt eine Pflanze, deren Aussehen wie ein Dornstrauch ist, ihr Dorn ist wie der der Rose, und sie wird dich stechen. Wenn deine Hände diese Pflanze erreichen können, wirst du durch sie deine Lebenskraft wiedergewinnen …. Gilgamesch sprach zu ihm, zu Ur-schanabi, dem Schiffer, diese Pflanze ist die Herzschlagpflanze, mit der ein Mensch seine Lebenskraft wiedergewinnt. … Diese Pflanze will Gilgamesch nun nach Uruk bringen und einem Greis geben, der so wieder jung werden wird. Doch eine Schlange roch den Duft der Pflanze, kam lautlos herauf und trug die Pflanze davon.

 

Dieses tief schürfende Epos aus den Anfängen der Zivilisation erzählt uns nicht nur von einer intensiven Männerfreundschaft, er erzählt uns auch den Anfang unserer Kultur, die neolithische Revolution durch die Landwirtschaft, das Epos erzählt uns auch etwas über den Tod und seine Bedeutung für den Menschen.

Bier, Brot und Kleidung machten den in der Steppe mit den Tieren lebenden Enkidu zu einem zivilisierten Menschen. Die gemeinsamen Abenteuer in der Steppe, in der Wildnis erzählen uns den Prozess der Wandlung. Die Welt außerhalb der Stadt galt als dämonisch und Enkidu tötet mit Gilgamesch den Dämon der Wildnis. Das Fällen der Zedernbäume wird hier als eine neue Technik erwähnt.


Die Auseinandersetzung mit der Sexgöttin Ischtar könnte die Wandlung vom Matriarchat ins Patriarchat darstellen.
Fast 5000 Jahre ist der Text nun alt und kann immer noch begeistern. Die Kraft der Schrift ist in diesem Epos immer spürbar. Es ist faszinierend, dass man ohne allzu große Vorkenntnisse diesen Text lesen und verstehen kann.

Der österreichische Literaturwissenschaftler Raoul Schrott erzählte das Epos nach und ergänzte die Lücken kongenial. Doch sind diese Ergänzungen in der Fachwelt umstritten.

Für Liebhaber dieses Textes sei noch ein Comic von Jens Harder zu empfehlen. In großartigen Bildern hat der Zeichner das Epos nacherzählt. Abgerundet wird der Comic mit einem Nachwort von Raoul Schrott.

Hier noch ein Link zu einer Rezension des Comics.

 

http://www.comicradioshow.com/Article3484.html

 

 

 

 

 


Der vierte Beitrag 2024

 

vom 29. Februar 2024

 

 

Der Mythos von den spartanischen Dioskuren

und ihren messenischen Vettern

 

Zum Sehen geboren / zum Schauen bestellt / dem Turme geschworen / gefällt mir die Welt. (Faust II, V11290).

Lynkeus, der luchsäugige, ist eine zentrale Figur im zweiten Teil von Goethes berühmtem Faust-Drama. In der griechischen Mythologie ist er der Bruder von Idas. Beide waren sie Teilnehmer eines berühmten Seeabenteuers, der Argonautenfahrt. Diese Seefahrt führte eine Reihe der größten Helden Griechenlands unter Führung von Jason bis nach Georgien in das sagenhafte Land Kolchis. Dort würden sie das goldene Fell eines merkwürdigen Widders finden. Ein Widder, der sprechen und fliegen kann. Das ist aber eine andere und lange Geschichte, die uns von Apollonios von Rhodos erhalten blieb, der etwa 300 vor Christus das Epos Argonautika verfasste, bzw. aus dem bereits vorhandenen mythologischen Wissen in vier Büchern zusammenstellte.

Beginnen wir die Geschichte von Lynkeus (bei Goethes trägt er den Beinamen, Der Türmer) zunächst bei der Großmutter von Lynkeus. Das war Gorgophone. Sie ist die Tochter von Andromeda und Perseus. Andromeda war eine äthiopische Prinzessin. Ihre eigene Mutter wollte sie an ein Seeungeheuer verfüttern. Perseus rettete sie und heiratete sie.

Gorgophone wurde selbst zur Gorgo-Töterin ausgebildet. Darauf deutet schon ihr Name, der sich darauf bezieht, dass Perseus der Gorgone Medusa das Haupt abschlug (kurz bevor er auf seinem Rückweg Andromeda befreite). Auch dies ist eine andere Geschichte. Medusa war die sterbliche Geliebte des Meeresgottes Poseidon und sie war abgrundtief hässlich, hatte Schlangen auf dem Kopf statt Haaren. Sie war also ein Meeresungeheuer. Selbst der Anblick ihres abgeschlagenen Hauptes verwandelte ganz Serophos und ihre Bewohner in Stein und bis heute kann man diese unbewohnte Kykladeninsel und ihre in Felsen verwandelten Bewohner (südliche Ägäis) bewundern.

 

Lynkeus Großmutter Gorgophone, hatte mit ihrem ersten Ehemann Pereieres (er war Prinz von Messenien, in der südlichen Peleponnes gelegen) zwei Söhne, Aphareus und Leukippos.

 Sie war dann die erste Frau (laut Ilias 3, 236), die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal heiratete, nämlich Oibalos, den König von Sparta. Sparta lag in Lakonien, einem unmittelbaren Nachbarort von Messenien. Das waren eigentlich zwei rivalisierende Orte, südlich unterhalb von Arkadien gelegen.

Diesem zweiten Ehemann Oibalos gebar Gorgophone zwei weitere Jungs, Tyndareus und Ikarios. Tyndareus heiratete die aus Arkadien stammende Leda und ist so der Vater von Helena. Wir wissen aus der Mythologie, dass Leda von Zeus verführt wurde und Helena in Wahrheit die Tochter von Zeus ist. Ein Kuckuckskind vom Feinsten.
Sein Bruder Ikarios gilt der Sage nach als Begründer des Weinbaus, indem er den herumwandernden Gott Dionysos freundlich aufnahm und dieser ihm diese Kulturtechnik stiftete.

So sind Lynkeus und Idas die Söhne von Aphareus aus Messenien (Peleppones).
Kastor und Pollux wiederum sind die Söhne von Tyndareus von Lakonien (Sparta).
Aphareus nahm sich die Schwester seines Halbbruders Tyndareus zur Frau (Arene, später bei Homer eine antike Stadt unter dem Einfluss von Nestor).

Die beiden Brüderpaare Lynkeus/Idas und Kastor/Pollux erlebten gemeinsam viele Abenteuer und stets war Helena ihr leuchtender Stern in der Mitte. Sie jagten gemeinsam den kalydonischen Eber, suchten das goldene Vlies mit Jason.

 

Von Idas wird berichtet, dass er sich eine Jungfrau namens Marpessa raubte. Doch kaum in Messenien angekommen schnappte sie sich Apollon (Hirtengott). Idas war darüber so erzürnt, dass er schon seine Pfeile auf den Gott abschießen wollte. Doch Zeus verhinderte das in letzter Sekunde. Die von Apollon dem Helden Idas geraubte Braut Marpessa sollte nun selbst entscheiden, wen sie wählt. Sie wählte den Sterblichen Idas. Die Umarmung eines Gottes hätte sie nämlich nicht überlebt. Der Mädchenraub war eine übliche Form der Hochzeit. Helena selbst wurde zum ersten Mal im zarten Alter von 12 Jahren entführt. Der berühmte Held und König von Athen Theseus entführte sie nach Athen. Ihre Brüder (Kastor, Pollux, Idas und Lynkeus) befreiten sie von dort und so wurde Helena schließlich mit Menelaos, dem damaligen Prinzen von Sparta, verheiratet. Die Geschichte ist dann aus der Ilias weitestgehend bekannt.

 

Der Streit zwischen den beiden Zwillingspaaren ging los, als Kastor und Pollux die Töchter des Leukippos raubten. Diese Töchter waren allerdings den messenischen Zwillingen Idas und Lynkeus versprochen.


Als nun die Troer als Gäste bei Menelaos waren, der inzwischen König von Sparta war, stritt sich das Brüderpaar heftig über die alte Geschichte mit dem Brautraub der Töchter des Leukippos. Eigentlich waren sie beauftragt, während der Feier auf Helena aufzupassen. Menelaos wusste ja schon, wie gerne Helena entführt wird.

 Zuerst verließen Kastor und Pollux das Festgelage, um Rinder zu jagen, die sie dem Leukippos schenken wollten. Kurz darauf verließen auch die Brüder Idas und Lynkeus das Fest. Auch Menelaos war abgelenkt. Nur so konnte die Entführung Helenas durch Paris überhaupt gelingen. Man hatte sich schlicht nicht um sie gekümmert, sie schutzlos zurückgelassen.

 

Lynkeus und Idas kletterten auf einen Hügel des Taygetos und Lynkeus erspähte Kastor, sagte es seinem Bruder Idas und der warf seinen Speer und tötete den überraschten Kastor. Pollux jagte nun die beiden messenischen Brüder und stellte sie am Grabmal ihres Vaters Aphareus. Idas und Lynkeus rissen den Grabstein aus der Erde und schleuderten ihn auf Pollux, dieser warf im Fallen noch seinen Speer und traf damit Lynkeus tödlich. Bevor der Grabstein Pollux treffen konnte, schleuderte Zeus seinen Blitz und tötete damit Idas. Pollux rannte zu seinem sterbenden Bruder Kastor und flehte Zeus um Hilfe an. Zeus war gerührt und gewährte den Brüdern ein gemeinsames Jahr, ein halbes Jahr im Olymp (Pollux war ein Unsterblicher / Sohn von Leda und Zeus) und ein halbes Jahr in der Unterwelt (Kastor war ein Sterblicher / da durfte mal Tyndareus ran). Hauptquellen dieser Story sind Homer (Ilias), Thukydides (Historien) und Pausanias (Beschreibung Griechenlands).

 

So haben sich die spartanischen Jungs Kastor und Pollux einen Platz im Himmel verdient. Denn sie sind die hellsten Sterne im Sternbild Gemini und daher auch die Namensgeber dieses Sternbildes. Da die Zwillinge auf der Ekliptik liegen, ziehen Sonne, Mond und die Planeten durch das Sternbild. Die Sonne durchläuft die Zwillinge gegenwärtig vom 21. Juni bis zum 21. Juli. Legt man die heutigen Sternbildgrenzen zu Grunde, befand sich der Sommerpunkt von 15 v. Chr. bis 19. Oktober 1989 n. Chr. in diesem Sternbild.

Abwechselnd im Hades und im Olymp ihre Tage fristend, gaben sie auch die Psychologie für diejenigen, die unter dem Sternzeichen Zwilling zur Welt kommen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, kennt der Zwilling Höhen und Tiefen des Daseins.
Dass sie Brudermörder sind, ging dann etwas unter in der verwirrenden Familiengeschichte der Götter und Helden.


Der von ihnen ermordete Lynkeus wird nicht nur deshalb von Goethe wiederbelebt. Als Turmwächter und Haussklave seines Entrepreneurs, Faust beobachtet Lynkeus den Untergang der Alten Welt, (bis zur Wurzel glühn die hohlen / Stämme, purpurrot im Glühn / Was sich sonst dem Blick empfohlen / mit Jahrhunderten ist hin, Faust II V11335).

 

 

 

ENDE

 

 

 

Der dritte Beitrag 2024

 

vom 15. Februar 2024

 

 

Die Lehrer von Thomas Mann

 

Der berühmte deutsche Schriftsteller Thomas Mann kam 1875 in Lübeck zur Welt. Wir feiern ihn im nächsten Jahr 2025 ganz sicher, denn da würde er 150 Jahre alt werden. Durchaus ein Grund, schon einmal vorauszublicken, bzw. zurück. Welche Haltung vertrat der Autor der Buddenbrooks, des Zauberbergs, des Doktor Faustus? Wie lässt er sich intellektuell, geistig einordnen?
Um Thomas Mann besser zu verstehen, ist es unerlässlich sich mit drei großen Männer zu beschäftigen: Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Sie dienen als Grundlage für das Verständnis des Werkes von Thomas Mann.

 

Schopenhauer

 

Der 1788 in Danzig geborene und 1860 in Frankfurt am Main verstorbene Philosoph Arthur Schopenhauer ist gewiss eine Ausnahme unter den Philosophen, da sein Einfluss auf die Kunst so enorm war: Von Richard Wagner bis Thomas Mann, aber auch Sigmund Freud, C.G. Jung, Samuel Beckett, Tolstoi, Thomas Bernhard, Arno Schmidt, Jorge Luis Borges, Stanislaw Lem, August Macke, Kurt Tucholsky, und zuletzt Michel Houellebecq.

 

Was machte seine Philosophie so attraktiv für die Kunst?

 

Zunächst ganz knapp und unterkomplex Schopenhauers Grundlage: Die Welt wird von ihm in Wille und Vorstellung unterteilt. Wobei wir den Willen selbst nicht mehr wollen können. Sigmund Freud würde diesen Willen als Trieb bezeichnen. Etwas, das uns von unten heraus antreibt. Die Vorstellung ist wörtlich gemeint als das vor uns Gestellte, der Gegenstand. Dazu zählt auch unser Körper, unsere Sinne etc., die Schopenhauer in der vierfachen Wurzel des zureichenden Grundes genauer darstellt. Das sind einmal Raum und Zeit, dann unsere Sinne die all das wahrnehmen, und unsere Vernunft, die das dann interpretiert. Zuletzt wissen wir davon durch unser Selbstbewusstsein. So wird alle Erkenntnis immer nur mittelbar stattfinden können. Um mit Goethes Schlusssatz seines Faust zu schreiben: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Wir sind vergänglich und doch entstehen wir immer wieder neu. Das ist Schopenhauers Wille zum Leben. Dieser Wille liefert uns mehr oder weniger aus. Während wir sind in, unserer Vergänglichkeit, verrichten wir lediglich eine Übersetzungsleistung. Und das ist natürlich eine Steilvorlage für die Kunst, aber auch für die Psychologie. Schopenhauers grundlegend pessimistische Sicht der Welt, die er aus seinen vielen Reisen mitbrachte, übersetzte er als eine Forderung von der Abkehr von der Welt. Nicht zuletzt seine orientalistische Sicht fördert diese Abkehr von der Welt. Schopenhauer übersetzte als erster die indische Nationalschrift der Baghavad-Gita ins Deutsche. Alles Leben wird von Trieb und vom Egoismus bestimmt und dieser bedingungslose Wille lässt eine von der Vernunft gesteuerte Welt am Ende nicht zu. So bekennt er sich zu den vier Grundwahrheiten des Buddhismus:

 

1.dukkha (Das Leben im Daseinskreislauf ist leidvoll),

2. samudaya (Verlangen nach Leiden ist der Ursprung des Leidens),

3. nirodha (durch das Erlöschen des Verlangens erlischt der Ursprung des Leidens)

4. magga (der Pfad der Ausübung von Konzentration und Meditation).

 

Die Vita contemplativa Schopenhauers resultiert aus diesem Pessimismus, nichts ändern zu können. Wir können es unterschiedlich übersetzen, ja. Aber das ist nur ein Kleid, eine Verkleidung des Seins. Im Grunde bleibt die Welt sich immer gleich in einem ewigen Werden und Vergehen. Und das Beste, was man hier tun kann, ist es, sich von diesem Werden und Vergehen abzuwenden und aus diesem dauernden Rad des Schicksals auszusteigen.

 

Richard Wagner

 

Der 1813 in Leipzig geborene und 1883 in Venedig gestorbene Komponist und Schriftsteller Wilhelm Richard Wagner lernte im Herbst 1854 “wie ein Himmelsgeschenk” Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung kennen. So kam es dann, wie bei vielen anderen vor und nach ihm, zum großen Schopenhauer-Erlebnis. Am 16. September 1854 schrieb Wagner an Liszt: „Sein (Schopenhauers) Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er natürlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte. Aber zu dieser Klarheit erweckt hat mir ihn erst dieser Philosoph.”

 

In seinem Essay Leiden und Größe Richard Wagners aus dem Jahr 1933 – diesem für Thomas Mann so bedeutenden Essay, weil es einen Schicksalsschlag begründete – schreibt er über Wagners Verhältnis zu Schopenhauer:

   „Die Bekanntschaft mit der Philosophie Arthur Schopenhauers ist das große Ereignis im Leben Wagners; keine frühere intellektuelle Begegnung, etwa die mit Feuerbach, kommt dieser an persönlicher und historischer Bedeutung gleich: denn sie bedeutete höchsten Trost. tiefste Selbstbetätigung, geistige Erlösung für den, dem sie in so vollkommenem Sinne ´zukam`. und sie hat ohne Zweifel erst seiner Musik den entfesselnden Mut zu sich selbst gegeben. Wagner glaubte wenig an die Wirklichkeit der Freundschaft; die Schranken der Individuation, die die Seelen trennen, machten in seinen Augen, nach seiner Erfahrung, die Einsamkeit unüberwindbar, volles Verstehen unmöglich. Hier (in Schopenhauers Philosophie) fühlte er (Richard Wagner) sich verstanden und verstand vollkommen: `Mein Freund Schopenhauer` - ´Ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit` - ´Aber einen Freund habe ich`, schreibt er, ´den ich immer von neuem lieber gewinne. Das ist mein alter, so mürrisch aussehender und doch so tief liebevoller Schopenhauer!“

 

Nun: Richard Wagner und der 25 Jahre ältere Arthur Schopenhauer waren Zeitgenossen. Beide wussten voneinander, doch kam es zu keiner persönlichen Begegnung. In seiner Autobiografie Mein Leben berichtete Richard Wagner, dass Arthur Schopenhauer sich “bedeutend und günstig über meine Dichtung” ausgesprochen habe. Das mag für Wagners “Dichtung” gelten, aber nicht für seine Musik, denn hierzu äußerte sich Schopenhauer gegenüber einem gemeinsamen Bekannten: „Sagen Sie ihrem Freunde Wagner in meinem Namen Dank für die Zusendung seiner Nibelungen, allein er solle die Musik an den Nagel hängen, er hat mehr Genie zum Dichter! Ich, Schopenhauer, bleibe Rossini und Mozart treu!“

 

Friedrich Nietzsche

Der 1844 in Röcken (Sachsen-Anhalt) und 1900 in Weimar verstorbene Philologie und Philosoph Nietzsche machte Schopenhauer zu seinem Lebensprojekt, seinem Erzieher. Doch im Gegensatz zu Schopenhauers Pessimismus setzte Nietzsche auf den Willen zur Macht und auf einen radikal-optimistischen Vitalismus. Statt das Leben zu verneinen – wie der Nihilist Schopenhauer – bejahte Nietzsche diesen Willen zum Leben. So wie das Nietzsche in seinem neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse ausdrückte:

   „Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Kulturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte.“

Diesen Gegensatz brachte Nietzsche in seiner Schrift Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zum Klingen. In dem Gegensatzpaar Apollo und Dionysos, dem Gott der Erkenntnis, der Klarheit und des Maßes (Apollo war ein Hirtengott in Arkadien im goldenen Zeitalter) und dem Gott des Rausches, der Verzückung und eben des Unmaßes und auch der Wiedergeburt. Dionysos wurde von den Titanen getötet und Zeus brachte die Asche zu Apollo, wo er in einem rauschhaften Fest immer wieder auferstand. Aus der Asche des Dionysos und der Titanen soll das Menschengeschlecht geschaffen worden sein. Dieser Gegensatz von Maß und Unmaß, Erkenntnis und Rausch (Vergessen, auch Lethe wird als Mutter des Dionysos genannt) sieht Nietzsche in Wagners Musik als Wiedergeburt der griechischen Tragödie erneut vereint, feiert Wagners Musik als Geburtshelfer einer neuen Urwillenskraft der Kunst. Nachdem Sokrates und Euripides die griechische Tragödie intellektualisiert hatten (nach Nietzsche), war die alte Dissonanz zwischen dem rauschhaft und naturhaft Entgrenzenden des Dionysos und dem in Form pressenden und damit alles ursprüngliche Leben herauspressendem apollinischem Ordnungs- und Harmoniedrang, wieder da. Der Künstler der Dekadenz (des Niedergangs, des Verfalls) kennt kein ursprüngliches Gefühl mehr, nur noch ein alles umfassendes, gelangweiltes, Déjà-vu. Alle Gefühle sind bereits Literatur. Es gibt kein unverfälschtes Erlebnis mehr. Doch Wagner, so der 27 Jahre junge Philologe Nietzsche, sei mit seiner Oper der Erneuerer der griechischen Tragödie, in der sich die Einheit dieser Zweiheit synthetisch kundtut. Es ist diese Erneuerung als Wiedergeburt des Ursprünglichen, die Nietzsche feiert und als radikalen Vitalismus dem Pessimismus Schopenhauers entgegensetzt.


1888 erscheint in „Der Fall Wagner“ Nietzsches letztes selbst veröffentlichtes Buch. In diesem Text bezeichnet Nietzsche Wagner nur noch als seine Krankheit, von der er geheilt wurde. Da sich Wagner nur noch in der Götterdämmerung, dem Untergang als Erlösung ausdrückt, sieht Nietzsche den Künstler Wagner als Künstler der Dekadenz. Der Niedergang, der Verfall war Nietzsches Sache nicht. Er hatte sich ja vom Pessimismus Schopenhauers gelöst und sah sehr wohl eine Ursprünglichkeit und Lebensbejahung als möglich an. Das heißt eine Konklusion von Wille und Vorstellung, als ein ursprüngliches Erlebnis des Daseins.

 

Anstößig könnte man den Abstand zwischen erstem und zweitem Proszenium nennen, den Wagner als mystischen Abgrund bezeichnete. Das verdeckte Orchester sollte die Bühnenillusion verstärken, indem jede Ablenkung von der Bühne und die „widerwärtige Störung durch die stets sich aufdrängende Sichtbarkeit des technischen Apparates“ verhindert wurde. Die „Idealität“ der Szene sollte von der „Realität“ des Publikums geschieden sein, um die Zuschauer „in den begeisterten Zustand des Hellsehens“ zu versetzen. Damit wird das ganze zum Schauspiel, unehrlich, verlogen, raffiniert, kurz dekadent.

 

Thomas Mann im Spiegel seiner Lehrer

 

   „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“ So beschreibt Nietzsche in Der Fall Wagner dessen Musik und Theatralik. Als

   „Ausgepichte Teufelsartistik“ beschreibt Thomas Mann Wagners Musiktheater in seinem Essay Ibsen und Wagner und meint damit die Detailversessenheit Wagners. Thomas Mann nimmt also Nietzsches Kritik an Wagner auf und formt daraus eine Schreibanleitung für sich. Gerade aus der Kritik Nietzsches an Wagner lernt Thomas Mann, seine eigene Technik zu perfektionieren. Er wendet die Methode des Leitmotivs an, die Wagner auszeichnete, er wendet eine besondere Form der Illusion an, indem er die Montage-Technik auf die Spitze treibt. Thomas Mann ging so weit, den Abschiedsbrief seiner Schwester Carla in seinem Roman Dr. Faustus nahezu unverändert einzumontieren.

 

Gleichzeitig gibt er sich selbst keinerlei Illusion hin; und das markiert die besondere Ironie der Mann’schen Erzählhaltung. Immer wieder entlarvt der Erzähler all das, bricht der Intellekt, der Geist den Lebenswillen durch übermäßiges Kommentieren der Figuren. Heute wirken die Figuren gelegentlich wie hingestellt. Schon Bruder Heinrich hat dies kritisiert und schrieb über die Figuren seines jüngeren Bruders „alles nur Statisten“. Worum es Thomas Mann aber eigentlich ging, war die Erkenntnis, dass dieser Widerspruch von Geist und Leben nicht mehr zusammen geht. Lediglich über die Geisteshaltung der Ironie wird das möglich. Literaturhistorisch hat diese Ironie weitergelebt in der Literatur der Postmodernen einerseits (da aber konstruktivistisch gebrochen und nur noch intellektualisiert) und andererseits mehr das Sinnliche betonend im magischen Realismus der südamerikanischen Literatur. In einem Kommentar zu seinem einzigen Theaterstück (Fiorenza, Askese von Savonarola gegen den weltlichen und kunstsinnigen Lorenzo d‘ Medici) schreibt Thomas Mann:

   „Es hat niemals einen durchaus naiven, niemals einen durchaus sentimentalischen Dichter gegeben (Einteilung von Friedrich Schiller, https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_naive_und_sentimentalische_Dichtung) – die Worte in ihrer reichsten und tiefsten Bedeutung genommen. Denn der Dichter ist die Synthese selbst. Er stellt sie dar, immer und überall, die Versöhnung von Geist und Kunst, von Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit (1912).“

 

Der Dichter liefert also eine Synthese von reinem Gefühl und der Darstellung von Gefühlen. Es gibt nicht nur die Darstellung, sondern in jeder Darstellung ist immer auch Gefühl mit vorhanden.

In seinem Vortrag / Essay über Richard Wagner, der Thomas Mann seine deutschen Bürgerrechte kostete, schreibt Thomas Mann:

   „Jede Kritik, auch die Nietzsche`s, neigt dazu, die Wirkungen einer Kunst als bewußte und berechnende Absicht in den Künstler zurückzuverlegen und die Idee des Spekulativen zu suggerieren – sehr fälschlich, ganz irrtümlich und gerade, als ob nicht jeder Künstler genau das machte, was er ist, was ihn selber gut und schön dünkt -, als ob es ein Künstlertum gäbe, dessen Wirkungen ihm selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkungen auf ihn, den Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort sein, das auf eine Kunst anwendbar sei, – der Künstler ist unschuldig. (Leiden und Größe Richard Wagners)“

 

Der unschuldige Künstler!

 

Weiter schreibt er in diesem berühmten Essay über den Begriff der Bürgerlichkeit:

„Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen berechnete und erzielte, die ihm selber ein Spott, denen es selbst überlegen wäre und die nicht zuerst auch Wirkungen auf ihren Urheber wären, ein solches Künstlertum gibt es nicht. Und daraus folgt, daß die objektiven Wirkungen eines Künstlers, auch die breite bürgerliche Wirkung Wagners, immer für sein eigenes Sein und Wesen beweisend sind.“

 

Diese Verteidigung der versteckten Quellen und die Verheimlichung des Gemachten in der Kunst lassen sich als romantische Ironie der Göttlichkeit des Künstlers als Schöpfer deuten. Letztlich wird ihn das Thema nie ganz verlassen und der Vorwurf seines Bruders Heinrich, dass seine Figuren nur „Schatten, nur Statisten“ seien, saß immer tief. Und das Problem ist ja bis heute erhalten geblieben. Es ist mehr in den Bereich der Psychologie abgerutscht. Heute sprechen wir von einem authentischen Verhalten, von Kongruenz. Und wenn man nun bewusst authentisch ist, wie authentisch ist man denn da noch? Wie gut spielen wir unsere Rollen in der Gesellschaft? Und wie erst konstruieren wir diese Rollen in der Kunst? Es geht in diesem Diskurs um Inhalt und Form des Kunstwerks.

 

Wenn man einen Château Margaux 1787 aus einem Plastikbecher trinkt, dann liegt die dekadente Würze dieses Tuns sicher nicht am Wein. Inhalt und Form mengen sich zu einer hochprovokanten Aussage. Und Goethes berühmter Spruch

   „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters besteht darin, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, bekommt eine hinterhältige Bedeutung. Wenn man dagegen einen Domkellerstolz von seiner Plastikflasche in ein edles Zwiesel-Glas schüttet, ist dann die Dekadenz dieser Handlung nicht vom Wein abhängig? Noch verwerflicher, wenn man den Domkellerstolz auch noch degustiert? Als notorischer Biertrinker hätte ich nicht die geringste Chance, diesen Betrügereien auf die Schliche zu kommen. In der Form liegt die Täuschung. Damit ist der Meister im Sinne Goethes ein Betrüger. Wertfrei gesehen, kann man auch zum Wohle anderer betrügen, ohne Egoismus schöne Werke (Form) schaffen, die dennoch Betrug sind. Die große Gefahr besteht darin, dass der Betrug auffliegt. Und dazu sagte Thomas Pynchon trefflich:

   „In der Arglosigkeit der Kreatur liegt die Amoral des Meisters.“  

Die Amoral des Meisters? Wenn man den Inhalt nicht mehr aus der Form lösen kann, wie kann man ihn dann noch erkennen? Thomas Mann würde darauf antworten: Sollte man schlechte Bücher schreiben? Nur um den Inhalt besser sehen zu können? Den Arglosen zur Hilfe?

Das könnte man weiter diskutieren. In der Kunst ist das Thema nicht mehr so aktuell. Dennoch: Vor Jahrzehnten begannen postmoderne Kunsttheorien zu lehren, dass Authentizität und die davon abgeleiteten Kategorien wie Originalität, Echtheit, Ursprünglichkeit oder Unverfälschtheit bloßes Konstrukt seien. Aneignung, Kopie, Reenactment (bloß nachgestellt), Simulacrum und das Spiel mit der Fälschung sollten den Begriff der Authentizität überwinden. Bis heute hat dies auf die akademische Ausbildung und die Imagepflege der Kunstschaffenden oder die Entstehung ökonomischer Werte von Kunst allerdings kaum Auswirkungen gehabt. In der bildenden Kunst macht gerade die Zunahme der Anrufung von Authentizität die Krise des Realitätsbegriffs wahrnehmbar. Dadurch hat der Authentizitätsbegriff eine definitorische Unschärfe erhalten.

 

In seiner Rede 1933 setzt hier auch Thomas Manns Kritik an Wagner und dem Selbstverständnis der Nationalsozialisten an. Thomas Mann bekämpfte die Nazis in der Weimarer Republik nicht als Linker, sondern als Nationalkonservativer, der die Einheit von Griechenland und Moskau von Marx und Hölderlin wollte. Deutschland war für Thomas Mann die Mitte, die unpolitische Ästhetik. Thomas Manns Hauptkritik an Wagner geht denn auch in diese Richtung. Der nationalsozialistische Wagnerismus strebte die „totale sinnliche Illusion“ an, die Aufhebung der Wirklichkeit im Theater. Und das ist es, was auch den Nationalsozialismus als quasiromantische aus der Spätromantik pervertierte Bewegung ausmacht. Notfalls muss man die Wirklichkeit abtöten. So wurde der Zweite Weltkrieg zu einer Art Bühne, zum Theater, zum Höllentheater. Thomas Mann kritisierte an diesem Kunstverständnis vor allem, dass es nicht möglich ist. Man kann die Wirklichkeit nicht ausblenden. Das rauschhafte Erleben ist eine Illusion. Thomas Mann kritisierte dieses Rauschhafte (Dionysische) an der Kunst, die Aufhebung von Geist und Reflexion. Das nur Sinnliche führt letztlich in die Barbarei! Deutlich ausgeführt wird dies im späten Roman des Doktor Faustus. Die ambivalente Haltung Thomas Manns zu Wagner, der ihn quasi herunterstuft zum bloßen creative director, zum Lehrmeister der Methoden, wie man Illusionen schaffen kann, der aber den gewaltigen Anspruch Wagners, die Hierarchisierung der Kunst, ablehnte und ironisch reflektierte, das waren Ungeheuerlichkeiten.

 

Hans Knappertsbusch (Dirigent, geboren 1888 in Wuppertal, gestorben 1965 in München) initiierte nach diesem Wagner-Vortrag von Thomas Mann einen öffentlichen Protest, den neben 40 anderen namhaften Künstlern unter anderem Hans Pfitzner (deutscher Dirigent und wichtiger Kulturpolitiker der Nazis) und Richard Strauss unterschrieben und der im Münchner Merkur veröffentlicht wurde. Knappertsbusch war kein Mitglied der NSDAP, er wurde sogar als „politisch unzuverlässig“ eingestuft und 1935 als Direktor der Münchner Oper abgesetzt, Knappertsbusch stieß den Führer selbst des Öfteren vor den Kopf. Aber als ehemaliger Assistent von Siegfried Wagner (Festspielleiter Beyreuth) war er ein glühender Wagnerianer. Und was Thomas Mann da gesagt hatte, das ging gar nicht. Man muss sagen, das war ein willkommener Anlass für die Nazis. Ein Dossier über Thomas Mann gab es schon länger. Insofern ist die Kritik von Thomas Mann noch 19. Jahrhundert, noch durch und durch romantisch. Die Nazis waren aber Realisten. Sie haben die Leute besoffen gemacht, um ihnen die Seele zu stehlen. Und es ist Ironie des Schicksals, dass gerade Wagner und Thomas Manns Verhältnis zu Wagner dazu führte, dass Thomas Mann ins Exil musste. Gerade sein Wagner, sein tiefes Verhältnis zu Wagner lässt ihn an Deutschland scheitern.

 

 

ENDE

 

 

Der zweite Beitrag 2024

 

vom 30. Januar 

 

Streifschuss:

vom 09. Dezember 23

 

Anlass: 

eins und eins ist Merzahl

 

 

 

Der Dung in der Bildung

 

Deutschland ist pleite und was man nun gar nicht gebrauchen kann, sind auch noch dumme Kinder. Vor allem – oh Wunder – können unsere Kinder nicht rechnen. Jetzt sind die Politiker etwas ratlos. Denn sie erkennen selbst: Woher sollen die Kinder das lernen? 100 + 100 ist eine Million Sondervermögen. Das lernen die Kinder von TikTok. Und wie man sich korrekt schminkt. Die wenigen Mathe-Lehrer zerbeißen sich an der Trigonometrie aus dem 17. Jahrhundert die Lippen beim Versuch, sie den Pubertierenden beizubringen. Es gibt auch intelligente Kinder. Sie haben reiche Eltern, die rechnen können. Die Rechnung der reichen Eltern geht so. Wenn ich clever bin, kann ich die armen Leute ausnehmen und am besten kürzen wir noch deren Sozialbezüge und verwandeln diese in Firmenzuschüsse, damit die Wirtschaft wächst, und ansonsten scheißen wir auf den Planeten und den Rest der Welt. Und so wird die Armut ausge-Merzt. Wegschauen. Eine Merziade. Und das einzige, was den Verantwortlichen dazu einfällt, ist der Spruch „wir können uns die Bildungskrise nicht mehr leisten“. Die Bildungskrise wird nur noch als ökonomisches Desaster betrachtet. Der Mangel an Bereitschaft, sich anzustrengen, um Wissen zu erwerben wird analog verglichen mit dem Kontostand der Eltern. Das ist die eigentliche Bildungsmisere in diesem Land. Wissen wird nur noch als Wissen verkauft. Hat man genug Geld, kann man sich ja das Wissen kaufen. Es ist logisch und eine kluge Entscheidung von Kindern, dass sie sich sagen, dass Schule nicht lohnt, wenn man an einem guten Tag mit einem clever eingefädelten Drogendeal locker ein Jahresgehalt erwerben kann. Scheiß auf die Bildung, wenn sie dich nicht reich macht. Fachkräftemangel? Wozu malochen? Abziehen ist die Devise. Den ganzen Tag auf der Straße rumlungern und hin und wieder ein Sondervermögen abziehen von einem dieser Looser, diesen Nerds. So machen es die Lindners und Co ja auch. Scheiß auf die Armen, kürzen wir die Sozialbeiträge, ficken wir die armen Rentner, diese Versager, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Was für Idioten. Hätten sie mal nachgedacht und eine Bank ausgeraubt, dann bräuchten sie keine Sozialhilfe. Siehe Merz. Siehe Scholz. Deutsche Bildung? Goethe? Schiller? Die Faust im Gesicht und die Glocke am Arsch. Die Illusion eines Landes. Die aktuelle Hitlerjugend kann nicht richtig lesen, nicht richtig rechnen. Wozu auch? Man muss nur auf die richtigen Knöpfe drücken können und dann fließen die Dollars von alleine. Bildung ist Luxus. Und den können wir uns nicht mehr leisten. Also: diese Bildungsmisere ist ein logisches Ergebnis unseres ökonomischen Lifestyles. Geile Klamotten, das neuestes Handy, alles kann man abziehen. Das ist kein Diebstahl, das ist ökonomischer Sachverstand. Jeder Drogendealer auf der Straße kann rechnen. Wozu sollte er in die Schule gehen. Und die weltfremden Intellektuellen mit ihrer idiotischen Pisastudie haben ihre Statistik von den „Losern“ und den Nerds erstellt. Geht mal auf die Straße! Nicht in die Schule. Dann seht ihr: Deutschland holt auf, wird zunehmend zum Marktführer in Sachen Kriminalität und Sondervermögen. Der Frühling! Der Merz kommt.

 

ENDE

 

 

Der erste Beitrag 2024

 

vom 15. Januar 

 

 

Inani usu – vom unnützen Nutzen

 

Matthäus 25, 14–30 schildert uns das Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Ein Unternehmer gibt seinen Angestellten Geld zur Verwaltung. Dem ersten 5 Talente (biblische Währung, Gewichtseinheit für Silber), dem zweiten 2 Talente und dem dritten 1 Talent. Am Ende kehrt der Unternehmer von einer längeren Reise zurück und möchte nun eine Abrechnung sehen. Was haben seine Angestellten mit dem Geld gemacht? Der erste Angestellte hat die fünf Talente zu zehn verdoppelt, ebenso der Zweite, der immerhin zwei Talente zu vieren verdoppelte. Nur der Angestellte mit nur einem Talent hat ihn aus Angst nur vergraben und nicht vermehrt. Auf diesen Nichtsnutz ist der Unternehmer stinksauer und entlässt ihn, schlimmer noch. Im Text heißt es wörtlich: Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Werft den nichtsnutzigen Diener hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen.

Für einige Interpreten gilt diese Bibelstelle als Beleg für die Christlichkeit des Kapitalismus. Man soll seine Begabung, seine Fähigkeiten, sein Hab und Gut möglichst vermehren. Das Eigenschaftswort „talentiert“ hat sich tatsächlich im Mittelalter über dieses Bibelgleichnis in die deutsche Sprache eingeschlichen. Und das Wort „Begabung“ geht auf die indogermanische Wurzel „ghab“ zurück, was „ergreifen, fassen“ bedeutet. Wer seine Talente nicht nutzt, faul in der Sonne liegt und dabei das väterliche Erbe verprasst – man sieht sie vor sich, die rich kids mit Sonnenbrille im schicken Cabrio – nun, der kommt sicher nicht in den Genuss, einst an der Seite seiner Herrlichkeit zu sitzen und nach seinem Tode auf Wolke sieben zu schweben. Nein. Solche Faulpelze schweben schon jetzt auf Wolke sieben und benötigen keine Herrlichkeit. Sie verschwenden ihre Talente und beleidigen den Herrn. Solche Nichtsnutze werden vor allem vom deutschen Streber allzu gerne verurteilt, ja geradezu gehasst.

  Im Jahr 2015 hat man das eben von mir geschilderte Gleichnis von den anvertrauten Talenten auf wissenschaftliche Füße gestellt. In einem Experiment an der Universität Bonn (Wirtschafts-wissenschaftler Armin Falk führte das durch und es ist inzwischen berühmt) gab man Teilnehmern zehn Euro in die Hand. Sie hatten jetzt die Gelegenheit, mit diesem Geld einer ausrangierten Labormaus einen friedlichen Lebensabend zu ermöglichen. 40 Prozent entschieden sich gegen die Labormaus und behielten die zehn Euro. Immerhin, die Mehrheit hatte Mitleid mit der armen Maus. In einem weiteren Experiment gab man den Teilnehmern sogar 20 Euro. Ein Verkäufer trat nun mit ihnen in Verbindung, um den Preis für das Überleben der Maus zu verhandeln. In diesem Fall ließen über 70 Prozent der Teilnehmer die Maus für zehn oder sogar noch weniger Euro sterben. Das Mäuseleben war einer großen Mehrheit in einer marktähnlichen Situation sogar noch weniger wert. Die Wissenschaftler interpretierten dieses Experiment dahingehend, dass moralische Werte durch die Markt-Situation erodierten. Der beim Feilschen, also in einer Tauschsituation, entstehende Charakter des Wettbewerbs führt zum Homo oeconomicus, dem Menschen, der rational denkt und die Nutzenmaximierung über moralische Werte stellt. Nicht Mitleid mit der Maus, sondern ihr Preis wurde verhandelt.


Doch wer seine Fähigkeiten, seine Begabung nicht nutzt, handelt nicht marktkonform. Jeder Mensch hat seinen Preis, ist etwas wert. Würde hat jeder, doch nicht jeder ist das Gleiche wert. Wer seine Talente nicht nutzt, handelt unmoralisch, ist weniger wert. Die Moral ist in diesem Vergleich von Gleichnis und wissenschaftlichem Experiment nicht eindeutig.

 

Es erscheint wie ein Paradoxon, dem wir modernen, in kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaften erzogenen Menschen tagtäglich ausgesetzt sind. Empathie und Nutzenmaximierung erscheinen uns als Widerspruch. Da ökonomische Werte inzwischen tief in unsere privaten Beziehungen eingedrungen sind (wir investieren in eine Beziehung), wirkt sich diese Paradoxie als kognitive Dissonanz auf unsere zwischenmenschlichen Kontakte aus. Geben – heißt es in der Bibel, in der Apostelgeschichte – ist seliger denn nehmen. Doch wer immer nur gibt, wird hierzulande nicht wirklich selig, sondern geht pleite. Ja, am Ende gilt es als Schande, da man dann selbst vom „Nehmen“ abhängig wird, zum Nichtsnutz verkommt. Der moderne Sozialstaat organisiert heute die Verteilung. Der Staat nimmt von den Talenten der Fleißigen und gibt sie den Bedürftigen. Regelmäßig wird dieses System nach ihrem Nutzen abgeklopft und regelmäßig empfinden die Fleißigen diese Verteilung als ungerecht. Den armen Tropf, der sein Talent aus Angst, es zu verlieren, vergräbt (wie im Bibelgleichnis) animiert der Sozialstaat nun, die Schaufel in die Hand zu nehmen, sein Talent auszugraben und – ja was? – die Maus zu töten.

 

 Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812–1891) war ein rich kid, Sohn eines sehr reichen Getreidehändlers. Aber er nutzte sein Talent und schrieb den inzwischen berühmten Roman Oblomow. Dieser handelt von einem begabten und gebildeten, aber ziemlich faulen russischen Adligen, Ilja Iljitsch Oblomow. Oblomow ist materiell weitestgehend abgesichert. Doch er bekommt gleich zu Beginn des Romans zwei Herausforderungen. Einmal droht ihm der Hausbesitzer zu kündigen, wegen Eigenbedarfs. Oblomow soll umziehen. Und sein Dorfschulze (Gemeindevorsteher, vom Grundherrn eingesetzt) schreibt ihm von Ernteausfällen und Verlusten. Zwar macht sich Oblomow Sorgen, bleibt aber dennoch untätig im Bett liegen, kann sich zu nichts durchringen. Er hat zarte, kleine weiße Hände, zieht sich weder an noch wäscht er sich. Sein Haus ist bereits unordentlich, voller Staub und sein Diener ist alt und mürrisch. Alle Versuche seiner Freunde, ihn aus dieser erstickenden Ruhe, Trägheit und Schläfrigkeit herauszuholen, scheitern. Oblomow bleibt ihnen gegenüber freundlich, aber reserviert und verliert sich in den Traum eines geborgenen, sicheren, von aller Verantwortung freien Lebens, in dem der Mittagsschlaf Zentrum und Schwerpunkt der täglichen Verrichtungen ist. Pläne, das väterliche Gut Oblomowka zu pflegen, werden von einem auf den nächsten Tag verschoben, weshalb es mehr und mehr in Verfall gerät. Schließlich wird Oblomow krank und stirbt an einem Schlaganfall, ohne noch einmal versucht zu haben, sein Leben zu gestalten. Das Paradebeispiel eines dekadenten Landadligen, der von der Leibeigenschaft lebt und keine weitere gesellschaftliche Funktion übernimmt, noch vorhat diese zu übernehmen, wurde weitestgehend als Kritik daran gelesen und als Oblomowtum bezeichnet. Ja, der Name Oblomow ging sogar in die Psychiatriegeschichte ein als Beleg für den Neurotiker, der apathisch, faul und parasitär lebt, obwohl er über andere Fähigkeiten verfügt, diese aber nicht einsetzt und in Muße lebt, ohne diese auch genießen zu können.

 

Mit diesem Oblomow hatte ich immer tiefstes Mitgefühl und hege bis heute eine Sympathie, die ich gar nicht erklären kann. Vielleicht ist es auch ein wenig Neid auf die, denen die Lebenswurstigkeit zur Realität wurde. Doch im Vordergrund steht mein freundschaftliches Mitgefühl mit allen Nichtsnutzen dieser Welt. Während mich die Nutzenmaximierer und die Fleißigen, die Streber unangenehm aufrütteln, mich gegen meinen Willen antreiben, indem sie mir ständig Gewissensbisse machen, Gewissensbisse, die ich schon derart internalisiert habe, dass ich sie kaum noch verdrängen kann. Es sind diese Fleißigen, diese Streber, die beständig die Welt umgraben und aufwühlen, für Unruhe sorgen und uns antreiben, mit dem Argument, Faulheit führe in den Niedergang.

 

Der Angestellte, der sein Talent vergräbt, der Teilnehmer am Experiment, der ein Mäuseleben rettet und Oblomow, sind sich sehr ähnlich, denn ich bin mir sicher, dass Oblomow die Maus gerettet hätte und der Mann aus der Bibel ebenfalls. Warum aber alle am Ende in die Hölle fahren, in die Finsternis? Das muss man mir tagtäglich neu erklären, damit ich so tue, als würde ich es begreifen. Ist es wirklich so schlimm, die arme Labormaus zu retten und ihr einen gemütlichen Oblomow-Lebensabend zu ermöglichen? Ich glaube nicht. So. Aber jetzt muss ich wirklich was arbeiten gehen. Nutzt ja nichts.

 

ENDE