Gedanken-Akrobatik
Meditationen und Reflexionen über Zeitliches und Zeitloses,
oder schwere Kost für kluge Köpfe
Bernhard Horwatitsch
Der Münchner Autor arbeitet als Ausbildungsdozent in den Fächern: Kommunikation, Recht und Ethik, und gibt regelmäßig Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Lite-raturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule.
Er moderiert mehrere Literaturkreise (Garching, Unterschleißheim, Sendling). Zudem schreibt er regelmäßig für das Grazer Feuilleton-Magazin „Edition Schreibkraft“. Ebenso veröffentlicht Horwatitsch regelmäßig Kurzgeschichten im Smartstory-Verlag.
Bernhard Horwatitsch schreibt schon sehr lange. Warum er das tut, hat er inzwischen vergessen. Am liebsten liest er Jorge Luis Borges, Philipp K. Dick, Franz Kafka und Raymond Carver. Denn die regen ihn zum Schreiben an.
Buchveröffentlichungen:
„Anleitung zum Scheitern“ (Erzählungen, Witta-Verlag, München) "Das Herz der Dings" (Geschichten über das Leben
mit Demenz, Mabuse-Verlag,)
"Das Brandlochprojekt" (Essays über Autoren deren Bücher 1933 verbrannt wurden, Andreas Mascha Verlag)
Zahlreiche Einzel-Veröffentlichungen von Kurzgeschichten und Essays in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften (Lichtwolf, Edition Schreibkraft, Sterz, BISS, Federwelt, c’t , Noel-Verlag, und viele andere).
Internetseite:
Literaturpreise:
3. Platz U-Books Literaturwettbewerb für erotische Literatur 2005
2. Platz, Kurzgeschichten Wettbewerb der Zeitschrift Kontro-vers 2008
Der 1. Beitrag 2023
Utopie statt Evolution und Revolution
Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist. (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 247 Begriff der Natur).
Irgendwelche plötzlich vorhandenen Gene werden bei der Fortpflanzung kopiert und an die Nachkommen weiter gegeben. Beim Abschreiben kommt es zufällig zu Fehlern, den Mutationen. Daraus entstehen neue Varianten, die wiederum kombiniert und nach einer als „natürlich“ bezeichneten Selektion aussortiert werden. Das Überleben ist der entscheidende Selektionsdruck und der führt zur Anpassung der Arten an ihre natürliche Umwelt. Der Mensch schlug da ein wenig aus der Art, indem er den Spieß umdrehte und sich den ganzen Klimbim zum Eigentum machte. Nach etwa 6000 Jahren Kulturgeschichte scheint es so, als drehe die Natur den Spieß wieder um. Ein wenig hilflos zappelt die Menschheit nun am Abgrund. Die alte Krone der Schöpfung trägt plötzlich eine Narrenkrone. Gibt es noch Rettung? Der letzte große Scholastiker, der sich traute, hinter die Physik zu blicken war G.W.F. Hegel. Die ganze Natur ist bei ihm, der inkarnierte Sohn Gottes. Das brachte ihm viel Kritik ein. Denn der Pantheismus ist im Sinne der Amtskirche Häresie. Hegels rauschhaft poetische Sprachkraft kommt von einer Schnupftabakmischung, die mit Cannabis versetzt war. Dadurch befand sich Hegel ständig in einem euphorisierten Zustand, der sichtbaren und hörbaren Einfluss auf seine Sprache gehabt haben muss.
Während einer Vorlesung soll der Philosoph so ausgiebig geschnupft haben, dass die Brösel auf dem Katheter ausreichten, um anschließend seine Hörer high zu machen. Georg Wilhelm Hegel lässt sich aber nicht nur im Rausch begreifen. Man muss auch ein guter Chiliast sein. Hegel kommt aus einer Pfarrer-Familie, hat in seinen frühen Schriften zur Theologie geschrieben. Sein Begriff vom Geist lässt sich nicht ohne Bezug zum Heiligen Geist nachvollziehen. Das Mysterium der Schöpfung ist bei Hegel nicht ohne das Mysterium der Trinität vorstellbar. Es ist spannend, dass Hegels Kritik an Kant dort ansetzt, wo Kant aufhört zu denken: bei den Antinomien. Und eine solche Antinomie liegt bei der Schöpfung vor. Unsere ganze schöne bunte Warenwelt droht in Sünde zu versinken. Eine Revolution will niemand, weil niemand wüsste, was so eine Revolution bewirken könnte. So bedarf es mal wieder eines großen Opfers, um die Menschheit vor sich selbst zu retten.
Eine hegelianische Meditation zum Untergang der Welt
Die Evolution ist blind und ohne Plan. Als Idee des Ganzen scheitert sie in ihrer Blindheit, Zufälligkeit und Notwendigkeit.
Der Mangel an Freiheit desavouiert die Evolution als Idee der Natur und als Natur der Idee. Die aus einem Etwas frei hervorgekommene Natur hat ihr Telos in der Selbsterhaltung. Darin ist sie frei, denn es besteht keine Notwendigkeit, dass sie ist. In ihrer Quidditas ist die Natur frei. Der Mensch ist dazu der offenbare Widerspruch in der Praxis. In der für wahr genommenen Naturbeschreibung wiederum ist der Mensch selbst das Telos der Natur. Die Revolution wäre nur eine Reaktion auf das Zufällige, Notwendige ohne die geringste Freiheit. Die Selbsterhaltung der Natur ist identisch in der Beschreibung ihrer selbst durch den Menschen erst dann, wenn die Praxis der Naturbeschreibung damit identisch ist. Das schöpferische Projekt der Naturwissenschaft entwickelt sich über den Widerspruch, sich nur selbst als Wissenschaft zu erhalten hin zu einem Projekt der Erhaltung der Natur. Nur die Naturwissenschaft, die dem Selbsterhalt der Natur dient, verdient den Namen Naturwissenschaft. Der Rest ist bloße Technik, Mechanik und darin die Negation der Natur und als Folge ihre Zerstörung. Der Mensch hat in die Natur eingegriffen, da er selbst Teil dieser Natur ist. Die Revolution negiert diese Tatsache und greift nur wieder ein ohne den Modus zu verändern. Die Negation der Natur in der Praxis des Menschen ist dem Telos des Selbsterhalts der Natur geschuldet. Die Natur als Idee, kann sich erst selbst erhalten, wenn sie durch die bestimmte Negation sich selbst bewusst wird und zu sich selbst kommt.
Die absolut offenbarte Idee der Natur ist die Identität der menschlichen Praxis mit dem Telos des Selbsterhalts der Natur. Schutz und Erhalt der Natur, mit allen wissenschaftlichen Mitteln die zur Verfügung stehen, wäre die Idee der Natur. Solange der Mensch sich selbst negiert, indem er sich durch seine Praxis in den Widerspruch zur Natur begibt, kommt die Idee der Natur und die Natur der Idee nicht ganz zum Vorschein. In der Praxis bedeutet dies einen Naturschutz, der zugleich den Menschen in der Natur schützt, ohne dabei mit der Natur in Widerspruch zu geraten. Denn dieser Widerspruch zur Natur wäre nur Selbst-Widerspruch des Menschen, der ja selbst natürlich ist. Es gilt daher, die Idee der Natur als Evolution zu überwinden, denn diese Idee der Evolution ist blind, zufällig und von Notwendigkeit in ihrer Freiheit korrumpiert.
Die Tragödie, die sich jetzt auf der Erde abspielt, ist das Ergebnis dieses Denkfehlers und der daraus resultierenden Praxis der Naturzerstörung. In dem Augenblick, wo Kultur und Natur mit sich selbst identisch sind, offenbart sich der absolute Geist im Sinne Hegels. In der Praxis verhält sich der Mensch in seiner Kultur natürlich und in seiner Natur ist seine Kultur mit ihm identisch. Solange also der Mensch in seiner Kultur der Natur fremd gegenüber steht, steht er in seiner Natur sich selbst fremd gegenüber. Damit ist klar, dass Geisteswissenschaft (oder besser – wie Ernst Cassirer meinte: Kulturwissenschaft) nicht mehr in einem Widerspruch zur Naturwissenschaft stehen sollte. Diese idealistische Vorstellung einer Identität aller Wissenschaften, die sich im Geist vereinen, das ist das Dogma, oder – um ein weniger pejorativ gewordenes Wort zu benutzen: das Axiom. Es kann hinter dieser Identität aller Wissenschaften nichts mehr stehen. Wenn ein mathematischer Lehrsatz mit einem Roman identisch ist, wenn der Roman mit einem mathematischen Lehrsatz zu verstehen ist, offenbart sich der absolute Geist in seinem sich selbst erhaltenden Telos als widerspruchsfrei und damit absolut frei.
Die Natur des Menschen ist seine Kultur. Selbst in unseren Trieben, Neigungen und Verrücktheiten, die man als animalischen Anteil des Menschen
betrachtet, ist die Kultur des Menschen allgegenwärtig. Affekte, Triebe, Bedürfnisse sind bereits Geist und kommen daher auch zum Begriff. Von meinen Gefühlen hätte ich keinen Begriff, wenn sie
nicht selbst auch Geist wären. Und so habe ich als Mensch die Pflicht zu mir selbst zu kommen, indem ich meine Affekte, Triebe und Bedürfnisse auf den Begriff bringe, der ihnen zugrunde
liegt. Diese Pflicht ist zugleich mein Recht, da dieses zu sich selbst kommen einen freien Willen voraussetzt. In der unmittelbaren psychologischen Praxis zeigt es sich immer wieder als Zustand
positiver Freiheit, wenn man dem Subjekt in seinem Dasein zum Begriff verhilft. So erkenne ich mich im Anderen und der Andere in mir. Wichtig ist hier, dass man nur bei sich ist im Anderen. Wenn
ich im Widerspruch zum anderen bin, negiere ich nur mich selbst. Wer den anderen achtet, achtet sich selbst und kommt damit zu sich. Dieses zu sich kommen als Bewusstsein ist ein objektivierter
Zustand.
Mit den animalischen Anteilen des Menschen verhält es sich ganz genau so. Diese Anteile erkenne ich an der Natur des Tieres. So ist der Anthropologe immer zugleich Zoologe. In dieser Identität von Identität und Nicht-Identität meines Daseins in animalischer Form erkenne ich die dieser Form zugrunde liegende Kultur meines Seins. In der Massentierhaltung drückt sich die Negation unseres animalischen Seins aus. Es wäre mitnichten komisch, einer Kuh gleich zu grasen, da wir über keinen Bansen verfügen. Dies erkannten wir aber erst, als wir die Kuh erkannten, diese zum Begriff machten und die ihr zugrunde liegende Idee der Natur verwirklichten als Natur der Idee. Diese Natur der Idee ist die Kultur. In der Kultur offenbart sich die Natur des Rechts. Diese ist die Freiheit. Das Recht der Natur (die Evolution) löst sich in der Natur des Rechts auf und wird zur Freiheit. Denn die Natur des Rechts ist die Freiheit des Willens. Der Telos dazu wiederum die Selbsterhaltung. Da sich das Subjekt stets am Objekt erkennt, ist das Subjekt immer zugleich Objekt. Untersucht man nun die Natur des Rechts, ginge man fehl, würde man dabei nur das Recht der Natur zum Maßstab nehmen. Damit ist auch Dewey widerlegt, der eine Nähe von Hegel zu Hitler vermutete.
Das Recht der Natur ist ein zum Begriff gewordenes Naturrecht und nur nominalistisch. Ideal wird es erst, wenn die Natur des Rechts zu ihrem ihm zugrunde liegenden Begriff kommt. Das Telos der Natur ist der freie Wille zum Selbsterhalt. Das Recht der Natur wäre wieder nur blind, zufällig und notwendig, wäre es nicht zugleich die Natur des Rechts. Das bestimmt sich in der Negation. So entspricht die durch Gewalt überlegene Obrigkeit (Staat) zunächst nur einem Recht der Natur. Die Überlegenheit des Stärkeren begründet dieses Recht. Dies ist aber nur zufällig und notwendig und in keinster Weise frei. Wenn die überlegene Gewalt zur Natur des Rechts erklärt wird, zum Begriff kommt, sprechen wir von einer Diktatur. Diese Natur des Rechts liegt im Widerspruch zum freien Willen und ist die Negation der Natur des Rechts. Jede Form von Zwang liegt damit im Widerspruch zur Natur des Rechts. Die Diktatur ist die Negation meines freien Willens. In ihrer Beseitigung komme ich zu mir selbst. Erst durch die Negation der Negation meines freien Willens komme ich zu mir selbst. Dies darf man nicht mit Widerstand verwechseln. Widerstand ist nur eine Reaktion auf den Zwang und keine Negation.
Die Obrigkeit zerfällt in dem Augenblick, wo sie affirmativ zu sich selbst kommt. Das kann sie aber nur, wenn sie sich in der Idee der Freiheit nicht selbst widerspricht. Eine Revolution löst diesen Widerspruch nicht auf. Ebenso wenig die Evolution, denn sie ist nur zufällig und notwendig, nicht frei. Die Revolution ist nur Reaktion und die Evolution zufällig und notwendig. Die Freiheit kommt erst zum Begriff in der Negation dessen, was nicht ihrer Wirklichkeit entspricht. In der Praxis bedeutet dies, dass man vom Allgemeinen zum Besonderen kommt und nicht vom Besonderen zum Allgemeinen. Die Diktatur ist das Besondere. Ginge man von ihr aus, ginge man grundlegend fehl. Der Versuch einer revolutionären Beseitigung einer Diktatur misslingt, weil die Idee von der Natur des Rechts nicht gedacht wurde, nicht zum Begriff kam. Daher bedarf es der Idee, des Geistes, der Kultur im Allgemeinen als Begriff.
Die Utopie ist damit die eigentliche Rechtspraxis, denn die Utopie gibt als Begriff die Praxis vor, nicht umgekehrt. Da die Utopie nicht univok als Begriff vorliegt, also erst zu sich selbst kommen muss um als Begriff verstanden zu werden, bedarf es der Spekulation. Bloße Empirie wiederholt nur die Praxis. Im erhöhten Standpunkt der Spekulation mangelt es dem Begriff. Das heißt nicht, dass der Begriff nicht da sei, sondern dass er noch nicht da ist, noch nicht zur Wirklichkeit wurde. Er kann aber erst zur Wirklichkeit werden, wenn man ihn spekuliert. Da dieser noch nicht zur Wirklichkeit gewordene Begriff der Utopie der empirischen Praxis zugrunde liegt, als Telos der Selbsterhaltung, gilt es die Natur der Idee zu untersuchen, nicht nur die Natur. Der Evolution ihre blinden Flecke sehend zu machen, ihrer Zufälligkeit ein Wollen zu entlocken und ihrer Notwendigkeit die Freiheit zu schenken, ist das eigentliche Ziel in der Idee der Natur. Alles andere wäre Wiederholung in der Praxis und man käme nicht vom Fleck. Die aktuelle Gesellschaft entspricht dieser verkommenen Praxis, vervielfältigt nur im immer gleichen Modus des Wachsens und hat keinen Maßstab mehr. Die Ansammlung von Waren gaukelt eine Buntheit vor, die Ansammlung von Wissen ist nur die Ansammlung von Taschenspielertricks. Genau das, was uns das Leben erleichtert, uns glücklich macht, führt uns in die Katastrophe und erzeugt permanenten Missmut. Diese Wiederholung einer verkommenen Praxis der Empirie ohne Maßstab spiegelt den Verlust der Spekulation. In den ungezügelten Affekten der kapitalistischen Ökonomie zeigt sich die Revolution als permanente Reaktion. Was dem Gegenstand angetan wird geschieht in Zuständen des immer gleichen Modus. Dies ist die Persistenz der Zerstörung. Man hat mit dem Denken Schluss gemacht und geriet in das nominalistische Fahrwasser der Zufälligkeit.
Legt man das Absolute zugrunde als das, was im Wesen ist, negiert die Persistenz der Zerstörung die Persistenz des Selbsterhalts. Bevor man das Gute
wollen kann, sollte man das Gute wissen. Das Absolute ist das Gute, als die Idee allen Seins. Alles, was ist, ist. Das ist das Gute an der Idee. Genau das wäre aber dann die Utopie. Hier weiche
ich von Hegel ab. Das Absolute ist noch nicht. Das, was allem zugrunde liegt, ist noch nicht. Dieses absolute Reich ist nicht von dieser Welt. Alles Seiende ist noch nicht. Es dieser Welt zu
unterstellen, wäre eine Negation des Absoluten. Alles in der Zeit gedachte, ist nicht denkbar, weil es noch nicht vorhanden ist. Solange eine Uhr tickt, ist die Idee des Guten am Werden. Ein
Horror wäre es, wäre das Gute, das Nichts. Das Absolute ist das Nichts all dessen, was alles ist. Also ist nichts gut. Ein sittliches Programm kann man daraus nicht ableiten. Wenn wir dem Zufall
und der Notwendigkeit noch entkommen wollen, ist die Gnade das, was kommt. Doch das belässt den Horror am Ort. Denn die Gnade läge dann in der Katastrophe. Die Negation der Persistenz der
Zerstörung führt so geradewegs in die Zerstörung. Eine Paradoxie. Genau hier, in der Paradoxie, beginnt das Denken. Die meisten hören dort auf zu denken, wo das Denken beginnt. Die Negation der
Persistenz der Zerstörung wendet sich von der Zerstörung ab und dies ist die Katastrophe. Die sich darin offenbarende Katharsis bringt den Affekt zum Begriff. Da der Begriff dem Affekt zugrunde
liegt und nicht der Affekt dem Begriff (ohne Geist kann man nichts fühlen), führt die Abwendung vom Affekt in die Persistenz der Zerstörung. In der psychologischen Praxis führt die Leugnung eines
Gemütszustandes nicht nur zur Inkongruenz, sondern auch zur Ohnmacht. Man ist seinen Gefühlen ausgeliefert.
Solange wir uns von der drohenden Katastrophe abwenden und ohnmächtig mit der Persistenz der Zerstörung weiter machen, offenbart sich die Katastrophe. Wenn wir uns jedoch der Katastrophe zuwenden und von der Persistenz der Zerstörung abwenden, offenbart sich im kathartischen Schrecken der Begriff des Schreckens. Dies ist die Gnade. Erst dann ließe sich diese Erde wirklich retten. Es ist also wieder abzusehen von einem besonderen Moralitätsbegriff, der nur wieder im gleichen Modus bleibt. Ein absoluter Moralitätsbegriff wäre vielmehr die Aufhebung unserer Selbstnegation als zerstörerisches Wesen. Unsere zerstörerische Natur zu akzeptieren, unseren Widerspruch zur Natur aufzuheben in der Negation der Negation unserer selbst. Um die moralische Frage „was sollen wir tun?“ zu beantworten, wäre zu klären, was wissen wir von unserem Tun überhaupt. Erkennen wir im augenblicklichen Tun die Persistenz der Zerstörung als unser Tun, erkennen wir darin die Negation unseres Willens zum Selbsterhalt.
Indem wir das so Erfasste erfassen, überwinden wir das, was ist und versetzen uns in einen neuen Zustand, verwirklichen uns. Der Volksmund hat das einfach ausgedrückt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Es ist die Funktion der Schreckreaktion, einen Überlebensmechanismus in Gang zu setzen. Es liegt in der Natur des Menschen, den Schrecken zu fliehen. Das ist aber sehr komisch und erinnert an einen Hungernden, der das Essen scheut, weil es womöglich vergiftet ist. Unser glückliches, kapitalistisches Schweineleben wendet sich vom Schrecken ab, den es selbst auslöst. Sich dem Schrecken zuzuwenden bedeutet Freiheit, denn in dem Willen sich zu stellen offenbart sich das selbstbestimmte Subjekt. Das Objekt wurde erfasst als Objekt des Subjekts und offenbart sich als selbstbestimmter Wille zu sein. In der Essenz der Existenz erkennen wir uns selbst als Negation. Die Aufhebung dieser Negation mag einen Schreck auslösen und uns im äquivoken Sinne heilen (sanieren und sanktionieren). In Hegels Rechtsphilosophie kommt der Straftäter durch die Strafe zu seinem Recht. Dass Medizin meist bitter schmeckt und süßer Medizin zu misstrauen ist, ist eine Binsenwahrheit. Die Katastrophe ist so wenig abwendbar, indem man sich von ihr abwendet, wie die Krankheit heilbar wäre, wenn man sie einfach negiert. Das ist simpel. Hier aber gilt es einen Begriff zu haben. Was kommt, ist der Tod. Als das große Nichts ist der Tod absolut. Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. In diesen Scherzworten verbirgt sich ein aussagekräftiger Horror. Diesen Horror scheuen wir wie der Teufel das Weihwasser. Das Memento Mori wäre die nächste Übung und ganz im stoischen Sinne wäre das quid deceat sich den Affekten zu stellen, den Trieben und Bedürfnissen. Wer seine eigene Sittenlosigkeit erkennt, geht den ersten Schritt zur Sittlichkeit. Wer seine Wut erkennt und akzeptiert, verliert sie. Wer denkt, ist nicht wütend. Der Gedankenlosigkeit, in der sich die Natur des Menschen entweder in ihrer Blindheit (Evolution) oder im Widerstand (Revolution) aufhält, ist es zu verdanken, dass der Untergang droht. Wenn unsere Kultur als zweite Natur zu sich selbst kommt und sich in dem zugrundeliegenden Begriff erkennt, als Konzept sich selbst erfasst, erreichen wir einen Zustand in einem neuen Modus und verwirklichen uns. Dies geht nur induktiv. Die Deduktion ist nur die Negation der Induktion. Zum Begriff kommt man nicht über den Nominalismus, da der Begriff zugrunde liegt. Erkennt man die Deduktion als Negation der Induktion, kommt man zum Allgemeinen durch die Negation des Besonderen.
Alles, was nicht ist, ist je allgemeiner. Es zum Sein erheben heißt, das, was ist, als das, was noch nicht ist, zu erspähen. Dazu muss ich wissen, was ist. In diesem Rahmen ist die Empirie am rechten Ort. An dem, was ist, erkenne ich nur was nicht ist, wenn ich einen Begriff von dem habe, was nicht ist. Ohne einen Begriff, von dem was nicht ist, erkenne ich auch nicht, was ist. Diese Spekulation ist die Utopie. Die Utopie ist erst der absolute Intellekt, die ich mithilfe der Ratio konstruiere. Wir wissen, dass das geht. Sonst hätten wir nie auch nur eine einzige Frage gestellt. In jeder Frage liegt der Begriff der Utopie bereits zugrunde, sonst könnte man gar nicht fragen. Philosophie gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen, indem sie Antworten ausschließt. Jede Frage richtet sich auf das, was nicht ist, sonst bräuchte man nicht zu fragen. Dies ist die Tätigkeit des Geistes, der objektiv vorliegt und den ich als subjektiviertes Objekt jederzeit erfassen kann. Die Utopie ist immer in direkter Nachbarschaft dessen, was ist und verwirklicht sich als das was nicht ist im objektiven Geist. Die Dystopie vom Untergang der Welt entspringt der Negation der Natur der Idee des Menschen als kulturelles Wesen mit einer zweiten Natur. Es ist die Negation der eigenen Natur, die zur Katastrophe führt. Es ist so simpel, dass man sich wundert, es sagen zu müssen.
ENDE
Der 2. Beitrag 2023
Gedanken beim Denken
Streifschuss vom 02. Januar 2023
Anlass:
eine Auswahl der letzten Notizen
So. Alle uns vertrauten Angestellten des Bundes haben sich nun mit ihren Weihnachts- und Neujahrsansprachen über Krieg, Viren und Gas geäußert. Es war meist langweilig, zuweilen peinlich und vor allem belanglos. Es wäre doch viel schöner, sie würden ihre wirklichen Gedanken bringen und keine textbasierten Monologsysteme.
Hier garantiert kein Bot, sondern die Gedankenschnipsel aus dem letzten Monat des Jahres 2022:
1*
Ich komme inzwischen an die Grenzen meines Wachstumspotentials, aber im Kapitalismus muss ich trotzdem weiterwachsen. Ich müsste also Leute beschäftigen in meinem Wissensgeschäft. Nur kann ich das nicht leisten.
2*
Ich bräuchte noch zwei Leben, um all das zu schaffen, was in meinem Kopf vorgeht und ausgebildet werden müsste. Ich werde nicht fertig. Das ist das Erschütternde an meinem Leben. Ich werde einfach nicht fertig. Ich werde nur, wie viele vor mir und viele nach mir, Stückwerk produzieren. Als Individuum baue ich auf all die anderen vor mir und hoffe auf all die nach mir.
3*
Die Entfernung durch die Individualgeschichte deckt sich nicht mit der Nähe unserer Herkunft.
4*
Mit Kindern und alten Menschen komme ich klar. Sie sind auch klar. Verwirrt sind die, die sich selbst der Vernunft bezichtigen.
5*
Es ist so lustig inzwischen, dass ich in allen Schichten (Klassen) tanze und keine Schicht (Klasse) von der anderen weiß, außer mir.
6*
Alles wird. Nichts ist. Manches war.
7*
Die Medien hassen ihn, und haben ihn gleichzeitig groß gemacht.
8*
Die Leute in der Kulturbranche sind irgendwie unangenehm, müffeln etwas.
9*
Was mich von meiner Familie unterscheidet? Ich erinnere mich nicht nur daran, was andere sagten, sondern auch daran was ich selbst sagte.
10*
Thomas Mann war ein Meister der Montage, ich der Demontage.
11*
Innerhalb kurzer Zeit drei Prosa-Stücke geschrieben. Und alle drei wollte ich genauso. Das ist das schönste Geschenk für mich. Anderes zählt kaum. Ist nur pures Geld verdienen.
12*
Aber das Duschen war heute so schön. Wenn man nur alle paar Tage duscht, dann ist das wie ein Fest.
13*
In der Medizin spricht man von einem iatrogenen Bluthochdruck, einer Hypertonie, von der man die Ursache nicht kennt. Man verschreibt Betablocker. Zwei Drittel der Männer über 50 nehmen das täglich. Dabei müsste man nur dafür sorgen, dass die Schwiegermutter auszieht, dann würde sich der Blutdruck wieder normalisieren. Aber wohin mit der Schwiegermutter? Solange Ärzte sich konsequent weigern, Lösungen für die pathogenen Schwiegermütter zu finden, werden die Pharmakonzerne viel Geld verdienen. Zeit, den Schwiegermüttern eine Dividende auszuschütten.
14*
Zurückbleiben, Türen schließen, Richtung Max-Weber-Platz. Wenn das Fenster offen ist, höre ich diese Frauenstimme. Manchmal die erste Frau am Morgen, eh der Buffo des Tages meine tragische Oper weiter singt. Türen schließen, denke ich der undefinierbaren Frauenstimme noch nach aber zurückbleiben?
15*
Bei Goethe gibt es den Begriff des Aperçus. Im Französischen wohl eine rasche Erstwahrnehmung bezeichnende, bei Goethe eines plötzlichen, totalen Erlebens mit Wandlung des Erlebenden. So dass man von einem Vorher-Nachher-Effekt sprechen kann. Bezogen auf die Liebe ist das gewiss dieser entzündende Moment des sich Verliebens. Daher sind Goethes Liebesreflexionen oft von Naturbeobachtung begleitet. Jede neue Liebe ist für Goethe ein Zwischenkieferknochen des Gefühls. Und dass sich dieses Liebesgenie nicht binden wollte, ist ja wohl klar.
16*
Jetzt muss ich mich da als alleinstehender Teilzeitdozent mit Goethes Liebesleben herumschlagen.
17*
Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit mehr, sie zu übertreten, hat der olle Goethe, das Schlitzohr, mal irgendwo geschrieben. Interessant ist der doppelte Konjunktiv in diesem Satz. Sollte, hätte. Einfach gesagt: Man sollte sie schon studieren, nur was hätte man davon? Das ist der Witz am Gesetz. Ein Strafrechtler kennt sich nicht aus im Steuerrecht und hinterzieht. Ein Arbeitsrechtler kennt sich im Mietrecht nicht aus und kann dem Obdachlosen Arbeitssuchenden auch nicht helfen.
18*
Behörden arbeiten langsam, aber sie arbeiten. Die meisten Verbrecher haben ihre Tat schon vergessen, eh sie zur Rechenschaft gezogen werden.
19*
Inzwischen führen sich die staatlichen Behörden wie Kohlhaas auf und halten sich für die personifizierte Gerechtigkeit. Und wie eine nicht mehr zu stoppende Maschine, rollt diese Gerechtigkeitshypertrophie über den einzelnen Bürger hinweg.
20*
Es ist eine besondere Situation, wenn man plötzlich Zeit hat, die man gar nicht einplante. Fast ist es so, dass diese plötzlich frei verfügbare Zeit Glücksmomente erzeugt, die man noch zusätzlich steigern und auskosten möchte.
21*
Ich hatte mal unter dem Einfluss hochwertigen Cannabis den Gedanken, dass ich ein Kunstbauer bin, Bauernkunst betreibe, ein Ernährer bin, weniger im Rampenlicht stehe, vielmehr wie ein moderner und alternativ denkender Bauer weniger Masse und mehr Qualität erschaffe.
22*
Wenn man einen Château Margaux 1787 aus einem Plastikbecher trinkt, dann liegt die dekadente Würze dieses Tuns sicher nicht am Wein. Inhalt und Form mengen sich zu einer hoch provokanten Aussage. Und Goethes berühmter Spruch „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters besteht darin, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, bekommt eine hinterhältige Bedeutung. Wenn man dagegen einen Domkellerstolz von seiner Plastikflasche in ein edles Zwiesel-Glas schüttet, ist dann die Dekadenz dieser Handlung nicht vom Wein abhängig? Noch verwerflicher, wenn man den Domkellerstolz auch noch degustiert? Als notorischer Biertrinker hätte ich nicht die geringste Chance, diesen Betrügereien auf die Schliche zu kommen. In der Form liegt die Täuschung. Damit ist der Meister im Sinne Goethes ein Betrüger. Wertfrei gesehen, kann man auch zum Wohle anderer betrügen, ohne Egoismus schöne Werke schaffen, die dennoch Betrug sind. Die große Gefahr besteht darin, dass der Betrug auffliegt. Und dazu sagte Thomas Pynchon trefflich: In der Arglosigkeit der Kreatur liegt die Amoral des Meisters.
23*
Gen Süden rauchend schrieb ich: zwischen der armseligen Leiche, die vom Finanzamt ausgecheckt wird und dem papiernen Kunstsubjekt fehlt der Haken. Und jetzt, wieder gen Süden rauchend denke ich: habe ich vergessen, den Haken zu machen? Und! Ist das wirklich alles? Nur ein vergessener Haken? Im Kleingedruckten übersehen? Für das Finanzamt ist das Leben abgeschrieben.
Ich habe es dagegen aufgeschrieben. Die nach mir schreiben es um.
24*
In der Ökonomie wird nicht erst seit gestern ohne Not dilettiert.
25*
Ich bin viel zu selten so böse wie ich bin. Halte mich viel zu oft zurück und bin hasenfüßig. Andererseits liebe ich es, spitz zu sein.
ENDE
Der 3. Beitrag 2023
Widerspruch – Geburt der Dialektik
und Anfang aller Veränderungen
Logik hat als Verstandeslogik einen hohen Stellenwert. Wir kennen diese Auseinandersetzungen alle. Wer hat eigentlich recht? Diese Frage beantwortet man mit Hilfe formaler Logik, mithilfe der Empirie, den Erfahrungen. Angenommen, jemand behauptet, dass Susanne rote Haare hat, kann man denjenigen einfach widerlegen, indem man ihm ein Foto zeigt, auf dem Susanne zu sehen ist und dort hat sie augenscheinlich blonde Haare. Hier ist das alles recht einfach. Man verweist schlicht auf die Tatsachen.
Es war Aristoteles, der diese formale Logik erstmals klar definierte. Wenn es regnet, wird die Straße nass. Dies ist ein Wissen, das ich ohne sinnliche Erfahrung annehmen kann. Es fasst sich in der einfachen Formel: Wenn A dann B, also A dann B. Dies geht nicht umgekehrt. Also von der nassen Straße kann ich nicht darauf schließen, dass es regnet, denn es könnte ja ganz andere Ursachen haben, dass die Straße nass ist. Jemand könnte Blumen gießen und die Straße dadurch nass machen etc. Also wenn B, folgt nicht automatisch A, sondern C,D, oder E usw.
Der Satz des Widerspruchs oder Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch besagt, dass zwei einander widersprechende Gegensätze nicht zugleich zutreffen können.
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt, dass es entweder so ist oder nicht so ist, ein Drittes gibt es nicht. Würde man sagen, es ist entweder so oder anders, dann wäre diese Aussage falsch. Der zweite Schluss muss negativ sein.
Wir kennen hingegen auch die Aussage:
Du widersprichst dir ja selber. Hier fordert das Gegenüber zwingende Argumente auf der Ebene der Verstandeslogik.
Aber gerade die Verstandeslogik bekam im Laufe der Philosophiegeschichte enorme Probleme und verwickelte sich selbst in Widersprüche.
Es gibt in der Geschichte des menschlichen Denkens zwei große Stränge.
Das Lösen technischer Probleme, wie zum Beispiel Navigation auf offener See. Wie bringe ich ein Schiff auf die andere Seite, wenn ich das Ufer nicht sehe. So wurde das Feuer gezähmt, das Rad erfunden und technisch vervollkommnet, und viele andere technische Probleme gelöst, die heute alle zum Standard unseres Daseins gehören.
Der andere Strang menschlichen Denkens entwickelt sich durch eine innere Unruhe. Man kann sich etwas nicht erklären. Woher kommt der Donner? Was ist eigentlich Schlaf? Was geschieht, wenn ich träume? Wo komme ich eigentlich her? Wer bin ich? Wo geht es hin? Es geht hier um Bedeutung! Bedeutet mein Leben eigentlich etwas, bedeutet diese oder jene Erscheinung etwas? Was hat es damit auf sich? Hier geht es nicht vordergründig um Problemlösung. So wurden dazu Mythen ausgesponnen.
Die frühen Philosophen um ca. 600 v. Chr. waren sogenannte Naturphilosophen (Thales von Milet zum Beispiel), und sie entwickelten entsprechende Modelle. Die Anfänge der Naturphilosophie liegen in der griechischen Antike. Die Vorsokratiker suchten nach allgemeinen, konstanten Konstitutions- und Erklärungsprinzipien des Wandels der Erscheinungswelt. Dabei wurden meist ein oder mehrere einheitliche materielle Prinzipien angenommen, die einen gemeinsamen Urgrund (arche) bilden. Thales führte dazu das Wasser an, Anaximenes die Luft, Empedokles alle vier Elemente. Leukippos und Demokrit postulierten kleinste Teilchen: Atome. Anaximander sprach von einem Apeiron (das Unbestimmte), was evtl. mit Feuer oder Äther in Verbindung zu bringen ist.
Diese Erklärungsmodelle unterscheiden sich schon deutlich von den Mythen, denn sie bedienen sich des vorhandenen technischen Wissens. Ihr grundsätzliches Problem ist dabei, dass es Behauptungen sind. Beweise bleiben diese Philosophen denn auch größtenteils schuldig.
Eine gravierende Wende markiert der Satz des Pythagoras: a2 + b2 = c2. Es handelt sich um die Konstruktion von rechten Winkeln. Dieser berühmte Satz über Dreiecke besagt, dass die Diagonale eines Quadrats mit der Seitenlänge 1, also die Verbindungslinie zweier gegenüberliegender Ecken des Quadrats, gleich einer Größe ist, die wir die Quadratwurzel aus 2 nennen. Trotz aller Bemühungen bei der Anwendung ihrer wohl erprobten systematischen Verfahren gelang es ihnen nicht, diese Zahl als ein Verhältnis zweier ganzer Zahlen, also als Bruch auszudrücken. Es war eine neue und besondere Art von Zahl, von den Pythagoreern zuerst arrheton genannt, was besagt, sie sei nicht durch ein Verhältnis auszudrücken. Also eigentlich
„Die Unaussprechliche“. Später nannte man diese Zahlen irrational. Eine Zahl mit unendlichen Stellen hinter dem Komma war für die Pythagoreer ein Skandal. Es riss entschieden eine Kluft zwischen der Arithmetik, die diese seltsamen „irrationalen“ Zahlen erschaffen konnte, und der Geometrie, die sie nicht messen konnte. Die Überlieferung behauptet, die Entdeckung dieser irrationalen Zahlen sei von der Bruderschaft zunächst geheim gehalten worden; es sollte nicht bekannt werden, dass es Zahlen gab, die ihre Lehre in Frage stellten. Als Hippasus die Sünde beging, seinen Schwur der Geheimhaltung zu brechen, und diese schreckliche Wahrheit verbreitete, wurde er ertränkt.[1]
Und dies war der Beginn der Dialektik. Man konnte beweisen, dass etwas nicht beweisbar ist. Ein eklatanter Widerspruch der formalen Logik war entstanden. Die Geschichte mit Hippasus sollte nur unterstreichen, wie Welt bewegend und skandalös die Entdeckung der irrationalen Zahlen war.
Die Form des Beweises zeigte eben, es könnte etwas bewiesen werden, was durch die Erfahrung nicht gestützt wird.
Das Phänomen selbst bedeutete eine endliche Länge, die eine unendliche Zahl hat (Quadratdiagonale)
Die Unendlichkeit in der Endlichkeit! Dies schien den Verstand zu sprengen.
Um ca. 500 v.Chr. trat ein aus Elea in Süditalien stammender Philosoph auf den Plan: Parmenides. Der Gründer der „eleatischen Schule“ und Lehrer des Zenon von Elea.
In seinem Lehrgedicht „Über das Sein“ ging es Parmenides darum, die Alltagswahrnehmung der Welt (in „doxa“ beschrieben) als eine Scheinwahrheit aufzudecken, während die wirkliche Welt („aletheia“) „das Sein“ sei: ein unveränderliches, ungeschaffenes, unzerstörbares Ganzes. Parmenides präsentiert seine Lehre in Form einer kritischen Beweisführung, mit ihm beginnt die Epoche der begriffsanalytisch und logisch argumentierenden Philosophie, an die Platon anschließt.
„Man muss sagen und denken, dass etwas ist: denn das Sein existiert, nicht aber das Nicht-Sein." – Fragment B6.
Nach Parmenides gibt es also nur ein unterschiedsloses Sein, alles andere ist Schein. Bewegung und Mannigfaltigkeit wird aufgehoben. Zenons berühmte Teilungsparadoxien beschäftigen sich dann auch zielgerichtet mit dem Problem des Kontinuums.
Eine seiner Teilungsparadoxien ist die von Achilles und der Schildkröte: Achilles tritt zu einem Wettlauf mit einer Schildkröte an. Weil Achilles ein stolzer Mann ist, gibt er der hoffnungslos unterlegenen Schildkröte einen Vorsprung. Bevor Achilles nun aber die Schildkröte überholen kann, muss er zuerst ihren Vorsprung einholen. In der Zeit, die er dafür benötigt, hat die Schildkröte aber einen neuen, wenn auch kleineren Vorsprung gewonnen, den Achilles ebenfalls erst einholen muss. Ist ihm auch das gelungen, hat die Schildkröte wiederum einen – noch kleineren – Weg-Vorsprung gewonnen, und so weiter. Der Vorsprung, den die Schildkröte zu jedem Zeitpunkt hat, werde zwar immer kleiner, bleibe aber dennoch immer ein Vorsprung, sodass sich der schnellere Läufer der Schildkröte zwar immer weiter nähern, sie aber niemals einholen und somit auch nicht überholen könne.
Zenon sagt weiter, dass ein fliegender Pfeil in jedem Moment seiner Flugbahn einen bestimmten, exakt umrissenen Ort einnimmt. An einem exakt umrissenen Ort befindet sich der Pfeil in Ruhe, denn an einem Ort kann er sich nicht bewegen. Da sich der Pfeil in jedem Moment also in Ruhe befindet, müsste er sich insgesamt in Ruhe befinden. Paradox: Wir nehmen aber an, dass der Pfeil fliegt.
Ein Raum lässt sich also nicht durchqueren, nimmt man logischerweise an, dass dieser Raum in viele Teile eingeteilt ist, die ich jeweils überqueren muss. Die erste Hälfte, dann die nächste Hälfte, die wiederum eine Hälfte hat, so dass ich zum Ende des Raumes nie gelange, mich bestenfalls unendlich annähern kann, indem ich die Hälften immer wieder halbiere. Auch umgekehrt kann ich ja noch nicht einmal einen ersten Schritt unternehmen, da ich schon hier die Halbierungen der Halbierungen vornehmen muss. Der Beweis für die absolute Ruhe und die Illusion von Bewegung.
Um dieses Problem der unendlichen Annäherung lösen zu können, brauchen wir die Dialektik.
Parmenides und Zenon dominierten die Philosophie lange, erst mit Platon und Aristoteles änderte sich dies. Daher spricht man von den so- genannten Vorsokratikern, zu denen auch Parmenides und Zenon zählten.
Das Problem von Achilles besteht nun darin, dass eine Strecke zwar unendlich teilbar ist, aber nicht notwendig aus unendlichen Teilen besteht, sondern sich als Kontinuum verhält. Zenon muss in seinen Paradoxien voraussetzen, dass eine Hälfte endet und die nächste beginnt. Aber dem ist ja nicht zwangsläufig so, da die Hälften zusammenhängen (Kontinuum). Für die formale Logik bedeutet dies, dass sie als Verstandeslogik an eine Grenze stößt, wenn sie es mit Bewegung zu tun bekommt. Die Form der Verstandeslogik widerspricht dann der Welt, da die Verstandeslogik mit Grenzen arbeitet.
Das Dritte, das die Verstandeslogik ja ausschließt (tertium non datur), denn etwas ist oder es ist nicht, ein Drittes gibt es nicht, dies ist jedoch der Prozess der Veränderung von etwas.
Veränderung zu denken, heißt nun, in Widersprüchen zu denken. Aristoteles sagte dazu: Die Grenze ist nur der Möglichkeit nach.
Die Strecke ist zwar unendlich teilbar, aber als Strecke selbst endlich, womit wir es erneut mit dem Problem der Quadratdiagonalen zu tun haben. Ich habe zwar einen endlichen Balken für mein Haus, aber dieser Balken ist in sich unendlich. Die Geometrie kann ihn nicht messen. Die irrationalen Zahlen liegen somit zwischen zwei Zahlen. Die Zahl geht in einen Prozess über. Es gibt daher nur eine Grenze, in dem Augenblick, wo das eine aufhört, fängt das andere an. Daher müssen wir einen fundamentalen Unterschied zwischen Zusammenhang (Kontinuum) und zusammengesetztem (Kontiguum) statuieren. Beides sind Begriffe aus der mechanischen Wissenschaft.
Hegel über einen voraussetzungslosen Anfang der Philosophie:
... Überhaupt kann auch die bisher als Anfang angenommene Bestimmung des Seins ganz weggelassen werden; es wird nur gefordert, dass ein reiner Anfang gemacht werde; es ist somit nichts vorhanden, als der Anfang selbst, und es ist zu sehen, was er ist.
Es ist noch nichts, und es soll etwas werden. Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll; es ist
zugleich das Sein schon in ihm enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts; – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich
Nichtsein ist.
Sein und Nichts sind im Anfange als unterschieden vorhanden; denn er weist auf etwas anderes hin; – er ist ein Nichtsein, das auf das Sein als auf
ein anderes, bezogen ist; das anfangende ist noch nicht; es geht erst dem Sein zu. Zugleich enthält der Anfang das Sein, aber als ein solches, das sich von dem Nichtsein entfernt oder es aufhebt,
als ein ihm entgegengesetztes.
Ferner aber ist das, was anfängt, schon, ebenso sehr aber auch noch nicht. Sein und Nichtsein sind also in ihm in unmittelbarer Vereinigung; oder er
ist ihre ununterschiedene Einheit.
Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins,-...
Dieser zunächst kryptische Text von Hegel aus seiner Vorrede zur wissenschaftlichen Logik bedurfte natürlich einer ausführlichen Diskussion. Was Hegel hier macht, ist aber letztlich ganz einfach. Er reduziert alle Kategorien auf zwei, nämlich Sein und Nichts. Hegels Vorwurf Parmenides gegenüber ist dann, dass wenn alles unterschiedsloses Sein wäre, es mit dem Nichts gleichbedeutend sei. Daher wird das schlichte Wort „Anfang“ zu einem sehr wesentlichen Wort in dem Hegelschen Text. Der Anfang ist das, was noch nicht angefangen hat und nicht mehr nicht angefangen hat. Das ist das, was wir alle kennen, das JETZT. Sein und Nichts kommen nach Hegel zusammen, und nur so entsteht ETWAS. ETWAS ist damit bereits ein ausdifferenziertes Ding. Aber da Hegel ganz am Anfang beginnt, gibt es das ETWAS noch gar nicht, aber eben auch nicht nichts. Das Nichts kann man nicht denken. Jedes Denken ist ja schon vom Sein infiltriert. In dem Augenblick, wo man sich dem Nichts annähert, beginnt es zu flirren. Ein wenig ist das mit dem Prozess des Einschlafens erklärbar, denn wir wissen ja nie, wann genau wir eingeschlafen sind. Wir werden müde, sinken allmählich weg und plötzlich sind wir im Schlaf. Mit dem Aufwachen ist es dann ähnlich.
Die Diskussion darüber ist natürlich ein wenig merkwürdig, da dies zu abstrakt scheint. Aber der Witz ist, dass Hegel selbst sagt, dies sei konkret. So wird ja bei Hegel das Konkrete eigentlich abstrakt und das Abstrakte eigentlich konkret. Und das ist in der Logik folgerichtig. Hegel sagte einmal: Die Kategorien haben uns im Griff und nicht wir die Kategorien. Daher reduziert Hegel die Kategorien auf das Konkreteste schlechthin, auf die Kategorien Sein und Nichts und hier liegt der Anfang.
Der Begriff des Werdens tritt nun auf den Plan.
Hegel selbst:
Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung; als anfangend vom Nichts, das sich auf das Sein bezieht, das heißt, in dasselbe übergeht, oder vom Sein, das in das Nichts übergeht, – Entstehen und Vergehen.
Aber diese so unterschiedenen Richtungen durchdringen und paralysieren einander. Die eine ist Vergehen; Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist eben so sehr das Gegenteil seiner selbst und vielmehr das Übergehen in Nichts, oder Vergehen.
Entstehen und Vergehen sind daher nicht ein verschiedenes Werden, sondern unmittelbar eines und dasselbe ...
Der letzte Satz ist entscheidend, da die Einheit von Entstehen und Vergehen als ein und dasselbe gezeichnet werden. Wenn ich einen Ort verlasse, bin ich irgendwo anders. Einen Ort kann ich nur verlassen, indem ich zu einem anderen Ort gehe. Aber aus dem anderen Ort folgt logisch meine Herkunft. Ich kann folglich nicht von zwei Orten gleichzeitig an einen anderen gelangen oder von einem Ort an zwei andere Orte gleichzeitig gelangen. Auch hinterlasse ich eine Spur, der man folgen kann. Wenn also ein Stoff verbrennt, dann entsteht Asche. Und da macht es nun mal einen Unterschied, ob man Papier oder einen Reifen verbrennt. Denn aus dem Vergehen resultiert das Entstehen des Neuen. Im Entstehenden sind die Bestandteile des Vergehenden enthalten. Damit wird negativ zu positiv. Denn im Resultat steckt die Negation der Negation.
Bestimmte Negation unterscheidet sich von der unbestimmten Negation der formalen Logik. Etwas ist oder es ist eben nicht, ist unbestimmte Negation, in der die Prozesshaftigkeit von Vergehen und Entstehen nicht enthalten ist. Mein Hiersein ist das Nichtsein des Ortes, von dem ich herkomme, also die Negation des Hierseins.
Knapp formuliert könnte man auf die Frage, was denn nun Dialektik sei, antworten: Dialektik ist die Lehre von der bestimmten Negation.
Omnis determinatio est negatio. So formulierte es der Philosoph Baruch de Spinoza. Jede Definition, auch eine solche, in welcher explizit nur auf das Vorhandensein bestimmter wesentlicher Merkmale bei den unter die Definition fallenden Objekte aufgeführt ist, enthält implizit stets auch eine Negation anderer gleichrangiger Merkmale für die infrage kommenden Objekte.
Ganz einfach formuliert: Wenn ich sage, dies ist eine Tasse, dann schließe ich den kompletten Rest der Seins Möglichkeit in der Welt von der Tasse aus. Jede Bestimmung kommt von ihrer Verneinung, ihrer Negation. Die Verstandeslogik bricht notwendig zusammen, wenn die Negation unbestimmt bleibt. Wenn ich nur sage, dass etwas das nicht ist, dann bleibt die Negation unbestimmt. Es könnte weiter alles Mögliche sein. Und dieser Bestimmungsprozess ist der reale Prozess in der Welt, wie es die Metapher vom Ortswechsel schön beschreibt. Das Dasein ist somit das Verschwunden sein des Verschwindens.
Bin ich an einem bestimmten Ort, ist der andere Ort, von dem ich herkomme, an dem jetzigen Ort nicht da, aber als Ergebnis in seiner Negation eben sehr wohl.
Dass die Dialektik als Methode den Prozess, der real geschieht, erfasst, dass einer willkürlich gezogenen Grenze ein realer Prozess zugrunde liegt, das sollte doch eigentlich kein außergewöhnliches Geheimnis sein. Von daher ist es schon eigentümlich und von einem sehr merkwürdigen Widerstand Zeugnis ablegend, wenn das Wort Dialektik den Philosophen ins Abseits drängt, und jede Form von Metaphysik betreibenden Philosophen. Verstandeslogik ist absolut. Es kann niemand Zenon daran hindern, die Strecke zu unterteilen. Aber ebenso kann mich niemand daran hindern, die Strecke zu durchlaufen.
Diogenes, ein Zeitgenosse Zenons, soll mal einen Streit zwischen ihnen um das Kontinuum so gelöst haben, dass er einfach weggegangen ist. Diogenes war ein Praktiker, der es bedauerlich fand, dass er seinen Hunger nicht auf die gleiche Weise befriedigen konnte, wie seinen Sexualtrieb (durch ein paar Bewegungen mit der Hand).
Hegels Begriff von der Entwicklung kommt erstmalig in seiner Philosophiegeschichte vor. Seine Art, über die Geschichte der Philosophie nachzudenken, ist sicherlich das große Novum seiner Philosophie.
Hegel selbst:
So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andere zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, dass jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Die Geschichte der Philosophie folgt nach Hegel den Kategorien der
Philosophie. Zur Erinnerung: Die Kategorien haben uns im Griff, nicht umgekehrt.
Daher musste – nach Hegel – die Philosophie tatsächlich bei Parmenides beginnen und den wesentlichen Kategorien des Seins und des Nichts.
„Die Geschichte ist der Fortschritt des Bewusstseins, der Freiheit“.
Die hier sich eröffnende teleologische Dimension Hegelschen Geschichtsverständnisses ist sicher alles andere als unproblematisch. Aber sie ergibt sich zwingend aus der Philosophie der Dialektik des Vergehens und Entstehens. Philosophiegeschichte ist daher ebenso wie beim Ortswechsel Negation der Negation.
Diesen Gedanken stellte Marx dann auf
die Füße. So müssen wir den Prozess der Geschichte selbst studieren und stellen dabei fest, wie die Gesetze entstehen. Marx sieht hier die existenziellen Bedingungen des Menschen: Was müssen wir
tun, um am Leben zu bleiben. In der menschlichen Geschichte entwickeln sich Verhältnisse heraus, aus den Produktionskräften. Die Produktionsverhältnisse werden zur Schranke der Produktionskräfte
und dies führt zur Revolution. Dies folgt nicht etwa logischen Kategorien, sondern der Logik des Geschehens.
So wurden die Produktionsverhältnisse im feudalistischen Staat unhaltbar durch die technischen Innovationen (Buchdruck, Dampfmaschine etc..). Die
Unvereinbarkeit der Verhältnisse mit den Kräften.
Bei Marx ist die Moral eine Funktion der Geschichte. Die Moral habe nur dann eine Chance, wenn sie einen historischen Rückenwind von den Produktivkräften bekommt. Ein moralischer Umgang miteinander wird zum Selbstzweck des Überlebens der Gattung. Kriege werden notwendig zu einem moralischen Übel, nicht weil der Mensch so moralisch sei, sondern sich aufgrund historischer Notwendigkeiten zu einer Moral aufrafft. Insofern lässt sich jede Krise als einen dialektischen Widerspruch begreifen, aus der uns die Negation der Negation in neue Dimensionen führt.
[1] Aus: Ein Himmel voller Zahlen, John D. Barrow, Spektrum, Seite 26)
ENDE
Der 4. Beitrag 2023
Walpurgisnacht
Eine Analyse
Im nächsten Jahr (2024) wird in Bayerns Schulen Goethes Faust als Pflichtlektüre gestrichen. Aus Weimar bekam Markus Söder daher viel Kritik. Das ist verständlich. Aber auch verständlich ist es, dass ein Werk, das vor über 200 Jahren verfasst wurde Platz macht für aktuellere Literatur. Unabhängig von diesem politischen Kulturstreit möchte ich eine Tiefenanalyse vorlegen zu einem Kapitel dieses Versepos. Warum? Weil Aberglaube, Bigotterie und Unwissenheit kein Vorrecht der Ungebildeten ist, sondern auch ein Phänomen der höchsten Bildungskreise ist. Und weil Goethe – nach Jeremy Adler – der Begründer der Moderne ist und in der Sattelzeit des 18. Jahrhunderts ist der Faust von Goethe eine Zäsur in unsere Zeit.
Das 367 Verse lange Kapitel aus Faust I, das ich hier genauer darstelle, entstand zwischen 1797 und 1801. Goethe lieh sich zu diesem Zweck Bücher über Zauberwesen.
Es ist das nordische Gegenstück zur klassischen Walpurgisnacht, die im zweiten Akt Faust II dargestellt wird. Dort wird es dann ganz antik zugehen und Mephisto bekommt Schwierigkeiten, weil er da nicht zu Hause ist. Hier in der nordischen Walpurgisnacht ist er jedoch der „Herr vom Haus“ bei der Party. Der Chef selber ist Satan. Und wenn der Chef zu Besuch ist, geht es um die Karriere. Mephisto und Faust sind auf der Flucht vor der Gerichtsbarkeit, da sie kurz zuvor Gretchens Bruder Valentin erdolchten.
Im originalen Faustbuch von Johannes Spieß (Volksbuch aus dem Jahr 1587) gibt es keinen solchen Hexensabbat, keine Satans Messe. Die erste Version, die Faust mit der Walpurgisnacht in Verbindung bringt, stammt von Johann Friedroch Löwen, einem Freund und Zeitgenossen Lessings. 1756 wurde das Gedicht „Die Walpurgisnacht“ veröffentlicht, die Faust erstmals dort hinbringt. Löwen hat das ganze Gedicht satirisch angewendet, mit typenhaften Figuren (galante Buhlerin, Stutzer, betrügerischer Kaufmann, Höfling). Sehr möglich, dass dies Goethe mit anregte, so tritt zum Beispiel die Figur der Lilith sowohl bei Löwen, als auch bei Goethe auf.
Hexenverbrennungen
Die Walpurgisnacht, das Hexenbrennen, fand seit dem Mittelalter am 30. April statt, als ein inzwischen kommerzielles Fest in den Mai hinein. Das Walpern, beginnt bereits neun Tage zuvor. Ab 1899 wurden die Touristen mit der Brocken-Bahn auf gut 1100 Meter Höhe hinaufgefahren, als Hexen verkleidet. Aber bereits zwei Jahre später bereitete der damalige Brockenbesitzer, der Fürst von Stolberg-Wernigerode, dem Spektakel per Dekret ein Ende. Felsformationen auf dem Brocken tragen bis heute die Namen „Hexenaltar“ und „Teufelskanzel“. Und inzwischen ist das sicher eine stabile Touristenattraktion, wenn nicht grade ein heftiger Wind bläst auf dem Brocken.
Walpurga war eine englische Benediktinernonne (ursprünglich aus Wessex), die in Deutschland (Heidenheim) im 8. Jahrhundert missionierte und Wunder tat und schließlich heiliggesprochen wurde. Eigentlich war dieses Fest immer schon ein nordeuropäischer und durchaus heidnischer Brauch (Maifest), das Frühjahr zu begrüßen. Dass man im 16. Jahrhundert daraus den Hexensabbat machte, ist eine Stereotype, die Feindbilder bediente und mit dem Aberglauben der Leute in dieser Zeit verknüpft ist.
Eine wichtige Quelle, die auch Goethe nutzte, ist natürlich auch der Malleus maleficarum, in dem die genauen Abläufe einer Satans-Messe geschildert werden. Das Wissen von diesen Abläufen bekam man vor allem durch Folter heraus. Es ist von daher interessant, ganz kurz diesen Massenwahn zu bedenken, dem in der Hexenverfolgung und Ketzerverfolgung Millionen Menschen zum Opfer fielen. Denn man muss bedenken, dass noch zu Goethes Zeiten im Ernst von Hexen die Rede war. In Goethes Geburtsjahr (1749) wurde in Würzburg die Nonne Maria Renata Singer verbrannt und als Goethe 26 Jahre alt war, hat man in Kempten die Dienstmagd Anna Maria Schwägel enthauptet. Und auch das Gretchen-Vorbild Susanna Maria Brandt hat den Gerichtsprotokollen nach behauptet: Sie könne nicht leugnen, daß von der Zeit an, als sie das Leben des Kindes verspürte, der Satan ihr in den Sinn gegeben habe, daß sie in dem grosen Hauß leicht heimlich gebähren, das Kind umbringen, verbergen und vorgeben könne, daß sie ihre Ordinaire wieder bekommen. Der verteidigende Anwalt hat das dann eher als „mildernden Umstand“ angegeben. In Frankfurt wurden zu dieser Zeit keine Hexen mehr hingerichtet. Aber Goethe kannte in jedem Fall die Prozessakten.
Natürlich ist an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Theorien über den Hexenwahn einzugehen. Wie zum Beispiel auf die absurde Theorie der britischen Anthropologin Margaret Alice Murrey, die Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrer Hexerei-These eine heidnische Verschwörung gegen die christliche Kirche aufgedeckt haben wollte. Murreys Ansicht nach existierte tatsächlich ein auf archaischen Fruchtbarkeitsriten aufgebauter Geheimbund, der „Witch-Cult in Western Europe“. Aber damit würde sie im Grunde den Hexenjägern im Nachhinein zu einem gewissen Recht verhelfen. Natürlich gab es keine Verschwörung. Im Gegenteil galt im 13. Jahrhundert nicht die Hexerei, sondern die „Irrlehre vom Hexenglauben“ als Teufelswerk. Der Hexenglaube wurde zunächst für „satanisches Blendwerk“ gehalten. Doch in dieser Zeit lebte ein alter Glaube wieder auf, der sich aus dem iranischen Manichäismus speiste, einer Idee des Dualismus in einem ewigen Ringen von Licht und Dunkel gegeneinander. Die Katharer im Westen und die Bogomilen im Osten waren Asketen, die sich von der Materie fern hielten und sogar den Geschlechtsakt in der Ehe für falsch hielten, da man sich so mit der dunklen Materie einließe. Es waren gnostische Lehren, gemischt mit urchristlichen Gedanken. Goethe selbst kannte diese sehr wohl und pflegte selbst einen gemäßigten Dualismus (siehe 8. Buch aus Dichtung und Wahrheit). In seiner Farbenlehre kommt dies deutlich zum Ausdruck und einiges davon finden wir eben auch im Faust. „Unser Geist scheint auch zwei Seiten zu haben, die ohne einander nicht bestehen können. Licht und Finsterniß, Gutes und Böses, Hohes und Tiefes, Edles und Niedriges und noch so viel andere Gegensätze scheinen, nur in veränderten Portionen, die Ingredienzien der menschen Natur zu sein, und wie kann ich einemMahler verdenken, wenn er einen Engel weiß, licht und schön gemahlt hat, daß ihm einfällt einen Teufel schwarz, finster und häßlich zu mahlen?“
An Eckermann berichtet er noch: „Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel zu, und fehlen ein- wie das andremal: in uns selbst liegt das Räthsel, die wir Ausgeburt zweier Welten sind. Mit der Farbe geht’s ebenso; bald sucht man sie im Lichte, bald draußen im finsteren Weltall, und kann sie gerade da nicht finden, wo sie zu Hause ist.“ So wie Faust im Himmelsprolog in „die Klarheit (309) geführt werden soll und tatsächlich am Ende der „nicht mehr Getrübte (12074) ist. Jedenfalls schrieb Goethe selbst über den Hexensabbat an Frau von Stein „dass es weder ganz leer noch ganz Betrug“ sei. Eine Zwienatur in uns wird geeint, wie es in Vers 11954 heißt: Kein Engel trennte geeinte Zweinatur der innigen Beiden, die ewige Liebe nur vermags zu scheiden.
Die Kirche jedenfalls fing an, die Häretiker (Katharer und Bogomilen) zu bekämpfen. Dies waren die ersten Ketzersäuberungen im 13. und 14. Jahrhundert, einer Zeit, in der die Macht der Kirche erste Einbußen erlebte und die Klasse der Kaufleute und der Ritterstand die Bildungshoheit gegenüber den Mönchen übernahm. Die Katharer wirkten in Frankreich, und die Bogomilen im byzantinischen Bosnien. Um aber die Ketzer tatsächlich verurteilen zu können, musste die Kirche ein Stück des Glaubens der Häretiker in sich aufnehmen. Der Dualismus, der eigentlich bekämpft werden sollte, verschmolz im Hexenwahn. Die Katharer und Bogomilen verurteilten ja den Satan. Und den Ketzern wurde dann umgekehrt der Verkehr mit Satan vorgeworfen.
1486 entstand dann der Malleus malificarum, von dem Dominikaner-Mönch Heinrich Kramer verfasst. Die spanische Inquisition hat ihn zunächst nicht anerkannt. Aber das Feuer war angezündet. Schon 1326 gab es eine Bulle von Papst Johannes XXII, der die Zauberer mit den Ketzern gleichsetzte. Dieser Papst war voller Angst vor Hexen und Zauberei. Erst 1487 wurde es offizielle Kirchenlehre durch Papst Innocenz VIII, mit seiner berühmten Hexenbulle. Und die weltliche Gerichtsbarkeit hat dann dies im Hochgericht durchgeführt. Es waren Bestialitäten. Nicht nur Folter, sondern übelste Verstümmelungen, von Vierteilung, Haut abziehen, Gliedmaßen abtrennen und so weiter. Dabei gab es keine Klasse, die verschont blieb. Die durch Folter geständigen Zauberer, Ketzer und Hexen verrieten immer weiter Namen, die beim Hexensabbat dabei gewesen sein sollen. Der Besitz der Gefolterten und Verurteilten ging in die Kirche über.
Verlauf der Walpurgisnacht in Goethes Faust I:
Mephisto (Mephistopheles heißt er bei Goethe, in Original heißt er Mephostophiles / griech. me phos to philes = der, der das Licht liebt, Goethe machte daraus me phys to philes = der, der den Körper liebt) steigt mit Faust auf den Blocksberg. Bereits angekündigt war dies in der Hexenküche im Vers 2588-90 wo Mephisto zur Hexe sagt: Und kann ich dir was zu Gefallen tun, so darfst du mir’s nur auf Walpurgis sagen.
Bevor Faust und Mephisto gemeinsam Margaretes Bruder töteten, sagte Mephisto ab Vers 3659: ein bißchen Diebsgelüst, ein bißchen Rammelei. So spukt mir schon durch alle Glieder, die herrliche Walpurgisnacht, die kommt uns übermorgen wieder, da weiß man doch, warum man wacht.
Mephisto verlangt es nach einem Besenstiel, Faust will wandern, die Natur genießen. Auf einem Besenstiel zu reiten ist deutlich eine sexuelle Anspielung. Angeblich haben sich die Hexen eine Salbe in die Vagina gestrichen. Grimmelshausen beschreibt es anders: „ … denn sie hatten sich erst angezogen und anstatt des Lichts eine schweflichte blaue Flamm auf der Bank stehen, bei welcher sie Stecken, Besen, Gabeln, Stühl und Bänk schmierten und nacheinander damit zum Fenster hinaus flogen.“
Der Mond ist jetzt rot und „leuchtet schlecht“. Mephisto will daher ein Irrlicht hervorholen, damit er nicht dauernd stolpert. Irrlichter galten als dämonisch. Ignis fatuus (Narrenfeuer) oder Sumpflicht, das gerne in Mooren, dunklen Wäldern oder auf Friedhöfen gesichtet wird. Und das Irrlicht begrüßt M als „Herr vom Haus“. Er ist einer von vielen auf dem Blocksberg. Der Chef kommt zu Besuch.
Gemeinsam singen nun Irrlicht, Mephisto und Faust im Wechsel, es werden die Naturgeister beschworen, wie im Studierzimmer (1275), an Echo wird erinnert (die konnte Narziss ihre Liebe nicht gestehen, weil sie von Hera der Stimme beraubt wurde – sie hatte Hera mit Geschichten abgelenkt, damit Zeus wo anders naschen konnte).
Nun erblickt Mephisto einen Berg, der glüht, leuchtet vom Mammon. Das ist erneut ein übler Geist, diesmal, der personifizierte Reichtum, der die Menschen zum Geiz verführt. Im Mummenschanz (Faust II, Akt I) wird Mephisto als personifizierter Geiz erscheinen. Und in der Hexenküche (Vers 2398) heißt es: Und wär ich bei Geld, so wär ich bei Sinnen. Geld und Sex haben immer schon einen tieferen materialistischen Zusammenhang gehabt. Das ist das, was die Katharser gemeinsam als „dunkle Materie“ bezeichneten. Sie waren Asketen, lehnten Sex und Besitz ab.
In den Versen von 3936 bis 3955 wird eine Stimmung erzeugt, wie in einem typischen Horrorfilm. Nebel kommt auf, aufgescheuchte Eulen, wohl auch Fledermäuse, sie krachen splitternd durch das Geäst. Dann hört man schon Stimmen, Lärm der von der entfernten Party (Orgie) kommt.
Dann singen die Hexen im Chor. Ein Haufen sammelt sich. Sie begegnen Urian, der veraltet für einen „unliebsamen Menschen“, aber auch den Teufel steht. Und Baubo, die sich vermutlich verlaufen haben muss, denn sie wäre eher eine Gestalt der klassischen Walpurgisnacht. Sie kommt im eleusischen Fruchtbarkeitsmythos um Demeter vor. Dennoch passt sie auch wieder, denn sie ist eine recht derbe Dame, die der um ihre verschollene Tochter Persephone trauernden Demeter zur Aufheiterung derbe Witze erzählt.
Einmal nimmt Baubo die von der Suche nach ihrer Tochter völlig erschöpfte Demeter bei sich aufnimmt, bringt einen Mischtrank aus Wein
und Getreide, den die Göttin aber ablehnt und sich in keiner Weise in ihrer Trauer ermuntern lässt. Da greift Baubo zu anderen Mitteln: sie geht und macht ihren Unterleib glatt und weich wie ein
Kind (d. h. wohl, dass sie die Schambehaarung rasiert), dann kehrt sie zurück, beginnt Scherze zu treiben und deckt schließlich ihren glatten Unterleib auf. Sprach's und raffte empor die
Gewänder und zeigte die ganze Bildung des Leibs und schämte sich nicht. Und der kleine Iakchos (Kriegsgeschrei) lachte und schlug mit der Hand der Baubo unter die Brüste. Wie nun
die Göttin dies merkte, da lächelte gleich sie von Herzen, nahm dann das blanke Gefäß, in dem ihr der Mischtrank gereicht war. So heißt es bei Aristophanes (Die Frösche).
Hier bei Goethe reitet Baubo auf einem Mutterschwein, das sind Schweine für die Zucht, also ganz allein für eine spezielle Sache.
Eine Stimme erwähnt, dass sie über den Ilsenstein angereist ist. Hier ist ein Einsprengsel mit Zeitsatire von Goethe. Dort hat der Graf Stolberg zu
Wernigerode (der in den Walpurgisnachtstraum als „Orthodox“ noch vier Zeilen bekommt, 1814 ein Gipfelkreuz anbringen lassen zum Gedenken an die Befreiungskriege. Graf Stolberg war
Teilnehmer der Koalitionskriege gegen das Revolutionsheer und Napoleon. Zudem ist der Ilsenstein auch umrankt von Sagen, zum Beispiel über den Frankenkönig Heinrich I (Heinrich der Vogler), der
dort wohl gekrönt worden sein soll. Das ist der Gründungsmythos des HRR Deutscher Nation. Goethe ironisiert so den nationalen Mythos.
Der Hexenmeister verkündet, dass die Frauen schon vorausgeeilt sind und die andere Hälfte zeigt, wie das gemeint ist. Denn der Mann macht es mit „einem Sprung“ (Vers 3985) und das ist ein besonderer Sprung, denn hier geht’s tierisch zu und das wird „besprungen“, schließlich sind Böcke und Ziegen unterwegs.
Die im Vers 3989 offenbarte „Unfruchtbarkeit“ bezieht sich wiederum auf die Historie, nach der die Dämonen, sowohl Incubus als auch Succubus unfruchtbar waren.
„Wer heute sich nicht heben kann, ist ewig ein verlorner Mann“ singt der Chor in Vers 4002-4 und der Hexenchor kann dieses Elevationsphänomen (die liturgisch das Heben der Hostie mit der hebenden Schwellung des männlichen Geschlechts verzahnt) mit Hilfe der Pharmakologie erreichen (Vers 4008), und tatsächlich haben Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche, Eisenhut und Wasserschierling als Salbengrundlage gedient. Anton Praetorius (1560-1613, Kämpfer gegen die Hexenprozesse) beruft sich hier auf Paracelsus und berichtet von solchen Hexensalben (gemacht aus dem Fleisch ungeborener Kinder – klar, was sonst, das erinnert an die Q-Anon-Verschwörung), die Frauen fielen daraufhin in einen unruhigen Schlaf und erwachten mit einem mächtigen Kater. Dann berichteten sie von Orgien und satanischen Erscheinungen, und dass sie wohl der Satans-Messe beigewohnt. Für solche Träume wurde man dann gevierteilt. Sexuelle Phantasien reichten schon aus zur Verurteilung.eH H
Faust merkt, dass ihn Mephisto ablenken will vom Gedränge. Aber Faust blickt hinauf und sagt „Doch droben möcht ich lieber sein“ (V 4037), damit ist natürlich gemeint, dort oben, wo der Satan gerade seine Bergpredigt hält und die Huldigungen stattfinden. Faust will also den Satan kennen lernen. In dieser nun offiziellen Fassung der Walpurgisnacht verhindert Mephisto dies. Manche Exegeten behaupten, dass Mephisto fürchten musste, wenn Faust die Szenen auf dem Berggipfel sieht, dass er sich voll Stolz und Ekel davon abwenden würde und ihn Mephisto so verlieren würde. Eher zu vermuten ist, dass dies der Logik der Selbstzensur entspringt. Und Mephisto sagt nun, dass man in der großen Welt man kleine Welten macht (V 4045), was wieder auf das Mikro-Makrokosmische Weltbild verweist. Mephisto ist der Werber und Faust der Freier. Damit ist Mephisto der Zuhälter und Faust eben das, was man schon im Rotwelsch „Freier“ nannte und auch heute noch.
Der nun eingefügte zeitsatirische Schwenk oder Schwank zu den alten Herren zeigt, dass eben nicht nur Hexen, sondern auch hochgestellte Personen an
der Teufelszeremonie teilnahmen. Und Zeitzeugen berichten allemal davon, sie seien Zeugen dieser grausigen Zeremonien gewesen. Was auch immer diese Voyeure gesehen haben mögen. Im Vers 4090
ist schon eine Vorausdeutung zum Anfang des zweiten Aktes gegeben. Denn dort gibt es ein Zwiegespräch zwischen Mephisto und dem zum Bakkalaureus aufgestiegenen Schüler über die Vorzüge der Jugend
gegenüber dem Alter.
Die Trödelhexe baut ihren Stand auf und bietet jene üblen Dinge feil (Vv 4104-9), die ja typische Insignien des Schadenszaubers waren, der oft vor allem das Sexuelle betraf. Hier erwähnt die Hexe den Dolch, mit dem Valentin getötet wurde, den Kelch, aus dem die Mutter Gretchen das Gift trank und den verhängnisvollen Schmuck, der das unschuldige Ding verführte. So muss man Gretchen wohl als Hexe wahrnehmen. Und Fausts Ausruf „heiß ich mir das doch eine Messe“ (V 4114) bezieht sich auf die Satans-Messe und nicht auf den Trödel (wie Exegeten gerne sonst vermuten), denn Mephisto spricht gleich vom Strudel der nach oben strebt (V 4116) und bittet Faust Lilith anzuschauen. Sie ist eine Dämonin aus altsumerischen Quellen, ein geflügeltes Mischwesen. Im Talmud wird sie als erste Frau Adams erwähnt, die Gott wieder tötete, weil sie sich dem Manne nicht unterwerfen wollte. Sie war – wie Adam – aus Lehm gestaltet worden und dem männlichen ebenbürtig. Die Bibel erwähnt sie in Jesaja 34,14 „Wüstenhunde und Hyänen treffen sich hier (Edom, wird gerichtet wegen des Hasses der Edomiten auf Israel), die Bocksgeister begegnen einander, auch Lilit (das Nachtgespenst) ruht sich dort aus und findet für sich eine Bleibe.“ In einer späteren Vorstellung wird Lilith zu einer kindstötenden Dämonin (und Vorlage der Succubus-Erscheinung, die nachts Männer besucht und für einen nächtlichen Samenerguss sorgt).
Nun geht es zum Tanz, der Hexentanz, der ja zum festen Ritual gehört. Faust tanzt nun mit einer jungen und erzählt ihr in Anlehnung an das Hohelied von Salomon von „zwei schönen Äpfeln“ (V 4130). Salomon nennt Schulamit (aus Hohelied 7,1 „Wende dich, wende dich, Schulamit! Wende dich, damit wir dich betrachten“) „meine Schöne“ (2, 13).
Man muss nicht lange überlegen, welche Äpfel Faust da gemeint haben könnte. Jedenfalls „sie reizten mich, ich stieg hinan“, ist hier derb sexuell, während zum Finale in Faust II der Schlusssatz „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“ wiederum zu einer Transzendierung dieser nur sexuellen Vokabel wird.
Und die Schöne nimmt das auf und kommt gleich zur Sache, indem sie Faust an den verbotenen Apfel im Paradies erinnert (V 4133).
Während dessen tanzt Mephisto mit der Alten (vermutlich um sein Versprechen an die Hexe aus der Hexenküche einzuhalten (V 2390). Zugleich wiederholt sich das formal als Reigen, wie in Marthens Garten.
Und wieder eine zeitsatirische Einmengung: Der Proktophantasmist ist ein Neologismus von Goethe, den man mit „Steißgeisterseher“ übersetzen kann. Damit ist ein Zeitgenosse Goethes gemeint. Und zwar Friedrich Nicolai, auch Nickolai (* 18. März 1733 in Berlin; † 8. Januar 1811) war
ein Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, Freund Lessings, Zelters und Mendelssohns, Gegner Kants und Fichtes. Nicolai litt im Frühjahr 1791 acht Wochen lang an einer Störung, in deren Folge er
Geisterscheinungen (Phantasmen) wahrnahm. Er kurierte sich mit am Gesäß angesetzten Blutegeln (eine seinerzeit verbreitete medizinische Methode) und berichtete über gute Erfolge dieser Maßnahme
sogar vor der Berliner Akademie der Wissenschaften. Daraufhin ließ ihn Goethe in seinem Faust, in der Szene Walpurgisnacht, als „Proktophantasmist“ (Steißgeisterseher) auftreten:
Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt's in Tegel (Poltergeist-Spuk 1797 in Berlin Tegel).
Wie lange hab' ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
und nie wird's rein; das ist doch unerhört!
Das wird von Mephisto wie folgt kommentiert:
er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
das ist die Art, wie er sich soulagiert,
und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergötzen,
ist er von Geistern und von Geist kuriert.
Währenddessen lässt Faust das Mädchen stehen, weil ihr „ein rotes Mäuschen aus dem Munde“ schlüpfte (V 4179). Hier bediente sich Goethe auch wieder bei Praetorius, der von einem thüringischen Gutshof berichtet, eine Magd sei beim Obst schälen eingeschlafen und „da kreucht ihr zum offnen Maule herauß ein rothes Mäuselein“. Daraufhin fand sie den Tod. Praetorius berichtet, dass auf dem Hof ein Knecht gelebt haben soll, der schon vielfach „von einer Truth gedrukt worden sei“ und nicht eher Ruhe gefunden hätte, als bis die Magd eben tot sei. Die rote Maus war die heraushängende Zunge der erwürgten Magd.
Mephisto versucht Faust zu beruhigen, dass das nichts Schlimmes sei. Aber der Schock der roten Maus sitzt wohl tief, denn gleich darauf erscheint ihm das Idol von Gretchen als Tote (V 4190). Die junge Hexe mit ihrer roten Maus hat Faust quasi noch einmal gerettet. Mephisto tut zwar so, als wäre das ein Trugbild von Meduse (eine der Gorgonen bei der man zu Stein erstarrt, wenn man sie anblickt – ihr werden wir in der klassischen Walpurgisnacht wirklich begegnen und das wird für Mephisto kein Spaß).
Dass Gretchens Hals von einem „roten Schnürchen“ geziert wird, das ist sicher die Blutspur durch die Köpfung. Jean Bodin schildert in seiner De Magorum Daemonomania genau so eine Geköpfte „mit einer roten Blutschnur um den Hals“. In Faust II im dritten Akt kommt es zu einer weiteren Hinrichtungsszenerie, wo Mephisto die mögliche Hinrichtung Helenas durch Menelaos schildert (in Anspielung auf Marie Antoinette). Und schon darauf kündigt der Servibilis (dienstbarer Geist des Theaters) das Stück an, das nun als Intermezzo folgt und bei dem Faust nur Zuschauer ist. Der Walpurgisnachtstraum der sich an Shakespeares Sommernachtstraum anlehnt. Shakespeare war Goethes Säulenheiliger und ohne ihn wäre Goethe wohl auch kaum vorstellbar.
Nach dem Intermezzo käme nun die eigentliche Satans-Messe.
Und dieser Sabbat (Synagoga Satanae) verläuft genau umgekehrt wie eine herkömmliche Messe. Genau dies schildert Goethe auch. Doch er unterzieht die Szenen einer Selbstzensur, die bis heute nicht gedruckt vorliegen, sondern als eine Art Paralipomena in handschriftlicher Form in Weimar (dort im Gartenhaus) einsehbar.
Zunächst wandert der Zug der Hexen zum Blocksberg, wo auf der Höhe Satan seine Bergpredigt halten wird. Dann kommt es zur Huldigung Satans. Der Homagium, einem Treuegelübde des Vasallen gegenüber seinem Lehnsmann. Das ist der Kuß auf den Hintern Satans, wie es der Ceremonienmeister in den Paralipomena darstellt. Es kommt zur Prostration, der Niederwerfung vor Satan.
Danach findet der Hexentanz statt (Faust tanzt mit der jungen Hexe) und anschließend kommt es zu einer rituellen Orgie, wo sich jeder mit jedem vermischt. Im Malleus maleficarum werden denn auch die abstoßenden Sexualpraktiken geschildert. Darin kommt auch die Homophobie zum Ausdruck, denn wenn nicht genug Männer da sind, treiben es die Weiber untereinander und umgekehrt. Auch die Lehre vom Succubus und Incubus als Vereinigung mit dem Dämonischen folgt dem Hexenhammer und wird von vielen Hexentheoretikern der damaligen Zeit (Jean Bodin, Anton Praetorius, – alle hat Goethe nachweislich gelesen) geschildert. Die Umkehrung der Messe geht bei Goethe tief in den Text ein. So schildert Satan die Böcke zur rechten, die Ziegen zur linken. In Matthäus 25, 31 (Schilderung des Weltgerichts) heißt es: Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. In der Satans-Messe genau anders rum.
Die Böcke zur rechten, / Die Ziegen zur lincken / Die Ziegen sie riechen / Die Böcke sie stincken / Und wenn auch die Böcke / Noch stinckiger wären / So kann doch die Ziege / Des Bocks nicht entbehren.
Des Weiteren die Hinweise auf Gretchen, die offensichtlich dem Bösen verfallen ist, und die ja in der offiziellen Fassung der Walpurgisnacht Faust als Tote erscheint, bereits hingerichtet. (V 4195), in der nicht veröffentlichen Satans-Messe spricht Satan vom „glänzenden Gold und dem weiblichen Schoos“, und Gretchen in ihrer Stube sprach noch vom „Golde hängt doch alles ab (V 2803)“ und dann vor dem Stelldichein (nach Wald und Höhle), drängt sich ihr Schoos nach ihm (hier zwar Busen, V 3406 / im Urfaust aber noch Schoos).
Satan rechts gewendet. / Euch giebt es zwey Dinge / So herrlich und groß / Das glänzende Gold / Und der weibliche Schoos. / Das eine verschaffet / Das andre verschlingt / Drum glücklich wer beyde / Zusammen erringt.
Und:
Satan lincks gewendet. / Für euch sind zwey Dinge / Von köstlichem Glanz / Das leuchtende Gold / Und ein glänzender Schwanz / Drum wißt euch ihr Weiber / Am Gold zu ergötzen / Und mehr als das Gold / Noch die Schwänze zu schätzen /
Goethe schildert in seiner Satans-Messe ziemlich genau die Abfolge dieses Rituals nach damaliger Vorstellung in seiner ganzen perfiden Zotigkeit und tat wohl ganz recht, diese Szenen in den literarischen Giftschrank zu sperren. Dennoch kann man die Walpurgisnacht im Faust ohne die Satans-Messe gar nicht verstehen.
Der kulturhistorische und literarische Mehrwert dieses Faustkapitels liegt auf der Hand. Als Höllenepilog strömt die Menge dem Bösen zu und Goethe erkannte in der Industrialisierung und dem Aufkommen des Kapitalismus das „velofizerische Zeitalter“ (Goethes Kofferwort setzt sich aus velos = eilig, und Luzifer zusammen). Goethe war allerdings kein Bremser oder Bedenkenträger. Der alptraumhafte Rausch dieser Verse verweist nur auf das Finale im fünften Akt Faust II, kurz vor Faustens Tod:
Faust: „Es ist die Menge, die mir frönet, die Erde mit sich selbst versöhnet“
Mephisto: „In jeder Art seid ihr verloren; – Die Elemente sind mit uns verschworen, und auf Vernichtung läuft’s hinaus.
Wer hat das Haus so schlecht gebaut? Es war auf kurze Zeit geborgt; der Gläubiger sind so viele ….
ENDE
Der 5. Beitrag 2023
Prolog im Himmel
aus dem dreifachen Präludium des Faust I von J. W. von Goethe Im klassischen Theatrum mundi (Welttheater) der Antike und des Mittelalters, war der Mensch nur Spielfigur höherer göttlicher Anordnungen. So gibt es imantiken Theater ja diese deus ex machina. Und in der frühen Neuzeit (Hans Sachs, Calderon) war es üblich, vor dem Stück den lieben Gott sprechen zu lassen.
Am Neujahrstag 1801 saßen Goethe, Wieland, Herder und Schiller vereint im Weimarer Theater und lauschten hingebungsvoll der Aufführung von Haydns „Die Schöpfung“. In diesem Oratorium treten wie hier im Himmelsprolog drei Erz-Engel auf. Raphael, Gabriel und Uriel. Es gibt einige Gemeinsamkeiten des Himmelsprologs mit Haydns Schöpfung, dessen Text von dem Habsburger Diplomat Gottfried Freiherr van Swieten - dessen Vater immerhin der Leibarzt von Maria Theresia war - dürftig aus dem Englischen übersetzt wurde, und dann auch noch dürftiger rückübersetzt. Ursprünglich ist das Libretto eines Unbekannten (Linley, Lidley?). Eine Kompilation aus der Genesis, den Psalmen und Paradise Lost von John Milton (Freigeist, Frühaufklärer). In seinem Versepos zeigt John Milton Luzifer – der er dort „Satan“ nennt und somit mit diesem gleichsetzt – als stolzen, ehrgeizigen Engel, der sich nach seiner Auflehnung gegen Gott gestürzt in der Hölle wiederfindet. Dort übernimmt er die Leitung und setzt, von Mammon und Beelzebub unterstützt, erfolgreich seine rhetorischen und organisatorischen Fähigkeiten ein. Später betritt er den Garten Eden, um dort in der Gestalt einer Schlange Adam und Eva zu verführen, vom Baum der Erkenntnis zu essen.
Goethe bedient sich im Himmelsprolog sprachlich aus Miltons „Verlorenes Paradies“. John Milton war ein früher englischer Aufklärer 100 Jahre vor Goethe. Milton schrieb die Aeorpagitica, eine berühmte Rede für die Pressefreiheit. Lost Paradise ist ein Langgedicht über den Fall Luzifer. Klopstocks Messias ist davon beeinflusst. Und Klopstocks Messias löste vor allem bei der Jugend durch seinen erhabenen Stil starke religiöse Gefühle aus und war im 18. und 19.Jahrhundert ein Kultbuch.
Ebenso erinnert der Himmelsprolog
im Faust I an die Bibel, vor allem an Hiob und der dort ebenfalls stattfindenden Wette Satans mit Gott.
Und es gibtin Goethes Prolog weitere entscheidende Unterschiede zu Haydn, und die sind enorm. Und sie sind
von Wichtigkeit, um den Faustzur Gänze verstehen zu können „Die Schöpfung“ von Haydn lehnt sich zwar an „Paradise Lost“ an, an das
„verlorene Paradies“, aber der Sündenfall ist ganz ausgeklammert. Die Aufklärung feiert bei Haydn den Menschen als eine gelungene Schöpfung Gottes. Kant schrieb die programmatische Schrift „Zum
ewigen Frieden“, Hölderlin dichtete seine Friedensfeier, Schiller die Horen. Goethe setzt die Harmonie der Natur der verworrenen Geschichte des Menschen entgegen. Das ist programmatisch für den
gesamten Faust in Goethes Version.
Zunächst wird die alte Ordnung der Schöpfung durch die Erzengel gepriesen. Und dann weiß Mephisto „Von Sonn und Welten nichts zu sagen“. Er sieht nur „wie sich die Menschen plagen“. Goethe sieht also die Natur in Ordnung. Nur der Mensch bekommt es einfach nicht auf die Reihe.
„Der kleine Gott der Welt bleibt stets vom gleichen Schlag.“ Und dann kommt Jean Jacques Rousseau!
„Ein wenig besser würd‘ er leben, hättest du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; (V280) In der Tat! 1750 gab Rousseau auf die Frage der Akademie von Dijon, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe, eine provokante Antwort: Nein, sagt Rousseau. Immer dann, wenn Wissenschaft und Kunst in einer Gesellschaft florieren, gerät die Tugend ins Hintertreffen. Rousseau spricht vom „Giftstoff eitler Kenntnisse“ und glaubt zu beweisen, dass das Streben nach Wissen zwingend Laster provoziert, die im Zustand „glücklicher Unwissenheit“ unbekannt waren.
Also: Ein wenig besser würde er leben, der Mensch, ohne das Licht der Aufklärung. „Ist auf der Erde dir gar nichts recht?“ fragt Gott den Teufel. Und dieser antwortet: „Nein Herr, ich find es dort, wie immer herzlich schlecht.“ (V295).
Also alles andere als eine gelungene Schöpfung. Zwar herrscht die alteSphärenharmonie wie eh und je. Aber es ist auf der Erde auch weiterhin so miserabel wie eh und je. Kein unbekannter Standpunkt zu der Zeit vor allem nachder Revolution. Schon der Frühsozialist Charles Fourier konnte sich mit dem Gang der Französischen Revolution (Revolution ist ein Sphärenbegriff für den geordneten Verlauf der Sterne, aber in der Menschheitsgeschichte drückt er das Gegenteil aus) nicht anfreunden. Nach seiner Meinung hatte die Masse des Volks sehr wenig dadurch gewonnen. Viel mehr dagegen hatte die Klasse, die er aufs Tiefste hasste, die handeltreibende Klasse, profitiert. Die Handelsfreiheit als das Ei des Columbus zu rühmen, erbitterte Charles Fourier.
„Er hatte gesehen, dass, während die Revolutionäre sich bemühten, mit größter Rücksichtslosigkeit Alles mit blutiger Gewalt niederzuschlagen, was ihren Begriffen von gesellschaftlichem Glück entgegenstand, das Kapital im schreiendsten Widerspruch mit den gepredigten Grundsätzen agierte. Er sah, wie der Güterschacher, der Lebensmittelwucher, die Lieferungsschwindeleien blühten und die neu emporgekommenen und plötzlich reich gewordenen Besitzer ihre Orgien feierten.“ So schildert es August Bebel in seiner Biografie über Charles Fourier.
Faust fordert die „höchsten Sterne“ und die „höchste Lust“ und später im Nacht-Monolog wird Faust selbst das alles für eitlen Mist erklären, weil er nichts begreift. Selbst zu Wagner sagt er (Vers 1065 / Wagner bezeichnet die Vermehrung der Wissenschaft als höchstes Ziel): Glücklich wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen, Was man nicht weiß, das eben brauchte man, und was man weiß, kann man nicht brauchen. Und wendet sich dann der Natur zu, der Abendsonne.
Goethe sagte, (um 1800 entstanden), dass er sich für seinen Faust bei Hiob bediente. Dieser Prolog ist historisierend, weil in der Zeit Goethes der Herr – also Gott selbst - selbst nicht mehr auftrat. Im 16. Jahrhundert (Hans Sachs, Meistersinger, Zeitgenosse des historischen Fausts, schrieb 6000 Stücke) war das noch üblich. Und in dieser Zeit spielt nun mal der Faust. Hinzu möchte ich klar machen, dass das Volksbuch von 1587 (herausgegeben von dem protestantischen Verleger Johannes Spieß als reformatorische Propagandaschrift) entschieden das einfache Volk anspricht. Das Wissen der damaligen einfachen Leute kam von Kalendergeschichten. Das waren Bauernweisheiten, religiöse Sinnsprüche, aber eben auch das, was der Pfarrer am Sonntag predigte. Der Besuch in der Kirche war immer noch das Bildungsinstitut dieser Zeit für die meisten einfachen Leute.
Aufbau des Himmelsprolog
Raphael der Erzengel ergreift das Wort und besingt die Weltharmonie der alten Welt: Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebene Weise vollendet sie mit Donnergang. Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke, wenn keiner sie ergründen mag. Die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag.
Die Sonne tönt nach alter Weise In seinem Werk „Vom Himmel“ schreibt Aristoteles über die pythagoreische Geheimlehre folgendes:
Es scheint nämlich einigen Denkern eine notwendige Folge zu sein, dass infolge der Bewegungen so gewaltiger Körper (der Gestirne) ein Geräusch entsteht. Denn das ist ja schon bei Körpern hier auf Erden der Fall, die doch weder das gleiche Volumen haben noch sich mit solcher Schnelligkeit bewegen. Wo sich aber Sonne und Mond, ferner eine solche Menge so gewaltiger Gestirne mit solcher rasenden Geschwindigkeit bewegten, da müsse unbedingt ein Geräusch von einer über alle Begriffe gehenden Stärke (Goethe spricht vom Donnergang) verursacht werden. Das nehmen sie an und ebenso, dass die Schnelligkeit infolge der (verschiedenen) Entfernungen (der Gestirne vom Mittelpunkt des Kosmos) den Zahlenverhältnissen der musikalischen Harmonie entspreche. Daher behaupten sie, dass durch den Kreislauf der Gestirne eine musikalische Harmonie von Tönen verursacht wird.
Dass wir die Töne nicht hören könnten, das läge den Pythagoreern zufolge daran, dass die Töne dauernd produziert würden. Wir hören sie im Grunde vom ersten Tag unserer Geburt und so dringt das gar nicht in unser Bewusstsein. Nur „Geistesohren“ (V4667) können sie hören. Eben Engel.
„Die hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag“,
Diese vorgeschriebene Reise war alter Glaube, bis Kepler zeigte, dass der Himmel nach allen Seiten offen sei und die Planeten sich nicht durch das Rotieren von „Sphären“ bewegten. Das alte kosmologische Dogma von der Geschlossenheit und Unveränderlichkeit des Kosmos war damit erledigt.
Raphael heißt auf Deutsch „Gott heilt“. Gott heilt die Seele (hebräisch rophe = Heilung). Raphael hat den Vater von Tobias (Tobit) geheilt, (im Buch Tobit sieht der Engel das Weiße in Tobits Augen und heilt dies, das wäre wohl ein Starstich mit dem Raphael heilt, heute in der Dritten Welt immer noch die Methode, den Katarakt zu heilen – aber immerhin kehrt so die Freude am Sehen durch Raphael zurück) Raphael heilte auch Abraham. Abraham ist 99 Jahre alt, als er mit Sarah noch einmal Kinder zeugt! Diese Geschichte kannten die Leute, denn Kinder waren wichtig! Und ums Kinderzeugen geht es schließlich auch im Faust (Gretchens Kindermord). Goethe hat erlebt, dass vier seiner Geschwister vorzeitig starben. Zudem wird Faust bei Goethe verjüngt und damit wieder potent gemacht, wie Abraham.
Erst im Faust II gelingt es Faust, mit Helena ein Kind zu zeugen (Euphorion). Gretchen hat sein Kind getötet! Euphorion starb auch jung (Ikarus-Mythos) Der Erzengel wird mit Pilgerstab und Wandertasche dargestellt und war auch Schutzpatron der Ärzte und Apotheker im Mittelalter.
Gabriel ist nun der nächste Erzengel, den Goethe auftreten lässt. Er ist der „Held Gottes“, er ist ein Botschafter, hat zum Beispiel Jesus Geburt verkündet. Gabriel wird meist weiblich dargestellt. Sie ist auch die Verkünderin der Gnade Gottes. Sie ist Schutzpatron der Zusteller, Müllmänner, Diplomaten und der Radiosprecher. Gabriel hat Mohammed den Koran diktiert!
Dann spricht Michael. Erzengel Michael ist der Bezwinger Luzifers, Michael stieß den abtrünnigen Engel auf die Erde nieder. Michael übersetzt sich als eine Frage: „Wer ist Gott?“ Und das ist wohl die zentrale Frage des Faust schlechthin! Später wird Gretchen dem Faust diese Frage so stellen: Glaubst du an Gott? Nebenbei: Am 10 August 955 wehrte Otto der Große die Ungarn ab in der berühmten Schlacht am Lechfeld. Das in der Schlacht auf dem Lechfeld von Ottos Legioregia gezeigte Banner des Erzengels Michael und der positive Ausgang der Schlacht bewirkten, dass der Erzengel zum Schutzpatron Deutschlands erwählt wurde. So wurde Michael zum Schutzpatron dieses Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und später auch Deutschlands! Das ist die Aufgabe Deutschlands! Den Teufel abwehren!
Dann Mephisto, der wörtlich Leibnitz zitiert: Der Mensch ist also gleichsam ein kleiner Gott in seiner Welt. Aber zugleich kritisiert Mephisto natürlich diese Welt und diese Menschen. Es ist schlecht, steht nicht gut um diese Welt. Die Menschen plagen sich, Krieg und Elend überall und immer schon! Da ist kein Unterschied, ob 16. Jahrhundert, 18. Jahrhundert oder 21. Jahrhundert.
Das Amüsante hier: Mephisto hat Mitleid mit den Menschen, (V296), denn er sieht das Elend täglich. Damit
wird klar, dass hier eine Wende eingeläutet wurde. Kritik an der Schöpfung bedeutet eben auch: ich stehe auf und mache sie besser. Gott erwähnt den Faust. Ja, den kennt der Mephisto, denn dieser Faust ist sich seiner „Tollheit halb bewusst“. Das heißt, Faust
fordert viel, ja geradezu alles, Faust gibt sich eben nicht zufrieden, fügt sich keineswegs. Gott hält ihn für seinen Knecht. Aber Mephisto sieht im Faust den Revolutionär gegen Gottes Schöpfung.
Dann kommt es zur berühmten Wette (V312) zwischen Gott und Teufel.
Gott: Kennst du den Faust?
Mephisto: Fürwahr! Er ist sich seiner Tollheit halb
bewusst;
Gott: er mir jetzt auch nur verworren dient, so wird‘ ich ihn bald in die Klarheit
führen.
Mephisto: Was wettet Ihr? Den sollt ihr noch verlieren! Wenn ihr mir die Erlaubnis gebt ihn meine Straße sacht zu
führen.
Gott: So lang‘ er auf der Erde lebt, solange sey dir’s nicht verboten. Er irrt der Mensch, solang er strebt.
Mephisto: Da dank‘ ich euch denn mit den Todten ha‘ ich mich niemals gern befangen.‘
Gott: Nun gut, es sey dir überlassen! Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab. Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich
des rechten Weges wohl bewusst.
Das ist Hiob. Gott verweist den Teufel hier in eine sehr bescheidene Rolle. Mephisto ist nur ein Schalk, ein Harlekin, ein Unfreier. Und Gott weiß, dass der Mensch ab und zu etwas Ärger braucht, um nicht zu sehr abzuschlaffen. Das ist schon fies. Gott findet in Ordnung, wenn uns Menschen gelegentlich der Teufel reitet. Sonst ist der Mensch zu faul. Und das ist eine Todsünde, Acedia, die Faulheit. Die Faulheit führt dann zur Willenstrübung, Gemütsverfinsterung, Verlust der Tatkraft. Man hilft nicht mehr denen, die bedürftig sind, sammelt Unterlassungssünden an. Dieses christliche Arbeitsethos hat ja dann Nietzsche als „Sklavenmoral“ bezeichnet und dagegen seine Herrenmoral gesetzt, auf derVita contemplativa beruhend, die schon Schopenhauer pries. Die von Cicero als „würdevolle Muße“ bezeichnete Trägheit steht also diesem „wer immer strebend sich bemüht den können wir erlösen“ entgegen. Faust ist der Strebende, aber nicht aus einer Willensanstrengung heraus wie im modernen Gesellschaftsvertrag, sondern aus einem inneren Drang heraus, der nie ganz befriedigt werden kann, einem Drang zum Individuum wie ihn Goethes schon früh im Götz von Berlichingen darstellte. Faust / der Mensch ist mit dem Erreichten nie ganz zufrieden. Stets treibt ihn sein unruhiges Herz. Ja, wenn es ihn nicht mehr treiben würde, dann würde er kein Mensch mehr sein und mit seiner Melancholie auch nichts Gutes mehr tun. So ist dann diese Sündhaftigkeit (der Tatendrang) die Voraussetzung des Guten. Oder wie der Volksmund es sagt: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Das Böse im Prolog
Von allen Geistern, die verneinen ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. Auch darf er nur frei erscheinen. Ist nicht wirklich frei. Goethe anerkannte das Böse nicht als selbstständig. Es war für ihn nur das Negative, also das Verneinende, der Geist, der stets verneint. Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; drum ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element. (Vv 1339-43) Damit ist das Böse bei Goethe nur eine Art Teil des Guten. Bei Augustinus war das Böse ein Mangel an Gutem, auch bei Aquin war es eine Art Defizit. Whatever is, is right hieß es dagegen im Essay of Man 1734 bei Alexander Pope und dieser Optimismus wurde grundlegend durch ein großes Ereignis erschüttert. Goethe war sechs Jahre alt, da gab es ein Weltereignis, das ganz Europa erschütterte und das man als erste mediale Katastrophe bezeichnen kann: Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755.
Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. ….
Dieses Ereignis hat auch zur Theodizee-Problematik geführt: Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht. Das ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann es und will es nicht. Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann es nicht. Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott. Oder er will es und kann es. Was allein für Gott ziemt.
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg.
Dies und die Französische
Revolution von 1789 sind für Goethe Schreckgespenster ersten Ranges. Er liebte es beschaulich, harmonisch. Dadurch ist der Himmelsprolog eine literarische Kritik an dem naiven Optimismus der
Aufklärung und zugleich ein Lösungsvorschlag für das berühmte Theodizee-Problem. Bis heute bekommen wir diese Differenz zwischen der Ordnung der Natur und der Ordnung der Menschen nicht in den
Griff.
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, umfass‘ euch mit der Liebe holden Schranken, und
was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken – Der Himmel schließt, die Erzengel verteilen sich.
ENDE
Der 6. Beitrag 2023
Gedanken beim Denken
1*
Eine Frau schreibt einen Roman. Er wird von der Presse gelobt, wow, genial, was für ein Roman! Doch er verkauft sich nicht. Der Roman wird einfach nicht verkauft, wird ein Ladenhüter. Warum,
wissen wir nicht. Ein Mann schreibt ebenfalls einen Roman. Murks, nichts wert, alter Hut, urteilt die Presse negativ. Aber
der Roman verkauft sich wie warme Semmeln, warum wissen wir nicht. Irgendwann sagt die Presse: hm, muss wohl irgendwas dran sein an dem Roman. Was aber, das wissen wir einfach nicht. Der Mann
wird Millionär.
Frage: Welcher Roman ist wertvoller?
Und Frage Nummer zwei: Welchen dieser beiden Romane hättest du gern geschrieben?
2*
Man könnte sie schon meine Geliebte nennen. Sie tut mir gut und ist schlecht für mich, ganz so wie eine Geliebte, die mich nur ausnutzt. Meine Zigarette.
3*
Die Macht des Staates – wissen wir inzwischen – ist bei weitem nicht so groß, wie ihr Erscheinungsbild vermuten lässt. Der Staat mit seinen Beamten muss sich die
Macht mit den Grundbesitzern und den Kapitaleigentümern teilen, steht in Konkurrenz zu diesen und gründet seine Macht meist eher auf einem Popanz, der als sein Gewaltmonopol in der
Gewaltenteilung nicht etwa demokratische Gesinnung, sondern pejorativ betrachtet seine Machtbegrenzung darstellt.
5*
Alles zielt darauf ab, die Lust am Denken in den höchsten Stand zu setzen. Und hier spielt die Lust als transzendierte Form des Denkens ihre sublimierte Rolle. Es ist purer Geistessex. Ich denke
und so pflanze ich. Raus aus den Kategorien. Was ich will, ist Erneuerung. Mag sein, dass ich auf Altes zurückgreife. Aber dieses Alte ist ein Morgen. Verändert durch das Heute.
6*
Die Werke der Dichtkunst leben nicht nur in der Form, die die Dichter ihnen geben, sondern auch in der Form, die die Nachwelt ihnen gibt. Jede Kulturepoche hat ihren Homer, ihr eigenes
Nibelungen- und Rolandslied.
7*
Ich weiß nicht, was sich Politiker manchmal vorstellen. Wenn du erlebt hast, wie Soldaten einer fremden Macht deine Familie und alle, die dir etwas bedeuten,
auslöschte, dann wirst du diese fremde Macht bis zu deinem Lebensende hassen und diesen Hass an die nächsten Generationen weitergeben. Mit allem Recht, was es gibt. Das Mal ist nicht rückgängig
zu machen. Es kann in dieser Welt keinen ewigen Frieden geben, nur Unterdrückung der Wut und des Hasses, die sich dann von Zeit zu Zeit mit aller Wucht gegen diese Unterdrückung durchsetzt.
Vergebung ist unmenschlich, liegt in höheren Mächten. Politiker, die sich in Friedensverhandlungen aufspielen und all ihre Diplomaten leiden unter einer Hybris. Unverzeihlich ist der Mensch und
mit Recht.
8*
Es ist mehr Geld im Umlauf, als real vorhanden ist. Daher müssen die Preise steigen. Dazu erhöht man den Leitzins. Denn durch höhere Preise kommt auch wieder eine Deckelung zustande. Doch höhere
Preise senken den Verbrauch und damit den Umsatz, was wiederum die Börse zum Wanken bringt. Man hatte trotz Inflation schon den Leitzins auf null gesenkt. Es reichte also nicht mehr aus und daher
muss das Geld verbrannt werden, da es nicht mehr erwirtschaftet werden kann. Das bedeutet Krieg.
9*
Freiheit bedeutet für nichts und niemanden verantwortlich zu sein, weder für sich selbst, noch für andere. Freiheit ist in dieser Hinsicht die Negation der
kollektiven Ansprüche anderer an dich. Da nun Lebenssinn immer in Verantwortung steht zu etwas, für etwas, ist Freiheit sinnlos. In dieser Spannung leben wir zwischen Sinn und Verantwortung bzw.
Sinnlosigkeit und Freiheit.
10*
Revolutionen sind Befreiungen von den Ansprüchen einer Gruppe gegen eine andere Gruppe. Ein Einzelner kann keine Revolution durchführen, kann sich nur negativ befreien (durch Verweigerung). Auch
die Weigerung, etwas zu unterlassen, ist hier Negation. Rauchen und Saufen sind private Revolten gegen die Ansprüche des Staates, sich kapital produktiv zu verhalten. Andere zu töten ist die
Weigerung Gewalt zu unterlassen. Revolutionäre Gewalt dagegen richtet Ansprüche an eine herrschende Gruppe. Da kein soziales Gefüge dauerhaft auf ein Gewaltmonopol verzichten kann, wird private
Gewalt gern als sinnlos bezeichnet. Krieg wird damit sinnvoll und trägt Verantwortung. Es ist grotesk, dass dennoch auf den Schlachtfeldern der Geschichte zahlreiche Tote liegen, die ihren
privaten Tod hier als sinnlos begreifen. Sich zu weigern für eine herrschende Gruppe in den Krieg zu ziehen ist daher Freiheit. Grotesk ist daran, dass der Tod eines Kriegsverweigerers durch
Hinrichtung Verantwortung trägt und nicht sinnlos ist.
11*
All der Gedankenmüll aus tausend Jahren. Eine Art Wunsch-Maschine für Ideen. Das heißt, es gab nie einen Mangel an Bildung bei mir, immer nur einen positiven Wunsch
nach noch mehr Wissen. Die vorherrschende mir vorherrschende Kultur scheißt tagtäglich dieses Wissen auf den Markt, das mich wie eine Maschine damit füttert und den Wunsch nach mehr und immer
mehr entstehen lässt. Wo ist der Grenznutzen? Wissen macht nicht satt, sondern produziert nur immer mehr Hunger.
12*
Ich vertraue niemandem. Aber zugleich verfüge ich nicht über die Fähigkeit, zu misstrauen. Das macht mich gegenüber der Meinung anderer resistent. Denn weder nutzen noch schaden mir die Gedanken
anderer.
13*
Mein Leben passt auf einen kleinen USB-Stick, lässt sich also schon jetzt auf einen kleinen Gegenstand reduzieren, den man sich in die Hosentasche stecken kann, der die Hosentasche dabei nicht
mal ausbeult. So klein, dass man ihn sogar in einem leer geräumten Zimmer nicht gleich findet, so klein, dass er achtlos irgendwo auf der Straße liegen kann, ohne beachtet zu werden, nur für ein
verbrauchtes BIC Feuerzeug gehalten wird, das man mit dem Fuß zur Seite kickt oder nicht einmal das. Niemand weiß, dass in diesem kleinen Gegenstand, der aussieht wie ein leeres, billiges
Plastikfeuerzeug ein ganzes Universum drin ist. Ein eigenständiger Kosmos mit Millionen Sternworten.
14*
Bald – damit müssen wir rechnen – kommt die nächste Regierungsoffensive direkt aus dem Dschungelcamp. Statt Maden fressen, mal eine ganz andere Mutprobe. Die
Verantwortlichen im nächsten Krieg: drittklassige Schauspieler, abgehalfterte Ex-Sportler, miese Kleinkünstler, Leute, die nicht singen können und trotzdem Geld damit verdienen, also zwischen
Maden und Spinnen eingewöhntes Kleintier, das ohne Dschungelcamp arbeitslos wäre. (Wolodymyr Selinski als Dschungelkönig). Das ist also gar nicht so anders als im Bundestag. Denn die meisten
Politiker wären ohne ihr Mandat arbeitslose, vorbestrafte Jura-Absolventen, von Drogen-missbrauch und Prostitution gebeutelte Kleinkriminelle, die stets Angst hätten vor der albanischen
Mafia. Kurz. Das Dschungelcamp ist irgendwie ehrlicher.
15*
Wenn man keine Lösung für ein Problem findet, sollte man vielleicht mal den Lösungs-Weg überdenken. (Alte Mathe-Lehrer-Weisheit).
16*
Es wird vorwiegend davon ausgegangen, dass es uns an bestimmten Dingen, Gegenständen, Dienstleistungen mangelt und daher muss dieses Bedürfnis als Angebot gedeckt werden. Einen Großteil dessen,
was ich zu meinem Besitz zähle, war nie mein Bedürfnis, es hat mir nie daran gemangelt. Nicht einmal der Stuhl, auf dem ich sitze, ist Ausgleich meines Mangels, sondern meines Wunsches zu sitzen,
also einer positiven Wunschproduktion. Wir gehen also nicht vom Mangel aus, sondern sehen im Mangel eher den Reflex des Wunsches. Denn das fehlende Wunschobjekt wird erst durch den Wunsch geboren
und wenn es nicht da ist, nur gewünscht, fehlt es, wird es zum Mangel.
17*
A fucking way to the death. Und der letzte Mieter ist immer der Fiskus.
ENDE
Der 7. Beitrag 2023
Es werde ...
Eine Hinrichtungsmethode für Führer: Von der Antike bis zum Spätmittelalter exekutierte man Führer auf folgende Weise, um ihnen einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld zu verwehren. Der Verurteilte saß oder stand mit dem Gesicht zum versammelten Volk, während ihm rücklings mit einem Seil, das durch einen Stab gedreht wurde, langsam und qualvoll der Hals zerquetscht wurde.
Der Mongolenherrscher Gaichatu, wurde im Jahr 1295 durch eine Bogensehne erdrosselt. In diesem Fall war es wohl
Mord, aber so, dass kein Blut vergossen wurde und das ganze wie eine schmachvolle Hinrichtung aussah. Man sieht, auch die Enkel von Dschingis Khan kümmerten sich rührend um das Erbe des größten
Massenmörders der Geschichte. Aber warum wurde Gaichatu erdrosselt? Eifersucht? Möglich, denn immerhin war Gaichatu ein Sodomit der Extraklasse. Oder war es nur eine altbewährte Form des
Machtwechsels? Nein, nichts davon! Papiergeld war der Grund. So zumindest erklärt es die Geschichtsschreibung.
Da Gaichatu die Staatskasse verprasst hatte und zudem eine Rinderpest für Nöte sorgte, führte Gaichatu auf Empfehlung seines Wesirs sogenanntes Chao ein. Eine chinesische Erfindung: Papiergeld. Die Scheine, die Gaichatu drucken ließ imitierten das chinesische Papiergeld. Der einzige Unterschied bestand darin, dass auch das muslimische Glaubensbekenntnis „es gibt keinen Gott außer Gott“ mit auf den Schein gedruckt wurde. Damit wollte Gaichatu, der die nestorianischen Christen unterstützte, auch seine muslimischen Brüder besänftigen. Erfolglos. Denn auf den Basaren gab es Aufstände. Das Papiergeld wurde nicht angenommen. Die Wirtschaft kam zum Erliegen und Gaichatu musste das Papiergeld widerrufen. Kurze Zeit darauf wurde Gaichatu eben erdrosselt. Nachfolger wurde Gaichatus’ Cousin Baitu. Er lebte auch nicht sehr lange und starb auch keinen natürlichen Tod.
Wo fehlt ’s nicht irgendwo auf dieser Welt?
Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld.
Vom Estrich zwar ist es nicht aufzuraffen;
Doch Weisheit weiß das Tiefste herzuschaffen.
In Bergesadern, Mauergründen
Ist Gold gemünzt und ungemünzt zu finden,
Und fragt ihr mich, wer es zutage schafft:
Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.
So spricht Mephistopheles zum Kaiser in Goethes Faust II, 1. Akt kaiserliche Pfalz.
Goethe empfindet in diesem Akt die Einführung der Assignaten durch die französische Nationalversammlung im Jahre 1789 nach. Die französische Krone hatte sich durch ihr finanzielles Engagement beim sogenannten Unabhängigkeitskrieg hoch verschuldet. Dieses Erbe übernahm die Nationalversammlung. Da man nicht hoffen konnte, innerhalb kurzer Zeit den Landbesitz zu verkaufen, zahlte man den Kreditgebern die Schuld in Form von Assignaten, die die Rolle von Staatsanleihen hatten und anfangs verzinst waren. Diese konnten gegen die zur Verfügung stehenden Landgüter eingetauscht werden, wurden aber vornehmlich in Umlauf gebracht und entwickelten sich dadurch zum allgemeinen Zahlungsmittel.
Dadurch, dass der Wert des Papiergelds vollständig durch den zum Verkauf stehenden Landbesitz gedeckt und verzinst war, hoffte man, dass es das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen würde. Rasch jedoch gab man die Verzinsung auf und brachte immer mehr Assignaten in Umlauf. Das Vertrauen schwand und der Wert der Assignaten auch. Als Napoleon 1803 den Franc als Währung einführte, waren die Assignaten praktisch wertlos geworden.
US-Präsident Franklin d. Roosevelt entband 1933 die US-Zentralbank von der Verpflichtung, von Bürgern eingereichte US-Dollarnoten in Goldmünzen einzulösen (Executive Order of the President of the United States 6102). Privater Goldbesitz im Wert von mehr als 100 US-Dollar wurde von ihm als illegal erklärt und mit bis zu zehn Jahren Gefängnis sowie Beschlagnahme des Goldes bestraft. Die Vereinigten Staaten garantierten fortan nur noch im kommerziellen zwischenstaatlichen Handel, jederzeit 35 US-Dollar gegen eine Unze Feingold einzutauschen. Am 17. März 1969 hoben sieben Notenbanken Europas nach einer Blitzkonferenz mit den Vereinigten Staaten diese Garantie auf und tauschten keine Papier-US-Dollars mehr in Gold. Bereits 1960 überstiegen die US-Dollar-Vorräte in Europa und Japan die amerikanischen Goldreserven. Am 15. August 1971 wurde schließlich gemeldet, die Nixon-Regierung habe außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen, um die amerikanische Wirtschaft zu „schützen“, indem der Präsident einseitig die Möglichkeit aufhob, den Dollar in Gold umzutauschen. Danach verlor der Dollar am Gold gemessen innerhalb von drei Jahren so stark an Wert, bis er nur noch ein Fünftel seines ursprünglichen Wertes in Gold wert war. Heute ist er wie alle anderen Papierwährungen eine ungedeckte und somit nur auf Vertrauen basierende Währung (Fiat Money).
Von Gaichatu bis Joachim Nagel (Präsident der deutschen Bundesbank) oder Robert Holzmann (Gouverneur der österreichischen Nationalbank) reicht also die Liste derer, die den Spruch „Es werde Geld“, auf den Lippen haben. Fiat money, abgeleitet von „fiat lux“ dem Schöpfungsbefehl aus dem 1. Buch Moses, ist unser offizielles Zahlungsmittel. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Geld, das sie in Ihrer Geldbörse in der (meist) rechten Gesäßtasche mit sich führen. Vorsicht! Das Geld, mit dem Sie Ihre Frühstücksbrötchen kaufen, ist geliehen!
„Verdient“, sagen Sie!
Wie sich Verdienst und Glück verketten,
das fällt den Toren niemals ein.
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
der Weise mangelte dem Stein.
(Goethe Faust II 5060)
Und wenn der Exekutor (wie der Gerichtsvollzieher in Österreich noch gerne genannt wird) zu Ihnen nach Hause kommt, und die Exekution (Vollstreckung) durchführt, auch dann können Sie Goethe zitieren:
In weiten, alt verwahrten Kellern von goldnen Humpen, Schüsseln,
Tellern. Sieht er sich Reihen aufgestellt. Pokale stehen aus Rubinen,
Und will er deren sich bedienen. Daneben liegt uraltes Naß.
Doch – werdet ihr dem Kundigen glauben – Verfault ist längst das Holz der Dauben, der Weinstein schuf dem Wein ein Faß.
Essenzen solcher edlen Weine, Gold und Juwelen nicht alleine
Umhüllen sich mit Nacht und Graus, der Weise forscht hier unverdrossen;
Am Tag erkennen, das sind Possen, im Finstern sind Mysterien zu Haus. (Faust II 5020).
Für einen Big-Mac muss man in Amsterdam 19 Minuten arbeiten, in Istanbul 48 Minuten, in New York nur 13 Minuten, aber in Nairobi 93 Minuten. Im Finstern sind die Mysterien zu Hause!
In Kopenhagen, Zürich oder Frankfurt bietet der Bruttostundenlohn am meisten Gegenwert. Aber nach Abzug aller
Nebenkosten, Steuern, Sozialabgaben etc., hat ihr Stundennettolohn in Dublin die höchste Kaufkraft. Der Weise forscht hier unverdrossen.
In Westeuropa ist alles im Schnitt ca. 40 Prozent teurer als in Osteuropa. In Tokio haben sie den höchsten Nahrungsmittel-Preisindex (112) in Delhi ist er am niedrigsten (30). Der Weinstein schuf dem Wein ein Fass.
Wenn man also in Amsterdam arbeitet, in Delhi sein Frühstück kauft und in Dublin sein Geld kassiert, hat man das günstigste Frühstück. Werdet ihr dem Kundigen glauben? Die Zahlen kommen übrigens von UBS, einer Schweizer Großbank. Ihr Chef heißt derzeit Ralph Hamers.
Wurde Gaichatu also umsonst ermordet? Und der Aufstand der Basare gegen das chinesische Papiergeld: hat er aus heutiger Sicht nicht etwas Melancholisches? Aber wir, wir sind ja global, aufgeklärt und modern. Oder anders gesagt: Wir sind Nachzügler. Jedenfalls kaufen wir unsere Frühstücksbrötchen auf
„Treu und Glauben“, eben auf Kredit. Und seit geraumer Zeit wissen wir schlichten Menschen, dass es eine sogenannte „Realwirtschaft“ gibt. Und wir wissen weiter, dass sich die Finanzkrise nicht in dieser abgespielt hat, sondern – ? – im Irrealen.
Und das! Das hatte ich immer schon geahnt. Bankmanager sind nicht real. Aber sie drohen es zu werden (wenn die Finanzkrise in der Realwirtschaft ankommt). Wenn der irreale Bankmanager im Realen ankommt, dann folgt die „Rezession“. Wie man so sagt: Die Realität hat die Banker eingeholt. Hier vielleicht eher: Die Irrealität hat die Banker verlassen.
Jetzt müssen wir schlichten, realen Menschen alles tun, damit sich die Banker nicht realisieren, materialisieren, und so Antimaterie auf Materie trifft. Das wäre der Super-GAU, der größte anzunehmende Ackermann Unfall (benannt nach dem ehemaligen Chef der Deutschen Bank, dessen Karriere übrigens bei der Crédit Suisse begann). Wenn sich nämlich Ackermannium in der Atmosphäre verteilt, dann löst sich Papier auf. Jedwedes Papier, vom Toilettenpapier bis zur Staatsanleihe, bis zur Aktie, bis zum Hundert Euro Schein. Der Fallout des durch Ackermannium zerfallenden Papiers hätte ungeahnte Folgen: DIE KRISE!!! Fiat nihil.
Die Krise bekämpfen? Rücklings mit einem Seil, das durch einen Stab gedreht wird, langsam und qualvoll den Hals zerquetschen.
ENDE
Der 8. Beitrag 2023
Eine verfahrene Situation
Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte,
müsste Moosbrugger entstehen.
(Robert Musil)
In Kapitel 74 Band I des berühmt-berüchtigten Romans „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil bekommt die Hauptfigur Ulrich einen Brief von seinem Vater. Die Kapitelüberschrift Das 4. Jahrhundert v. Chris. Gegen das Jahr 1797 verweist auf zwei Moralkonzepte. Einerseits die nikomachische Ethik von Aristoteles (aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert) und andererseits auf die Metaphysik der Sitten von Immanuel Kant aus dem Jahr 1797.
Ulrich erhält abermals einen Brief von seinem Vater ist der zweite Satz der Kapitelüberschrift. Dort bittet er Ulrich,
ein Wort bei Graf Leinsdorf einzulegen, dass eine bestimmte Aufweichung der Rechtsauffassung nicht in das Jubiläumsjahr (bezieht sich auf das 70jährige Dienstjubiläum von Kaiser Franz-Joseph I
des Kaiserreichs Österreich-Ungarn – k.u.k genannt und von Musil scherzhaft als „Kakanien“ tituliert) falle. Die Welt schreibt Ulrichs Vater in dem Brief zerrisse, wenn alles als wahr
gelten dürfte, was dafürgehalten wird, und jeder Wille als erlaubt, der sich selbst so vorkommt. Es ist darum unser aller Pflicht, die eine Wahrheit und den rechten Willen festzustellen und,
soweit uns dies gelungen ist, mit unerbittlichem Pflichtbewußtsein darüber zu wachen, daß es auch in der klaren Form wissenschaftlicher Anschauung niedergelegt werde.
Die Frage um die es dort geht, bezieht sich natürlich auf den Fall Moosbrugger und der Frage der Zurechnungsfähigkeit.
Moosbrugger war ein verurteilter Frauenmörder über dessen psychische Zurechnungsfähigkeit und damit Verantwortlichkeit für seine Taten im Kaiserreich keine Einigung herrschte. Musil bezieht sich
in seinem großen Werk auf die reale Figur des Zimmermanns Christian Voigt, der zunächst zum Tode verurteilt und später vom Kaiser begnadigt wurde. Auch Karl Kraus widmete diesem Fall einen
längeren Bericht aus dem Gerichtssaal (Die Polizei hierzulande. Aus: Die Fackel, Nr. 334-335, 31. Oktober 1911).
Der Mörder Voigt bezeichnete sich dort selbst zunächst als zurechnungsfähig und vernünftig. Als man ihn aber zum Tode verurteilt, sagt er vor dem Gericht: „Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!“ So sieht sich der Mörder selbst als verrückt und zeigt zugleich eine Einsichtsfähigkeit, die seine Verrücktheit damit ausschließt, denn Kennzeichen einer Psychose ist meist die fehlende Krankheitseinsicht. Musil schreibt dazu: Das war eine Inkonsequenz; aber Ulrich saß atemlos. Das war deutlich Irrsinn, und ebenso deutlich bloß ein verzerrter Zusammenhang unsrer eignen Elemente des Seins.
Ulrichs Vater in Musils Roman hat einen Streit mit seinem Kollegen Professor Schwung. Dort geht es um sehr feine Formulierungen der verminderten Straffähigkeit. Bis heute haben wir gerade im Umgang mit Sexualstraftätern keine abschließend befriedigende Rechtspraxis. Ulrichs Vater und Professor Schwung streiten in dem Kapitel um ein einziges Adverb.
Die Version des Vaters lautet: Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, so daß er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehn, und seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
Professor Schwung kritisiert hier das „und“ und will dafür ein „oder“ stehen haben. Und das ist sehr fein beobachtet. Ist unser Denken im Wollen bestimmt oder unser Wollen im Denken? Es war Kant in der „Metaphysik der Sitten“ (erschienen eben 1797) der letzteres behauptete und damit der seit zweieinhalbtausend Jahren geltenden Auffassung von Aristoteles widersprach, nach der unser Logos (unser Verstand) den Willen beherrscht. Und klar, wenn der Wille vom Logos beherrscht werden kann, ist er nicht frei. Ein freier Wille wäre somit sogar eine Form des Geisteszerfalls.
Daher ist Ulrichs Vater aufgebracht, denn er ist der Überzeugung, dass Willensentscheidungen auf logischer Grundlage gebildet werden und der Zerfall der Geistestätigkeit automatisch auch die Willensbestimmung ausschließt. Schwung amüsiert sich darüber. Denn dann wäre es so, dass jemand freikommt, wenn er rein logisch richtig gehandelt hätte. Wenn die Wahnvorstellungen bestimmte Umstände annehmen mit der man die Handlung rein logisch rechtfertigen kann (man zwar einen Wahn hat, aber innerhalb der Wahnfiktion vernünftig denkt), dann hätte man ja – nach dieser Vorstellung - korrekt gehandelt, wenn man die Fähigkeit, das Unrecht einzusehn, zur Grundlage nimmt, eine Person, welche, wie es vorkommt, an besonders gearteten Wahnvorstellungen leidet, sonst aber gesund ist, nur dann wegen Geisteskrankheit freigesprochen werden dürfte, wenn sich nachweisen ließe, daß sie infolge ihrer besonderen Wahnvorstellungen das Vorhandensein von Umständen annahm, welche ihre Handlung rechtfertigen oder deren Strafbarkeit aufheben würden, so daß sie sich also in einer wenn auch falsch vorgestellten Welt doch korrekt benommen hätte.
Mehr intellektueller Witz ist mir kaum vorstellbar. Zumal damit noch nicht genug, antwortet Ulrichs Vater darauf, dass die Zustände der Zurechnungsfähigkeit und der Unzurechnungsfähigkeit nicht gleichzeitig bestehen können. Sie sind bei einem teilweise gesunden Menschen im schnellen Wechsel vorhanden. Nun muss man genau feststellen, in welchem Zustand sich der Mensch befand zur Tatzeit. Aber da müsste man ja nun die ganzen Ursachen ab der Geburt, ja sogar noch die Vorfahren mit einbeziehen. Das klingt unmöglich. Aber es ist genau das, was Immanuel Kant in seiner „Metaphysik der Sitten“ forderte. Kant postuliert das angeborene Recht jedes Menschen auf Freiheit. Nach seiner Auffassung ist es Aufgabe des Rechts, die Ausübung der individuellen Freiheit der Einzelnen mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung zu bringen. Solange wir im Grunde frei sind, antwortet daher Professor Schwung in dem amüsanten Text von Robert Musil, solange wir im Grunde frei sind, sind wir es auch den einzelnen Gründen nach. Wir wüßten, …, mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei sei, als daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, und solange wir im Grunde frei seien, seien wir es auch den einzelnen Gründen nach, weshalb man annehmen müsse, daß es in solchem Fall nur einer besonderen Anspannung der Willenskraft bedürfe, um den ursächlich bedingten verbrecherischen Antrieben zu widerstehn.
Aus diesem Dilemma kommt man nicht heraus. Nach Arthur Schopenhauer ist unser Wille begründend. Wir können nicht wollen, was wir wollen. Dann wäre die Wahl, die wir treffen nicht mehr frei. Außer wir setzen diesem unsere Vernunft entgegen und kontrollieren diese Bestie. Auch dann ist unser Wille nicht frei, sondern vom Bildungsgrad, der Erziehung und der jeweiligen Sozialisation (Aristoteles nannte das Hexis, lateinisch Habitus) abhängig.
Es ist im Grunde das, worum es dem Vater von Ulrich in diesem Brief geht. Kontrolle ist jetzt aber so eine Sache. Denn sie ist ein weiteres Attribut unseres Willens. Denn wie sollte ich – ohne Willenskraft aufzuwenden – den Willen kontrollieren können? Das ist ein Widerspruch. In einer immer komplizierter werdenden Welt benötigt man eine geradezu heldenhafte Entscheidungskompetenz, die auch noch einen kaum mehr zu bewältigenden Grad an Informiertheit impliziert. Und in Musils Roman geht es genau darum. Es ist ein Schlüsselroman der Industrialisierung, die mit der Gründerzeit begann. Der andere Widerspruch liegt im Attribut der Urheberschaft. Um eine freie Willensentscheidung treffen zu können bin ich mir selbst mein Grund. Niemand sonst trifft für mich die Entscheidung. Doch das würde die Welt zerreißen, wie das Ulrichs Vater zu Beginn des Kapitels befürchtet. Denn wie sollen Gesetze aussehen, wenn jeder tun kann, was er will? Das Staatsrecht bei Kant dient der Herausbildung einer staatlichen Ordnung, in der der Souverän – das Volk – Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger gewährleistet. Diese Form der Autonomie, des einzig Guten bei Kant (der gute Wille im Gegensatz zum Streben nach Glückseligkeit bei Aristoteles) spalten das auf.
So gilt der gute Wille mehr als der vernünftige Zweck. Und ein Irrer kann Gutes tun, wenn er Gutes tun will. Ein kluger Mensch würde immer Gutes tun, das verlangt seine Klugheit, so sieht es Aristoteles. Alles andere wäre schlicht unklug. Wenn er es nicht tut, dann bleibt ihm zwar noch der gute Wille, aber ihm fehlt das Verständnis zum Guten. Handeln wird zufällig. Für Kant gibt es keine letzte und allgemeingültige Bestimmung des Guten. Das Gute in seiner Bestimmung ist immer subjektiv. Das Subjekt erschließt sich dabei ein Wahrnehmungsfeld, das es als gut interpretiert. Dabei ist das Subjekt von den moralischen Normen der Gesellschaft beeinflusst und muss sich beständig von diesen Normen emanzipieren. Verweigert das Subjekt diese Arbeit, verfällt das Gute, verkommt das Gute. Das ist die eine Schwäche des Wahrnehmungsverweigerers. Die andere Schwäche ist es, dass das Wahrnehmungsfeld des Subjekts sich verkleinert, wenn die Arbeit nicht geleistet wird. Dann erkennt man das Gute nicht mehr, obwohl es deutlich vor den eigenen Augen steht. Nur noch die Phrase, die Banalität (um mit Hanna Ahrend zu reden) wird wahrgenommen. Das Gute ist daher ein Arbeitsprojekt. Und die Arbeitsmoral ist die Aufklärung. Dagegen haben Adorno und Horkheimer ihre „Dialektik der Aufklärung“ gerichtet, in der die Aufklärung selbst wieder ihre eigenen verdrehten Mythen erzeugt und man bräuchte eine Aufklärung der Aufklärung. Ad infinitum – ad nauseam.
In unserer Rechtsprechung StGB § 21 heißt es „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“
Damit hat sich Professor Schwung und Immanuel Kant durchgesetzt.
Die rechtliche Konstruktion der Willensfreiheit definiert dabei eine Person als willensfrei, die eine Wahl hat zwischen zwei oder mehr Alternativen. Sie müsste also auch anders handeln können, als sie tatsächlich handelt. Die Bedingung des Anders-Handeln- oder Anders-Entscheiden-Könnens seien hier mal zurückgestellt. Die getroffene Wahl muss ausdrücklich von der Person selbst abhängen. Dies nennt man die Urheberschaftsbedingung. Wie die Person handelt oder entscheidet, muss ihrer Kontrolle unterliegen. Diese Kontrolle darf nicht durch Zwang ausgeschlossen sein. Das nennt man die Kontrollbedingung. Also muss für die Person die Handlung offen sein, und die Person soll Urheberschaft sowie die Kontrolle über die Handlung inne haben. Das sind die drei Bedingungen der Willensfreiheit. Eine Person ist in ihrem Wollen frei, wenn sie die Fähigkeit hat, ihren Willen zu bestimmen, zu bestimmen, welche Motive, Wünsche und Überzeugungen handlungswirksam werden sollen. Innerer Zwang (psychische Erkrankung) und äußerer Zwang (Androhung von Gewalt) unterliegen äußerst fragilen Vorstellungen. Sollte eine langjährige durch Gewalt orientierte Erziehung meine Willensfreiheit einschränken, muss in einem enormen Aufwand geklärt werden und lässt sich vermutlich nie klären, weil hier unterschiedliche normative Einstellungen von Gesellschaft und Subjekt ein höchst diverses Konglomerat bilden. Die eigene Urheberschaft seines Wollens hat der Fall Moosbrugger (real Christian Voigt) ins Absurde geführt. Sie haben einen Irrsinnigen verurteilt. Und unsere Wahlfreiheit wird derart intensiv von äußeren und auch inneren Bedingungen mitgeprägt, dass das eigene Wollen im Sinne Schopenhauers nicht mehr hinterfragbar ist, ohne dabei in einen unendlichen Regress zu verfallen.
So oft ich über dieses kleine nur vier Seiten umfassende Kapitel aus Musils Roman auch nachdachte: ich kam und komme zu keinem endgültigen Schluss. Ebenso wenig wie es der Hauptfigur des Romans Ulrich gelang.
Zwei Fiktionen bilden bis heute den
Rahmen unserer Rechtspraxis: Die Fiktion der ganzen Person und die Fiktion wir könnten die Komplexität eines Tathergangs vollständig entschlüsseln. So wird aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit
eine legalistische Erzählung, deren Anspruch auf Ordnung größer ist als der Anspruch auf Wahrheit.
Und so könnte man – wenn man einen Pitch wagen wollte für MoE – den Jahrhundertroman von Musil auf den Punkt bringen: Der Anspruch auf Ordnung ist
größer als der Anspruch auf Wahrheit.
Damit hat Musil nicht nur einen Schlüsselroman der klassischen Moderne geschrieben, sondern damit bereits die Postmoderne eingeläutet. Daher scheiterte der Roman naturgemäß an sich selbst, weil er die große Erzählung aus sich selbst gar nicht mehr stemmen konnte und die Vernunft sich auf manieriert barocke Weise als Curiositas entpuppte.
ENDE
Der 9. Beitrag 2023
Staffel 9
1*
Gestern bis in die Nacht hinein Beckett gelesen. Und wäre nicht alles so mühsam, würde ich es weiter tun.
2*
Was läuft? Nun. Ich mache noch das eine oder andere und geh dann ab. Wie jeder. Nur wusste ich es schon lange bevor die anderen von sich nur ahnten, dass sie
gehen müssen.
3*
Und irgendwann bin ich halt tot.
4*
Heute Nacht war mein Konzept von mir selbst komplett in Frage gestellt.
5*
Ich könnte – obwohl von allen der Morbideste – der Älteste werden.
6*
Mich wird es zerlegen, weil mir beim Warten auf eine verspätete S-Bahn ein Aneurysma platzt.
7*
Ich bin schon so alt. Albert Ayler ertrank in der Nähe der Freiheitsstatue im Alter von 34 Jahren. Das wäre bei mir vor
25 Jahren gewesen. Gott. Wäre ein guter Zeitpunkt gewesen. Und nichts wäre heute anders. Nur ich wäre schon lange mit allem fertig.
8*
Dieses Warten auf den Tod macht einen Jahr für Jahr abhängiger vom Leben und dann stirbt man doch.
9*
Wie immer. Gestern früh noch in der S-Bahn sitzend instinktiv die Weigerung auszusteigen und in dieses Altenheim zu gehen. Kaum bin ich drin und schon erfasst mich die
Arbeit, lässt mich acht Stunden lang nicht los und so bin ich bei Schichtende beinahe schon glücklich.
10*
Für Hugo
Humbli dumbli doggamann
verbauzter hunds geschlamm
moga wiff, wiff, donnerknall
bunga bunga Hundeschwall
wirf den Ball
11*
Meine Gedanken, meine Texte sollen dienen. So bin ich ein Mönch. Das ist in unserer Verwertungsgesellschaft kontraproduktiv.
12*
Ich folge nur den inneren Stimmen.
13*
Bin ich auch ein ewiger Sünder. So weiß ich, spüre ich, bedenke ich: Meiner Sünde. Bereue und sinke nieder vor allem. Hier bin ich nichts, nur Staub.
14*
Dafür diese Schinderei. Ich werde so viel wissen, was ich nicht benötige. Aber interessant ist es schon.
15*
Natürlich gehe ich nur noch ungern aus dem Haus. Aber ich muss. Das Geld wächst bekanntlich auf den Bäumen und die
stehen nun mal draußen. Aber da draußen sehe ich tagtäglich Gnome, Zwerge, Dämonen. Drinnen ist es sicher, ruhig und überschaubar. Die Bequemlichkeit siegt.
16*
„Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Warum so ein Satz eines Nobelpreisträgers? Ich kann ihn sagen,
bin ich doch wahrhaft gescheitert. Tief in mir zwei grundlegende Feindgefühle: Verachtung und Spott. Drübergelegt: Ironie. Unter der tiefen Schicht, noch tiefer liegt Traurigkeit. Wenn ich einmal
meine Ironie beiseitelege, stoße ich auf meine Feindseligkeit, schaufle ich auch diese weg, gerate ich wieder auf meine sehr kindlichen Gefühle von Traurigkeit und Angst. Allein und verloren in
einer so großen Welt. In Anbetracht der Zeit, ihrer unendlichen Unfassbarkeit löst sich sogar die Traurigkeit und die Angst auf und alles wird Vergeblichkeit. Erst der Körper. Nein. Erst der
Ort. Erst beides. Jetzt das eine. Jetzt das andere. Übel von dem einen das andere versuchen. Übel von dem zurück von dem Übel. Und so weiter. Irgendwie weiter. Bis man keine Lust mehr hat, weder
aufs eine noch aufs andere. Beides in die Höhe werfen. Wo auch nichts ist. Auch davon übel werden. Wieder hochwerfen, dann zurück. Wieder der Körper. Wo keiner ist. Wieder den Ort. Wo keiner ist.
Wieder versuchen. Wieder scheitern. Wieder besser. Oder besser schlimmer. Wieder schlimmer scheitern. Noch schlimmer. Endgültig übel sein. Alles endgültig hinschmeißen. Endgültig gehen. Wo
endgültig nichts mehr ist. Gutes und so. Also in der Vergeblichkeit des Unendlichen ist alles Endliche vergeblich. Wie eingepackt. Ein Koffer, das Leben, frische und gebrauchte Wäsche, das
Leben, eine Schicht T-Shirts, suche ein deutsches Wort dafür, egal, Rauchworte. Genau, eine rauchen, das tilgt die Zeit, was tilgt die Zeit? Kaum ist die Minute totgeklatscht, fängt die nächste
an, schiebt sich ran, reiht sich drauf, klatscht man die auch tot, wieder eine Minute, kommt ran gekrochen, sekundenweise. Reiht sich auf zur Stunde, zum Tag, zum Leben.
Worstward Ho? Wurscht wars scho.
18*
Bin wieder im Haben. Das ist doch alles, worauf es im Leben heute noch ankommt.
19*
Dieses Elend von Familie. Aber ich fürchte, es gibt kaum bessere Verhältnisse.
20*
Wie mich die Abwicklung des Todes nervt.
21*
Voran, voran, rief der Jambus
ich weiß nicht recht, warten wir lieber ab, sagte der Trochäus
nehmt es doch lockerer, sang der Daktylus und schwang sein Tanzbein
Kusch, da geht’s lang, befahl der Anapäst.
22*
Ein Grundsatz: Ich nehme jeden einzelnen Menschen sehr ernst, während ich die Menschheit absolut nicht ernst nehme.
23*
Es gibt mehr Philosophien als Joghurt-Sorten. Joghurt ist deutlich nützlicher. Doch im Gegensatz zum ökonomischen
Grenznutzen des Joghurts, ist die philosophische Erkenntnismöglichkeit unendlich dilatierbar.
24*
Wenn man die Demokratie als einen Patienten betrachtet, dann gibt es die eine gesellschaftliche Gruppe, die versucht, den Patienten zu retten, zum Beispiel in dem sie
versucht das kranke Bein zu amputieren. Andererseits gibt es die gesellschaftlichen Gruppen, die versuchen, den Patienten endgültig zu töten. Sie haben es noch nicht getan, weil sie sich schon
jetzt um das Erbe streiten, während der Patient noch operiert wird. So erleben wir die Demokratie ein wenig hilflos, operativ sediert. Werden die Retter das Bein rechtzeitig entfernt haben
und der Patient wieder fit, bevor die Mörder ihren Plan umsetzen können?
25*
Typen wie wir bekommen nie die Auserwählte, sagte Oliver Queen (Arrow) einmal. Womit das asketische Ideal der filmischen Superhelden an den Minnesang
anknüpft.
26*
Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es so schön. Das Subjekt erschließt sich dabei ein Wahrnehmungsfeld, das
es als schön interpretiert. Dabei ist das Subjekt von den ästhetischen Normen der Gesellschaft beeinflusst und muss sich beständig von diesen Normen emanzipieren. Verweigert das Subjekt diese
Arbeit, verfällt die Schönheit, verkommt die Schönheit zum Gewöhnlichen. Das ist die eine Schwäche des Wahrnehmungsverweigerers. Die andere Schwäche ist es, dass das Wahrnehmungsfeld des Subjekts
sich verkleinert, wenn die Arbeit nicht geleistet wird. Dann erkennt man die Schönheit nicht mehr, obwohl sie vor den eigenen Augen steht. Nur noch die Plattitüde von Schönheit, ihr Abziehbild
der Mode wird erkannt. Schönheit ist daher ein Arbeitsprojekt.
27*
Was den Tod angeht, bin ich noch etwas unentschieden. Denn viele Menschen machen es sich zu leicht. Sterben einfach. Tod sein lässt so vieles unerledigt. Andererseits
hat man auch den Eindruck, dass man im Leben nie fertig wird. Das Leben erledigt sich nie. Jeder stirbt vor der Zeit.
28*
Meine Freiheit stand mir immer im Weg.
29*
Unter allen Kleinformen, der kurzen Prosa, dem Gedicht, der Novelle, steht der Aphorismus noch einmal und noch kürzer als Schlagbaum vor den Lesern geknallt. Einblick
in den Ausblick.
30*
Ich habe den Eindruck, dass ich der Einzige bin, der mit Wasser kocht.
31*
Seit Jahren mühen sich deutsche Autoren, das Leben irgendwelcher Berühmtheiten von früher in zwei Buchdeckel zu pressen, stopfen historische Fakten in ihre
ausgelutschten Fiktionen, erfinden zähflüssige Dialoge ohne Rücksicht auf den wahren Sound der Zeit, über die sie schreiben und mit jedem Buch dieser Art wird die Sache langweiliger. Wenn ich
noch einmal einen Roman über Thomas Mann oder andere Biografenlieblinge in die Finger bekomme, dann kommt das Buch ungelesen in den Keller zu meinen Belegexemplaren, die ich auch schon deprimiert
dort weggeräumt habe. Da ich in den Keller nur gehe, um etwas hineinzutun, aber nie, um etwas herauszutun, ist dieser Akt auch symbolisch zu verstehen.
32*
Das sage ich jetzt mal en passant. Bücher sollten nichts mehr kosten, damit der Konsument (diese blöde Sau) nicht mehr bestimmt, was geschrieben
wird.
33*
Manchmal wenn ich neues Wissen erwerbe, kommt es mir so vor, als hätten das alle anderen vorher auch nicht gewusst.
34*
Nichts widert mich inzwischen mehr an, als dieses „vom Schreiben leben können“. Das ist eine allzu korrumpierbare Soße.
Meine Literatur ist anders, sie ist mehr Sprache, zielt sogar darauf ab, nicht so ohne weiteres verfilmt werden zu können. Daher bin ich expressiv. Inhalt nur, wenn er auch in der Form expressiv seine Bestimmung findet.
35*
Menschen verfolgen keine Interessen. Das „goldene Prinzip“ der Dummen ist es, anderen zu schaden, ohne dabei irgendeinen Gewinn zu erzielen.
36*
Viele Menschen lieben natürlich Verschwörungstheorien. Denn sie decken vermeintlich auf, blicken hinter das Schicksal und erklären den Zufall für gewollt.
Verschwörungstheorien haben damit ein sehr optimistisches Verhältnis zur Fähigkeit des Menschen die Ereignisse des Lebens kontrollieren zu können.
37*
Beim Lesen der Romane geht es mir ein wenig so wie dem Mann, der lange Jahre in den Puff ging und erst dann erfuhr, welches schmutzige Geschäft sich hinter den
adretten Damen abspielt.
38*
Heute habe ich daher den Eindruck, dass Romane kaum noch Romane sind, sondern Werbebroschüren. So gut sie auch geschrieben sein mögen. Sie bewerben den Verlag, den
Autor, das Produkt Buch, den Buchhändler. Sie werden gelesen, wenn sie als Produkt in sind, wenn es sich für den Konsumenten möglichst zeitnah auszahlt, den Roman gelesen zu haben. Ein
stilles Vergnügen ist das nicht mehr. Die sprichwörtliche Einsamkeit des Autors existiert so wenig, wie die Einsamkeit des Lesers. In Messen, Lesungen, Veranstaltungen, in Events, wird das
Kunst-Produkt beworben und dieses Werben geht mythologisch in das Produkt selbst ein. Die Werbung wird zum Teil des Buches, zum Teil des Theaterstücks, zum Teil des Kunstgebildes schlechthin. Der
Markt und sein berühmter Marktdruck zeichnen sich inzwischen verantwortlich für jede Bestsellerliste vom Buch bis zur Musik.
39*
Die Feinheiten wirken in der Stille. Und der Genuss eines Kunstwerkes hat seine Zeit und lässt wirken. Zeit wird aggressiv und aktiv verwertet. Dabei ist Zeit ein
passives Ticken, indem sich das Kunstwerk wie ein Echo dehnt. Doch in den Produktschluchten des 21. Jahrhunderts wird jedes Echo verschluckt. Wir müssen rennen und atmen zu laut um noch die
Stille in der Kunst wahrnehmen zu können. Das ist das geradezu wagnerianische Zeitalter des Getöses.
40*
Das ist die Gefräßigkeit des Menschen, der auch Bildung wegfrisst wie frisches Brot.
41*
Ein moderner Trend in vielen neuzeitlichen Romanen ist es, historische und fiktive Figuren zu vermengen, nicht nur in historischen Romanen, sondern auch in
zeitgenössischen Romanen arbeiten die Autoren mit realen und fiktiven Figuren, als würde man den bloß fiktiven Figuren nicht mehr trauen. Nimmt man das als Trend, dann gibt es eine Krise des
Erzählens. Die Flut der medialen Bilder und Geschichten hat die Rezipienten verunsichert. Was ist eigentlich Realität? Welcher Geschichte der Welt kann ich noch trauen? Kann ich eigentlich meiner
eigenen Welterzählung zutrauen, dass sie mir von der Wahrheit der Welt und des Seins berichtet? In solchen Wissenskrisen, verursacht durch die digitale Revolution, retardiert ein Teil der
verunsicherten Rezipienten wieder auf ein klassisches Freund-Feind-Schema. Der moderne Rassismus ist unter anderem eine Reaktion auf diese Verunsicherung. Ich traue mehr dem mir vertrauten als
dem Unbekannten.
42*
Der Rationalismus der Herrschaft über die Natur, das Dominium terrae (Genesis 1,28) schlägt nun um in die Irrationalität unserer Selbstvernichtung. Wir verbrennen mit
der Aufheizung der Erdatmosphäre und wir kollabieren gemeinsam mit unserem Klima.
43*
Die Alten sind nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind überschminkte ruinierte Clowns.
44*
Was hat die Jugend als nächstes vor? Niemand weiß das!
45*
Heutzutage ist einer schon Historiker, wenn er die Tageszeitung von gestern gelesen hat und sich noch erinnert. Und da die Tageszeitung heutzutage stündlich kommt,
sind wir heute Historiker, wenn wir uns erinnern können, was vor einer Stunde noch im Internet war. Es geht zu schnell. Wir wurden zu Legionären des Augenblicks.
46*
Nahezu alle unsere Produkte, die wir konsumieren, kommen aus einer undurchschaubaren Fertigungsindustrie und werden dann an Häfen eingesammelt, verschifft, verteilt
und ihre Herkunft verschleiert. Anders wäre der Massenkonsum nicht machbar.
47*
Dass ein Bürger zu Hause bei geschlossenen Türen machen und denken kann, was er will, das ist inzwischen hochgefährlich. Immer mehr Menschen denken, was sie wollen und
nicht was sie sollen. Das gefährdet unsere Demokratie.
48*
Der liebe Gott erfand die Philosophie für solche Menschen, die enttäuscht wären, wenn es zu einfach ist. Philosophen lieben ihre Zweifel.
49*
Unter den Kranken sind inzwischen auch viele Ärzte.
50*
Die Interesselosigkeit der Natur ist beunruhigend.
51*
Wenn man das Innenleben eines Gehirns mit einer Landkarte vergleicht, dann sieht es bei vielen Menschen so aus, dass viele verstreute und unentdeckte Inseln in ihrem
Gehirn existieren, ganze Landstriche schlicht unbewohnt sind, und dort, wo sie gerade leben, herrscht Massenbetrieb. Es ist verständlich, dass Menschen mit so vielen unbekannten Inseln im Kopf
sich fürchten und großes Unbehagen empfinden, wenn man ihnen vom Neuland in ihrem Kopf erzählt.
52*
Wenn der Arzt operiert, hören wir die lateinischen Worte opera (arbeiten) und actio (Handlung) nachklingen, die Arbeitshandlung. Das Handwerk dazu, nennt man dann
Chirurgie (aus dem altgriechischen Handwerk). Operationen gibt es auch beim Militär. Und wenn das Militär eine chirurgische Operation durchführt, fließt auch Blut.
53*
Schüler, die von den Lehrern erwarten, dass sie alle das Gleiche sagen, denen empfehle ich, einer Sekte beizutreten.
54*
Während der Mund nach vorne gerichtet ist, liegen die Ohren seitlich an. Ein anatomischer Umstand der zweifelhaft macht, ob es wirklich jemals von der Natur
beabsichtigt war, dass wir miteinander sprechen.
ENDE
Der 10. Beitrag 2023
Wo das Geld ist, ist die Wahrheit
Während Preising schlief, ging England unter.
(Jonas Lüscher aus; Der Frühling der Barbaren).
Wenn Sie heutzutage irgendein Produkt, oder Ihre Arbeitskraft (die markttechnisch auch nur ein Produkt ist) auf dem Markt platzieren wollen, dann brauchen Sie ein Startkapital. Das bedeutet in der Regel „Kredit“. Ihre Bank verkauft Ihnen nun gegen Zinsen das Recht, fremdes Geld wie Ihr eigenes zu benutzen. Jetzt machen Sie Geschäfte. Das Geld kommt wieder auf die Bank und wird nach gleichem Muster an andere Geschäftsleute verliehen. Im Rahmen dieser Kreditschöpfung verleihen die Banken untereinander Geld in Form von reinen Buchungsgeschäften. Und plötzlich haben die Banken durch „Zauberei“ Zugriff auf alles Geld, das in der Marktwirtschaft irgendwie verdient wird. Und in der City of London sitzen auf einer Quadratmeile Hunderttausend Angestellte und transpirieren Geld. Sie sind Magier, sie sind „Masters of the Universe“.
Nun. Die meisten Menschen machen da eher als Cartoneros Karriere. Und ihr Universum ist eine Mülltonne. Der Markt ist ein überschaubarer Ort. Und das Wort „Kreditwürdigkeit“ ist längst zum Euphemismus geworden.
War das immer schon so? Gehen wir also 500 Jahre in der Zeit zurück. Wir sind im 16. Jahrhundert. Kopernikus saß in seinem Dom in Preußen und entdeckte - völlig überrascht -, dass die Planeten um die Sonne kreisen. Columbus stellte grade fest, dass man nicht einfach hinten runter plumpst, wenn man mit seinem Schiff hinter den Horizont gerät. Der Buchdruck (die Drucker nannte man damals „Schwarzkünstler“, weil sie es „schwarz auf weiß“ druckten) war das Internet von heute. Und in Stauffen bei Breisgau wurde der erste Deutsche vom Teufel geholt. Johann Wolfgang von Goethe hat ihm (Faust) sein Leben gewidmet. Es ist die Zeit, in der die italienischen Stadtstaaten blühen, die Zeit der Borgia, die Zeit der Medici, die Zeit der Fugger. Die Geburt des modernen Nationalstaats und die Geburt des modernen Kapitalismus (Staat und Kapital sind ja so was wie siamesische Ringer) geschah wesentlich in Florenz, Padua, Mailand. Sie sehen: Bunga-Bunga-Land ist die Wiege des Kapitalismus. Das sollten wir nie vergessen. So wie Griechenland die Wiege der Demokratie ist. Aber es ist zu dieser Zeit auch immer noch tiefstes Mittelalter, geprägt von heftigstem Aberglauben, Menschen wurden verbrannt, weil sie angeblich Schadenszauber am Wetter begangen hätten. Stellen Sie sich das vor! Können Sie sich noch an Jörg Kachelmann erinnern? Aber gut. Es ist die Zeit, wo das Gebäude der Kirche wackelt. Eine kleine Eiszeit (1500 bis 1800) führte zu Missernten und mächtigen sozialen Verwerfungen. Gott sorgte nicht mehr so recht für die Menschen. Hunger herrschte, die Pest wütete. Und den Rest besorgte der Mensch dann selber. Das 16. Jahrhundert zählt 31 Kriege. Eine wahre Glücksepoche für das Kapital. Denn viele Menschen starben. Aber nicht ihr Besitz. Nein. Der wanderte in wenige Hände. Kapitalakkumulation nennt man das. Viel Geld, mit dem die damals Superreichen Statussymbole um sich häuften und sich mit Künstlern schmückten. Damals entstand der Kunstmarkt. So war es auch im 20. Jahrhundert, als viele Menschen auf den europäischen Schlachtfeldern ihren Besitz hinterlassen haben. Nach dem zweiten Weltkrieg explodierte der Kunstmarkt – ein Teil davon ging als „Schwabinger Kunstfund“ in die moderne Kulturgeschichte ein. 2012 beschlagnahmte die Augsburger Staatsanwaltschaft über 1000 Kunstwerke aus der NS-Raubkunst, die man in der Privatwohnung eines gewissen Cornelius Gurlitt fand, der hatte sie von seinem Vater.
Im Gegensatz zu Florenz, Padua oder Mailand, ging es den Bayern im 16. Jahrhundert gerade nicht so gut. Die bayrische Staatskasse war klamm. Sie sehen: Leere Staatskassen sind nichts Neues auf diesem Planeten. Also was tun? Wilhelm V., genannt „der Fromme“, hatte gerade im kurkölnischen Krieg erfolgreich 700000 Gulden verschossen und saß etwas mürbe auf seiner Burg in Trausnitz. Der berühmte Marco Bragadino saß derweil in Padua und machte fröhlich aus Pferdemist Gold. Er war ein Alchimist vor dem Herrn.
Ein klein gewachsener, krummer Ministerialer trat nun zum klammen und melancholischen Wilhelm und berichtete ihm von dem großartigen Bragadino. Also holte ihn
Wilhelm auf seine Burg. Der große Bragadino erschien, er erschien wahrlich hoch zu Ross in Gold und Seide gehüllt, mit zwei schwarzen düsteren Doggen zur Seite. Die eher schüchternen Bayern
tuschelten und ängstigten sich. Da kommt einer aus Padua, dort ist das Zentrum der Bildung, das Zentrum der Macht. Die Heimat der Michelangelos und Da Vincis. Das ist wie New York. Bayern? Das
war tiefstes Mittelalter, Landshut? Das ist heute noch weit, weit weg von New York. Also: Bragadino erwarb sich das Vertrauen des bayrischen Herrschers und seiner süßen Frau Renata von
Lothringen, einer dänischen Schönheit von äußerstem Kunstverstand. Klar. Die Herrscher hatten schon etwas gehört von Padua, wollten etwas Glanz in die provinzielle Hütte bringen.
Nun brauchte Bragadino natürlich Gold. Denn ein Anfang muss gemacht werden. Startkapital sozusagen. Und so gab der leutselige Wilhelm der Fromme dem Alchimisten eine große Anzahl Gulden (den Rest vom Schützenfest) aus seiner Kriegskasse. Wir kennen auch das noch heute. Spekulanten (unsere Hedgefonds-Manager) sind die modernen Alchimisten, Geldvermehrer und Magier.
Nun, was wir auch aus unserer heutigen Zeit gut kennen: Dem Alchimisten gelang es nicht, das Gold des Staates zu vermehren. Nur sein Eigenes. Bayern war nach
Bragadinos Besuch noch klammer als zuvor. Dank der Naivität des bayrischen Herrschers. Was man heutzutage allerdings mit Spekulanten, die das Geld verbrennen nicht mehr macht? Genau! Sie
hinrichten. Bragadino wurde am 26. April 1591 auf dem Münchner Weinmarkt mit dem Schwert getötet. Es muss eine mächtige Sauerei gewesen sein, denn der Scharfrichter brauchte für den
Alchimistenkopf drei volle Schläge. Den zartbesaiteten Bayern muss das an die Nieren gegangen sein. Vielleicht haben sie daher auch die teuflischen Doggen des Alchimisten gleich mit geschlachtet.
Sicher ist sicher.
Lernen wir daraus?
Nein. Und jetzt kommen wir der Zeit Goethes schon erstaunlich nahe. Wir sind auf dem Höhepunkt des Barock, dem Rokoko und der Verherrlichung des Absolutismus. Zu dieser Zeit, also nur hundert Jahre nach Bragadinos Kopflosigkeit, kam Domenico Manuel Caetano aus Neapel auf die Burg Grünwald, um selbiges mit Max Emanuel zu treiben, wie zuvor Bragadino mit Wilhelm V. Caetano arbeitete dabei mit Gold gefüllten Rührlöffeln, die mit Wachs versiegelt waren. Während seiner zauberhaften Vorstellungen schmolz in der Hitze des Feuers erst das Wachs und später trat geschmolzenes Gold aus. Caetano, ein begnadeter Redner, zauberte Goldstücke hervor, versprach Max Emanuel einen gewaltigen Goldschatz zu erschaffen und ließ sich am Ende seiner Vorstellung erst mal einen vernünftigen Vorschuss auszahlen. Es klappte nicht. Max Emanuel verlor die Geduld und auf der Burg Grünwald war ein Gefängnis geboren.
Ein recht idyllisches Gefängnis, wenn man es mit dem düsteren Dogenpalast vergleicht, in dem sich einst Casanova aufhielt. Caetano konnte auch bald fliehen. Aber – und daher nennt man das die guten alten Zeiten – man konnte ihn doch noch erwischen, im Gegensatz zu den heutigen Goldmachern, die sogar Regierungsämter besetzen. Wie zum Beispiel Jörg Asmussen, ein Zentralbanker, der fleißig an der Deregulierung der Wirtschaft mit geschraubt hatte. Wann? Genau! In der großen Koalition in Deutschland 2005 bis 2009 als Spezialist für Hans Eichel. Als Mitglied im Aufsichtsrat, unter anderem bei der IKB Deutsche Industriebank, setzte er sich offen für den Kauf US-amerikanischer Hypothekendarlehen und einen Ausbau des Handels mit Asset Backed Securities (ABS) ein. Diese Formen des Börsenhandels führten die IKB in die Krise und gelten als Auslöser der Finanzkrise ab 2007. Dieser Kompetenz-Flüchtling mit seinem Smartphone-Schädel besetzte von 2013 bis 2015 erneut ein Regierungsamt, als Staatssekretär im Arbeitsministerium. Ein Alchimist und Goldmacher sorgte für die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes. Das ist nicht nur zweifelhaft, das ist zum Verzweifeln.
Domenico Manuel Caetano, Graf von Ruggiero hingegen, wurde am 16. August 1709 vom preußischen Kammergericht zum Tode verurteilt. Dass die Preußen keinen Humor gehabt hätten, wiederlegt die Hinrichtungsmethode: am 23. August 1709 zwischen 11 und 12 Uhr wurde Caetano öffentlich in Küstrin an einem mit Flittergold beklebten Galgen aufgehängt. Und nicht nur das. Der preußische König Friedrich I. ließ bald danach – wohl zur Warnung an Nacheiferer – Flugblätter in allen Ländern des Reiches verteilen, in denen er das Ende des Hochstaplers mit folgenden Worten kundtat:
Arbeit / Armuth und Gestank, Rauch und Kälte und zuletzt den Strick
Zahlet in der Alchemie der Betrüger List und Tück.
Früher war nicht alles besser, klar. Aber manchmal kann man aus der Vergangenheit schon lernen.
Aber was wurde eigentlich aus der Grünwalder Burg? Einst als germanischer Wachturm gegen den Einfall der Römer gedacht, baute der Graf von Andechs im 13. Jahrhundert diese schöne Burg, dann klauten sie die Wittelsbacher. Sie übernahmen Ende des 13. Jahrhunderts die Burg und bauten sie dann hübsch. Ludwig der Strenge, Ludwig der Bärtige, Albrecht der Fromme, Albrecht der Weise (der war allerdings ein Habsburger und ein ganz schlauer Finanz-Checker, denn er spekulierte im 14. Jahrhundert das oberbayrische Kernland den Wittelsbachern weg, indem er ihnen so lange Geld lieh, bis die nur noch mit der Landespfändung bezahlen konnten). Das nur ein paar der illustren bayrischen Herrscher, deren Macht- und Ränkespiele selbst Berlusconi erblassen lassen. Aber eines, das wollten die Herrscher immer schon: Gold!
1872 ging die Burg in Privatbesitz über. Die Schwabinger Künstler und Reichen feierten Kostümfeste auf der Burg. Vermutlich zogen sie hin und wieder auch die Kostüme aus. Aber davon berichtet das Burgmuseum nicht.
Und die Nazis? Sie dürfen ja in keiner Geschichte fehlen. Ihnen verdankt die Stadt Grünwald einen berühmten Besucher, denn während der Kriegszeit, als Karl Valentin nicht auftreten konnte, lebte dieser im Jagdschlössl nebenan. Noch immer ziert ein Wandrelief mit Valentins markantem Gesicht das beschauliche Hotel.
1970 erwarb ein Münchner Bauträger das Gelände und nahm sich vor, den ganzen alten Schrott niederzureißen. Kostet nur Geld, verschandelt die Gegend und ist Träger der immer wieder gleichen dummen alten Geschichten. Aber die Gemeinde Grünwald – gehört ja auch nicht zu den ärmsten Gemeinden Münchens – verhinderte mit Bürgerinitiativen, dass die geliebte Burg durch Luxuswohnungen ausgetauscht würde. Dank dieser Initiative kaufte der Freistaat Bayern das Gelände und es entstand das Burgmuseum. Und das lohnte sich.
Vor ein paar Jahren gab es dort auch eine Sonderausstellung von dem Künstler Andreas Kuhnlein zu bewundern, der in alte Bäume mit der Motorsäge sein bajuwarisches Gemüt hinein gesägt hat. Die Figuren passen gut in die alten Gemäuer, sie sind morbid, verkörpern Geschichte und zeigen auf das Vergängliche allen Seins. Die sehenswerte Sonderausstellung endete Mitte September 2012. Wie dieser kleine Beitrag nun endet. Wie alles einmal endet. Sogar das Universum.
Doch immerhin. Unser gutes altes Universum ist nicht von Spekulanten und Bauträgern bedroht, sondern nur von Supernovae und der ewigen, eisigen Kälte.
Und irgendwo aus der Ferne hallt die Stimme eines Bajuwaren wider:
Die alten Ritter war´n recht grob
doch ihre Sprach, die is net tot,
es sei uns Rat in allen Dingen, Ritter Götz von Berlichingen.
Sagen wir es mit den Worten des Ritters selbst. Sagen wir es, wie es ist. Sagen wir, was wir von der Wallstreet halten, von der City of London, von Brüssel, von all die Idioten, die unsere Erde bevölkern und deren Existenz so zweifelhaft und nutzlos ist, wie Hundescheiße auf Schuhsohlen:
„Vor Ihro Kayserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respect. Er aber, sags ihm, er kann mich im Arsch lecken."
ENDE
Der 11. Beitrag 2023
Staffel 13
1*
Dann atme ich noch einmal ein und aus und nicht mehr ein. Und all das hier, diese ganzen Worte!
2*
Ich kann mich gut verstecken und dann könnte ich so tun, als sei ich ein anderer, ein entfernter Bekannter, ein Nachbar oder so.
3*
Und wenn ich mein Herz öffne, kommt Heiterkeit heraus.
4*
Es reicht nicht, zu sagen, dass man hier und dort auch falsch lag. Es reicht nicht, wenn man seine Fehler einsieht. Es ist viel entscheidender, dass man die Fehler die man immer noch macht und
für richtig verkauft erkennt.
5*
In der Wohnung roch es nach Pisse, es war ein wenig verwüstet. Jetzt bin ich allein. Das Loch aus dem ich einst gekrochen bin, ist nun dicht. Jetzt lebe ich nur noch aus mir selbst. Das geht aber
gar nicht. Also bin ich auch auf dem Weg.
6*
Ich teile nicht gern. Dieses Leben schon gar nicht. Es ist ja eh nicht meins. Ich kann nicht darüber verfügen. Mir wird gegeben und
genommen.
7*
Licht und Dunkel sind zwei so unterschiedliche Welten. Aber bei jedem Trip in die Dunkelheit nimmt man etwas Schatten mit ins Licht. Das ist das Problem dabei. Ganz abstreifen lässt sich das
Dunkle nie.
8*
Letztlich ist nur irgendeine alte Frau an Krebs verstorben.
9*
Nichts Unnötiges lernen. Ein paar Zeilen aus Goethes Faust auswendig zu kennen dient lediglich als Party Gag.
10*
Das feudale Mittelalter stellte dagegen eine Autoritäts- und Zwangskultur dar und opferte mit dem Primat des Glaubens vor dem Wissen die Möglichkeit kultureller Erneuerung zugunsten
feststehender Sittengesetze.
11*
Der romanische Stil ist noch Zeuge einer robusten selbstgewissen Kultur der Mönche, die mit brutalen Sanktionen gegen alles Besondere und Individuelle vorging.
12*
Die Menschen sind so durchschaubar.
13*
Herrlich. Kein Wort des Vorwurfs. Nur sachliche Abwicklung. Die haben noch nicht mal das geringste Interesse daran, sich selbst nachzuvollziehen.
Die sind so oberflächlich, so verwässert, so unerträglich unbedeutend.
14*
Die Sonne scheint, ich hab einen Rausch und höre gute Musik. Das ist alles.
15*
Ich habe also der Versuchung widerstanden. Und jetzt wird mich der Teufel nicht mehr sekkieren. Möglich, dass er noch einen Angriff auf mich vor hat, einen Lucky-Punch.
16*
Worstward Ho
wurscht war’s scho
17*
Tagtäglich sehe ich heruntergekommene Menschen, die sich fröhlich ausbeuten lassen. Sie lieben alle ihr Sklavendasein, warten ehrfürchtig auf den Schlachtmeister und beißen die, die anders sind,
die nicht versklavt und ausgebeutet werden wollen, die diesen Union Stockyards Wohlstand ablehnen. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich schätze, die meisten unter uns sind einfach dumm.
18*
Wie heißt es so schon in Unforgiven, als Bill Munny den Sheriff Little Daggett erschießt, und der sterbende Daggett sagt zu Bill Munny: „Das habe ich nicht verdient.“
Bill Munny antwortet: „Was du verdient hast oder nicht, hat damit nichts zu tun.“
19*
Es sind nicht die Zustände, die mich aufregen. Die Welt war schon immer ein ziemlich mieser Ort. Es ist die Heuchelei. So zu tun als sei alles in Butter.
20*
Glaube mich zu erinnern, bin vielleicht sogar überzeugt, mich zu erinnern, das Licht der Morgensonne, das durch die halb geöffneten Jalousien in die
Küche fiel, den aufwirbelnden Staub, als die Küchentür aufgestoßen wurde, ich erinnere mich an den Tisch, auf dem ein Haferl mit Kaffe, halb getrunken, stand, ein Teller mit Eiern und Speck, zur
Hälfte gegessen, der Geruch von in Rapsöl gebratenem Speck hing in der Luft, Mein Vater war aufgesprungen, dabei war mein Milchglas umgekippt, vier schwere Stiefel knallten hallend auf den
Holzboden, die Milch verfloss langsam auf der Tischdecke, ein allmählich dünner werdender weißer Faden zeigte in die Richtung meines Vaters. Es gab keinen Kampf. Mein Vater war ein
Schreibtischtäter. Am Tag darauf hing er am Strang. Still, der strenge aber sorgenvolle Vater.
21*
Der egalitäre Anspruch der Demokratie erschöpft sich legalistisch. Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.
22*
In einer Ausgabe des Kursbuch von 1968 zitierte der Herausgebers Karl Markus Michel den sonderbaren Ausspruch eines Studenten:
„Unsere Demonstrationen werden immer schöner. Sie hätten sehen sollen, wie wir mit Dany nach Forbach zogen, mit gelben Ginstersträußen und vielen roten Fahnen.“
Michel kann sein Unbehagen über diesen Ausspruch kaum verbergen. Er schreibt dazu:
„Der fast naive Verweis auf Ästhetisches, der dem Problem scheinbar auswich, da er kaum auf eine Wirkungsästhetik, vielmehr auf eine Ausdrucks- oder Befriedigungsästhetik abhob, gab doch eine Antwort, die das Problem erst richtig stellte: Cui bono?“ Und gestern ein Kommentar von Campact über eine Demo der Klimaaktivisten: „Die Demonstration war schön.“ Cui bono?
23*
Der Kapitalismus spiegelt nicht mehr die Lebenswirklichkeiten wieder. Längst haben sich die Verhältnisse pervertiert. Die meisten Reichen sind dumm und ungebildet. Die Armen haben sich
intellektuell emanzipiert.
24*
Bruno, sechs Jahre alt, hat ein Zimmer das größer ist als meine Wohnung, da dachte ich: Nö. Das ist mir zu viel. Wozu?
25*
Als Vernünftiger hat man es immer schwerer. Und wenn man auch noch ehrlich ist. Aufrichtig. Dann hat man verschissen.
26*
Mein Misstrauen gegen die Klarheit, gegen die Schönheit paart sich mit einer ironischen Zuneigung zur Klarheit zur Schönheit.
27*
Man kann betrunken zwar schreiben, aber nicht mehr lesen.
28*
Ich bin hier drinnen viel mehr draußen als die die draußen sind. Aber ich genieße alle Vorzüge des drinnenseins dabei. Warum sollte ich raus gehen?
Mich den Zecken und Deppen da draußen aussetzen?
29*
Noch wenige Jahre. Ich habe es bald geschafft. Die Rentenanstalt hat schon wieder geschrieben.
So war die letzte Krise geradezu ein Glücksfall und mein Überleben hauchdünn. Jetzt kann ich nur noch den Rest meiner Zeit auf ein gnädiges Ende hoffen.
30*
Ich hatte vor fast 40 Jahren einen älteren Freund, der mir damals alt erschien. Er war so um die 40 Jahre alt. Und er schüttete Zucker in den Wein. Heute weiß ich, dass Hitler das immer tat. Er
wusste das damals schon und drückte so einen besonders hinterhältigen Protest aus. Denn ein Nazi war er nicht mit seinen Rastalocken. Meine späte Ruhe hat er mir schon vorhergesagt.
31*
Sieht fast so aus, als würde ich meine Familie überleben. Ist mir gleichgültig. Andererseits wäre es auch eine diebische Freude, wäre ich nicht nur
der letzte Horwatitsch (der bin ich schon), sondern auch der letzte meiner Familie. Fehlt noch meine böse Tante. Meine Halbschwester dürfte
eine große Konkurrenz sein im Kampf um den ersten Platz im Nicht-Sterben. Sie putzt sich immer raus.
32*
Diese Familie liegt im Todesröcheln darnieder. Die Jungen machen jetzt ihr Ding. Ich muss mich da nicht mehr beteiligen.
33*
Niemand weiß wirklich, wer ich bin. Das liegt daran, dass es niemand wissen will. Allen ist die Illusion die sie von mir haben lieber.
34*
Regelmäßig Knoblauchzehen roh und Rotwein, Oliven und ein fröhliches Gemüt. Das ist das Geheimnis von Langlebigkeit.
35*
Ich kann trunken sein und sitze hier in meiner kleinen Einraumeremitage, mache beinahe was ich will und bekomme Geld dafür, wenn ich schlau daher
rede. Der Rest? Was geht es mich noch an? Niemand hört auf mich. Wenn ich meine Vorträge gebe, dann sage ich in der Regel nichts, was nicht bekannt wäre. Alles ist ja recherchiert und
nachprüfbar. Wie ich es sage, bleibt schließlich mir überlassen. Und meist ist der Mehrwert meiner Vorträge gar nicht was ich sage, sondern wie ich es sage. Dabei ist die Mimikry des
intellektuellen Habitus entscheidender, als das vermittelte Wissen.
36*
Ich habe meine fürchterliche Familie abgestoßen. Bedenkt man, dass diese Familie auch nicht fürchterlicher ist, als andere Familien, dann schaudert es einen.
37*
Meine Halbschwester schleppt die bürgerliche Familie wie eine Standarte vor sich her.
38*
„Wir sind immer noch eine Familie“, schreibt sie. Das ist Unfug. Das sind wir schon lange nicht mehr. Die Aufräumarbeiten nach dem Tod meiner Mutter brachten die alten Konflikte zu Tage. Und ich
war naturgemäß der Sündenbock. Ich nahm diese Rolle erneut an und tappte, tappe nach wie vor in alle Fallen die mir diese Hyänen-Familie stellt. Fast empfinde ich den Krebs meines Bruders als
eine Bosheit seinerseits, um mir mit moralisch erhobenem Zeigefinger vorzuwerfen, dass ich ihn getötet habe. Und ich nehme das an. Eine vollständige Abtrennung dieses familiären Geschwürs von
meinem erweiterten Leib ist eine notwendige Operation. Gesund macht sie mich nicht, aber sie bremst das weitere Fortschreiten der Krankheit. Eine Reperatio. Das Residuum meiner Entwurzelung ist
die Isolation. Abkapselung. Überall ist Familie sichtbar.
39*
Die Gesellschaft tut so, als sei jeder selbst schuld an seiner Situation. Die meisten Menschen übernehmen diese Vorstellung und überschütten sich
mit Selbstvorwürfen. Dabei ist es meist andersrum. Wir sollten all diese Selbstvorwürfe in Wut verwandeln auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.
40*
Die meisten Menschen assoziieren sozialen Aufstieg mit guter Moral. Dabei ist es genau anders. Wir wundern uns, dass die Spitze der Gesellschaft aus amoralischen Schweinen besteht? Dabei ist das
in dieser Welt nur logisch.
41*
Wenn man das Leben nüchtern betrachtet, ohne Illusion, ohne diesen ganzen lächerlichen Schnickschnack, den sie einem als Leben verkaufen wollen, dann ist es im Grunde eine verdammte Pflicht, sich
den Hals zu durchschneiden.
42*
bereits sechs Dezennien lebe ich mit der Tatsache der Bedeutungslosigkeit allen Tuns. Mein Innenleben ist inzwischen weitestgehend abgestorben. Das ist eine gute Nachricht. Denn dann wird der
Rest, der an mir klebt, dieser Körper, auch bald – und ohne Gejammer – von mir abfallen. Diesem Dasein weine ich keine Träne nach. Nur eins könnte ich noch bedauern: dass ich nicht schon viel
früher, als es noch einen Sinn machte, den letzten Schritt gegangen bin.
43*
Laut einer Umfrage unter britischen Jugendlichen im Jahr 2008 (Daily Telegraf) glaubten ein Fünftel dieser Teenager, Winston Churchill, Gandhi und
Dickens seien fiktive Personen. Für echt dagegen hielten sie Sherlock Holmes und Eleanor Rigby. Die Medienkonvergenz hat derweil zugelegt und ich vermute, dass eine Umfrage unter deutschen
Jugendlichen noch extremer ausfallen könnte.
44*
So geraten wir alle durch die zunehmende mediale Konvergenz in eine erstaunliche Glaubenskrise. Bilder werden manipuliert, Wahrheiten verdreht.
45*
Nach dem WKII glaubten einige, der Führer habe überlebt und halte sich heimlich in den Katakomben des Obersalzberges auf, um strahlender denn je zurückzukehren. Auch Jesus soll sich der
Kreuzigung entzogen und in Indien als Guru weitergewirkt haben.
46*
Der nur halb Gebildete weiß nicht weniger, als der Gebildete. Er verfügt über die gleichen Wissensinhalte, doch er nutzt dieses Wissen lediglich mechanisch.
47*
Der impressionistische Text folgt der grundsätzlichen Faktur der Auslassung und damit sendet der Text einen Appell an den Rezipienten, im Text gemachte Andeutungen assoziativ zu ergänzen. So
bekommen impressionistische Texte Deutungsvielfalt und Tiefendimension. Der Rezipient neigt bei Lektüre dieser Textart dazu, die großen Fragen (Wer bin ich, woher komme ich etc..) zu stellen. Der
Naturalismus fordert dagegen von der Sprache mimetische Genauigkeit. Im impressionistischen Text wird diese Spannung aufgemacht und das Besondere und Einmalige
48*
Wenn man bedenkt, dass sich Konservativismus von konservieren ableitet, also bewahren, dann sind unsere Konservativen ziemliche Zerstörer und die
Grünen die neuen Konservativen, was irgendwie verwirrend ist. Dass sich die rechten Kräfte in Deutschland immer noch als Konservative sehen, erscheint mir als orwellsche
Wortverdrehung.
49*
„Die öffentliche Meinung ist, wie die Religion, das stärkste Machtmittel, das selbst in den verborgensten Winkel dringt, wo Regierungsanweisungen jeden Einfluss verlieren.“ So schrieb Fürst
Metternich einmal. Doch es gibt da Schwierigkeiten. Der empirische Volkswille ist eine statistische Erhebung mehrheitlich geteilter Ansichten. Andererseits wird gerne von einem objektiven
Gesamtinteresse fabuliert, das sich als hypothetischer Volkswille von der Illusion einer Homogenität der Gesellschaft fehlleiten lässt. Der empirische Volkswille speist sich allerdings aus dem
hypothetischen Volkswillen. Denn diese Homogenität ist ein Bedürfnis. Wer will schon eine Meinung haben, die sonst keiner teilt.
50*
Rein produktiv betrachtet war ich erfolgreich.51*
Dass die meisten Menschen Olaf Scholz für real halten, ist nicht garantiert. Es ist nur unwahrscheinlich. Es müssten sich zu viele Menschen verschwören, um die Fiktion seiner Echtheit aufrecht zu
erhalten.
52*
Der Bischof von Rom Siricius beglaubigte im Jahr 392 die Jungfräulichkeit Marias trotz durchgestandener Schwangerschaft und Geburt. Witzigerweise
war Siricius der erste Bischof von Rom, der sich Papst nannte, abgeleitet vom griechischen Pappas, also Vater. Aber bedenkt man die Bestätigung der Josefsehe, dann wird das natürlich
klar.
53*
Heute haben wir eine Kulturindustrie die große Textmassen digital konserviert. In einer typischen Minute wurden 2019 über 18 Millionen Textnachrichten verschickt, Tweets von 87500 Menschen
gepostet, allein Donald Trump postete 46516 Tweets zwischen 2009 und 2020. Davon wurden allerdings 800 von seinen Mitarbeitern gelöscht. Im Jahr 2019 erfasste der Crawl-Vorgang im UK-Web
Kopien von über sechs Millionen Websites. Obwohl die Zahl ständig wächst, verschwinden jährlich 30 bis 40 Prozent der Websites oder Blogs aus dem Netz und die meisten Archive die das archivieren
sind (wie die Wayback Machine aus Kalifornien) private Initiativen mit zum Teil kommerziellen Motiven. Hier bedarf es nicht einmal mehr eines Feuers.
54*
Genial oder nicht. Das spielt keine Rolle, denn es kommt auf das Werk an. Nicht das Ego zählt, sondern das Ergebnis dieses Egos. Am Ende blickt man
dem Tod ins Auge, was kann da noch wichtig sein, ob man etwas gilt oder nicht. Egal, ob man Berühmtheit erlangt oder nicht. Es ist nicht wichtig. Sinnerfüllung? Mir nicht so wichtig, oder sage
ich besser, ein Ziel das ich verleugne. Die Frage ist, was wird bleiben.
ENDE
Der 12. Beitrag 2023
Hermeneutik
Hermeneutik und Sprache im Spiegel von Hans Georg Gadamer
Hans Georg Gadamer kam im Jahr 1900 in Marburg zur Welt und lebte in seinen letzten Lebensjahren im Neckartal, wo er im 103. Lebensjahr in Heidelberg im Stadtteil Ziegelhausen verstarb. Sein großes Werk trägt keinen geringeren Titel als Wahrheit und Methode, das er 1960 ausformulierte. Darin versuchte er zu beantworten, was die Philosophie im Angesicht der naturwissenschaftlichen Übermacht entgegenzusetzen hätte. Nichts Geringeres als die Wahrheit!
Thema des Philosophen und gelernten Philologen Gadamer ist das Verstehen von Texten. Gadamers Sprachphilosophie will den Geist der Struktur eines Textes verstehen und erfassen. Das fasste er in dem Begriff der Hermeneutik, der auch schon bei Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik auftaucht, und sich von der klassischen Bibelexegese abzusetzen versucht. Der Philosoph Baumgarten (lebte von 1712 bis 1762 in Berlin und Frankfurt) appellierte daran, dass wir nicht unsere niederen Empfindungen vergessen sollten, wie das Auge, das Ohr, die Nase, den Geschmack, unserem primären Einfallstor für alle Wahrheit. Im Zeitalter der maschinellen Intelligenz (Chat-GPT), sollten wir das tatsächlich nicht vergessen.
Die Hermeneutik als Instrument des Verstehens, ist mittlerweile das Verfahrensinstrument der Geisteswissenschaften. Ihre Herkunft aus dem griechischen hermeneutike techne (Kunst des Auslegens“, leitet sich auch von dem Götterboten Hermes aus der antiken Mythologie her. Hermes war als Bote der Götter oft zu sehr verschlagenem Handeln und Reden genötigt, da der Willen der Götter nicht immer leicht zu begreifen ist.
Die Aufgabe der Hermeneutik ist es also ursprünglich und vom Wesen her, das göttliche Wort auszulegen, sei es die Bibel oder andere göttlich inspirierte Werke.
Diese Hermeneutik brachte eine gewisse Ordnung in die Interpretation von Texten. Zunächst wurde auf die grammatische Struktur von Worten und Sätzen verwiesen. Weiter ging es um die Bedeutung der Worte und Sätze, bzw. auf die Bedeutungsstruktur des Textes: was ist mit dem Text gemeint, was meint der Text eigentlich, wie ist seine Sinnstruktur?
Hermeneutik strukturiert also Texte in ordentliche Ebenen. Die wichtigsten wie oben genannt: grammatische, Bedeutungs- und Sinnstruktur.
Der hessische Theologe Wilhelm Dilthey (1833 bis 1911) weitete die Bedeutung der Hermeneutik über Texte hinweg aus, auf Produkte menschlichen Schaffens, auf Kunstwerke. Dilthey wendete sich vom Naturalismus ab und erklärte das Erlebnis zum Wesen des Werkes. Die Wirklichkeit ist dann genau dieses Leben als Zusammenhang von Erlebnissen. Das ist dann schon recht weit entfernt von der Maschine.
Hermeneutik als grundlegendes Verfahren der Geisteswissen-schaften versucht von den äußeren Zeichen zum inneren Verstehen zu gelangen. Vom Äußeren als das Innere (Sinn) zu erkennen, dieses „auszulegen“. Auslegung ist Hermeneutik.
Im Gegensatz zur Geisteswissenschaft verfährt die Natur-wissenschaft nomothetisch, ist eine Gesetzeswissenschaft, verweist auf das Objekt und seine Gesetzmäßigkeiten.
Dagegen beschäftigt sich die Geisteswissenschaft mit dem Sinn in seiner Konkretheit und Bestimmtheit.
Drei wesentliche Sprachtheorien seien zunächst erwähnt, die zu Gadamer hinführen und dann seine eigentliche Leistung begründen.
Sprache als Instrument, verweist auf Wörter und diese Wörter wiederum auf Sachen außerhalb der Sprache selbst. Nach Aristoteles ist das Wort „klingendes Abbild einer Sache“. Das Wort hat eine Bedeutung.
Dagegen wurde von Herder oder auch Rousseau dagegen gesetzt, daß Wörter Ausdruck menschlicher Empfindungen sei, also Ausdruck dessen, was im Menschen geschieht, unabhängig zunächst von den Sachen. Erst später wurde es dann „verdinglicht“. Diese Auffassung, die man als romantisch bezeichnen könnte, erkennt die Sprache als Expression von Empfindungen. Daher kommt Wilhelm Dilthey zu dem Bemühen, zu verstehen, was der Schöpfer sagen wollte.
Wilhelm von Humboldt wiederum verwandelt die Welt in Sprache. Sprache ist das Ganze, die Sprache ist nach Humboldt selbst die Bedeutung und verweist damit auf sich selbst. Sprache ist nach ihm also kein Instrument, sondern selbst die Bedeutung, verweist damit auf sich selbst. Sprache ist Selbstzweck. Wörter sind also keine Zeichen von unabhängigen Sachen, sondern die Welt der Bedeutung ist durch Sprache selbst vermittelt. Jede Sprache enthält damit ein eigenes Weltbild. Sprache ist ein sich selbst organisierendes Ganzes. Das Formulierte enthält sich selber bereits codiert, wird quasi durch Sprache sich selber decodiert.
Gadamer, 1900 geboren und 2002 im stolzen Alter von 102 Jahren verstorben, verbrachte seine schöpferische Zeit vor allem in Heidelberg, wo er eine große Menge Schüler um sich herum scharte und weit ins Ausland hinein wirkte. Ursprünglich lernte Gadamer auch bei Heidegger, der ihn wohl so beeindruckte, daß Gadamer sein Philosophiestudium aufgab, um klassische Philologie zu studieren. Und dies war dann auch wesentlich für seine Erkenntnisse. Vor allem die alten Sprachen und Texte prägten Gadamer, der einmal scherzhaft meinte, er lese kein Buch, das nicht älter als 2500 Jahre sei.
Sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ entstand 1960. und beschäftigt sich mit der philosophischen Hermeneutik.
Man kann immer nur Teile des Textes lesen. Liest man nun diesen Text in Teilen, so erfaßt man ihn quasi diskursiv und kommt dann über die Teile sukzessive zum Ganzen. Hat man dann das Ganze in seinen Teilen verstanden, spricht Gadamer von der zyklischen Struktur. Dadurch kann es kommen, daß der Interpret den Text besser verstehen kann, als der Autor selbst.
Hier taucht das Subjekt-Objekt-Problem auf.
Der Interpret interpretiert einen vergangenen Text aus der Gegenwart heraus. Es handelt sich also bei den Fragestellungen des Interpreten an den Text immer um Fragestellungen aus dem Subjekt.
Daraus entwickelte sich auch eine Hauptkritik an der Hermeneutik: Sie zieht nämlich den Sinn nicht aus dem Text heraus, sondern sie trägt ihn in den Text hinein. Damit sei die Hermeneutik keine Wissenschaft, weil viel zu willkürlich. Der Interpret lese im Text seine eigene Problemlage und nicht die des Textes/Autors.
Dagegen sagt Dilthey, daß wir Texte sehr wohl trotzdem verstehen könnten, weil wir ein und derselbe menschliche Geist seien. Die Kritik dazu sieht darin eine metaphysische Behauptung, denn dieser „menschliche Geist“ sei ja nicht bewiesen. Die Antike hatte einen ganz anderen Geist als beispielsweise die Moderne. Daher könne die Moderne die Antike gar nicht verstehen.
Es ist daher unmöglich, Texte zu verstehen, weil sie immer aus einer anderen Zeit kommen als der Interpret.
Hier wird ein Gegensatzpaar aufgemacht: „Verstehen vice versa nicht verstehen können, das Hans-Georg Gadamer als „blöde Alternative“ bezeichnet. Gadamer sagt: Wir verstehen immer schon. Die Frage zu stellen, ob wir überhaupt verstehen könnten, sei unsinnig, weil wir das immer schon tun. Gadamer spricht hier vom Wirkungszusammenhang, der aus unserer Tradition heraus entsteht. Geschichte ist kein Phänomen der bloßen Aufschichtung, sondern geht fließend ineinander über. Alles Vergangene ist in unsere Gegenwart mit hinüber gegangen, begründet, stiftet unsere Gegenwart. Wir können also nicht behaupten Vergangenes nicht zu verstehen, weil es unseren Wirkungszusammenhang ausmacht. So tradiert sich Historisches hinweg in weitere Geiste. Im Geist der Moderne liegt also der Geist der Antike. Dem entkommen wir gar nicht.
Texte sind, so Gadamer, immer schon interpretiert worden, stehen immer schon in einem Wirkungszusammenhang.
Gadamer sieht also in den sogenannten Vorurteilen nicht nur Negatives, die das Verstehen verhindern, sondern im Gegenteil: Vorurteile ermöglichen uns erst das Verstehen (Wirkungszusammenhang) des Anderen.
Nach Gadamer hört das Verstehen nie auf. Es gibt also kein absolutes Verstehen aber auch kein absolutes Nicht-Verstehen. Das Medium, worin sich das Verstehen vollzieht, ist ja die Sprache selbst.
Daher sieht Gadamer die Sprache als „dialogisch“.
Verstehen ist immer wechselseitig. Alles ist Sprache, oder Sein das verstanden werden kann ist Sprache.
Was sich also sprachlich nicht vermitteln läßt, ist nicht verstehbar. Sprache ist nach Gadamer unhintergehbar.
Hier sprach man dann von der sogenannten Sprachontologie, dem linguistic turn.
Man bewegte sich weg vom Bewusstseins Paradigma hin zum Sprachparadigma.
Denken ist auch schon immer sprachlich. Man entkommt der Sprache also nicht. Denken findet durch Sprache statt, nicht zuerst denkt man und dann übersetzt man das Gedachte in Sprache, sondern Denken geht nicht unsprachlich.
Daraus resultiert auch Gadamers Skepsis gegenüber dem Denken der Aufklärung, beruhend auf dem Traditionszusammenhang in Gadamers Philosophie. Man kommt aus der Tradition nicht heraus, selbst die Kritik an der Tradition schöpft ihre Kritik aus der Tradition.
Gegen diese Philosophie regte sich verschiedentlich Kritik, vor allem in der Diskussion zwischen Gadamer und Habermas.
Habermas erkennt, daß in diesem Wirkungszusammenhang keine Maßstäbe mehr gelten für richtiges und falsches Interpretieren/Verstehen.
Wie, so fragt man sich zurecht, entstehen denn nun Maßstäbe.
Nach Habermas gibt es dann auch in Gadamers Philosophie keinen Platz für Utopie und Emanzipation. Da ja alles ohnehin in der Tradition liegt, das ewig gleiche sich vollzieht.
Dann weiter: Gadamer interpretiert in erster Linie die abendländische Tradition. Wenn diese unhintergehbar wäre, könne man keine andere Kultur verstehen. Jeder wäre in seinem Wirkungszusammenhang quasi verstrickt, unhintergehbar.
Von Derrida kommt eine weitere Kritik an dem Dialogischen. Denn dies Dialogische formuliert schon wieder eine Macht. Denn Gadamer fordert das Verstehen. Du mußt quasi verstehen. Reden und Schreiben tun wir, um verstanden zu werden. Niemand, so Gadamer, will explizit nicht verstanden werden.
Dagegen kontert Derrida unter anderem auch mit Nietzsche, der sehr wohl sagte, gleichzeitig verstanden aber auch nicht verstanden werden zu wollen.
In diesem „du mußt“ verstehen, liegt also eine prekäre Forderung der Macht.
Besonders anschaulich zeigt sich dies in der Jugendkultur und Jugendsprache, die sich abgrenzt von Erwachsenenkultur gerade durch ihr nicht verstanden werden durch die Erwachsenen.
Einem Jugendlichen wäre es wohl unangenehm, von einem Erwachsenen verstanden zu werden, er empfände dies als peinliche Anbiederung und Eingriff in seine Autonomie.
Ganz in diesem Sinn ist maschinelle Intelligenz in seinem Positivismus unbefriedigend und kann nie wirklich schöpferisch werden. Das Bedürfnis nach Geheimnissen, das Bedürfnis nach einem Innen, das die Macht des Außen abwehrt, dieses Bedürfnis wird in der Hermeneutik offener gehalten als in der positivistischen maschinellen Intelligenz.
ENDE
Der 13. Beitrag 2023
NAZIS VOM MOND
Die dunkle Seite des Mondes
Vor 90 Jahren wurde ein nettes, mitteleuropäisches Land von den Faschisten gekapert und in gut zehn nahezu vollständig vernichtet. Dann sind die Faschisten wieder verschwunden und die guten Demokraten haben es wieder aufgebaut, dieses nette, mitteleuropäische Land. Und jetzt sind sie wieder zurückgekommen, die bösen Faschisten. So lautet die Erzählung. Die letzten 70 Jahre lebten die letzten überlebenden Faschisten hinter dem Mond, versteckten sich dort, nisteten, brüteten. Jetzt sind sie wieder so viele, dass sie zurückschlagen können. Anfangs tarnten sie sich noch in einer Alternative, spielten gezähmte Opposition, trugen Mensch-Masken. Doch jetzt ist die Zeit gekommen! Sie lüpfen die Masken und zeigen ihre wahre Monsterhaftigkeit immer offener. Auch vor 90 Jahren haben die bösen Faschisten das gutgläubige, nette mitteleuropäische Land auf diese Weise getäuscht. Die guten Bewohner dieses toleranten, arbeitsamen und friedlichen mitteleuropäischen Landes waren schockiert, als sie plötzlich erkannten, was da über sie gekommen ist. Vor Schreck erstarrt ließen sie die bösen Faschisten alles machen, wehrten sich nicht mehr, hatten nur noch Angst und beteten zu Gott, den ganzen Tag. Als alles schon zu spät schien und die guten Menschen dieses so friedlichen Landes von den bösen Faschisten in Trümmer zerhauen worden war, da kamen in goldener Rüstung auf weißen Pferden die Retter. Sie nannten sich Demokraten und befreiten die armen und geknechteten guten Leute dieses guten Landes.
Dass man in den vor 30 Jahren durch jene Nachfahren dieser edlen Ritter befreiten Osten dieses Märchen auch glauben sollte, war die Idee.
Doch die edlen Ritter auf den weißen Pferden hatten einen Henry Ford, dessen Porträt sowohl im Büro von Goebbels als auch im Büro Hitlers hing. Sie hatten einen Madison Grant dessen antisemitisches, rassistisches Hauptwerk Defending the Master Race sich Hitler vom Autor persönlich hat signieren lassen. Sie hatten ein America first Commitee, das Hitler aktiv unterstützte und zuletzt von Donald Trump wiederbelebt wurde. Die Franzosen, die Engländer, alle hatten sie Faschisten und haben sie weiter. Die Faschisten aus Deutschland kamen auch nicht mit dem Raumschiff hier an, sie waren bereits da. Die brutalen Kolonialisten und Kriegshetzer des Kaiserreichs gingen auch nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht weg. Das alles ist genauso bekannt, wie die Tatsache, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Faschisten nicht verschwanden. Ein paar sind mit jüdischen Pässen nach Argentinien geflohen. Aber die meisten von ihnen halfen treuherzig mit, den Rechtsstaat, den Bildungsstaat, den guten und braven mitteleuropäischen Staat wieder in das Märchenland zu verwandeln, das es ja ist.
So erzählt man bis heute den Kindern das Märchen von den guten, fleißigen und toleranten Demokraten und räumt die dunkle Seite des Mondes dieser Geschichte nur widerwillig ein.
Seit Gründung der Demokratie saßen die Faschisten mit am Tisch,
formten die Gerichte, lehrten an den Schulen und Universitäten. Ich habe selbst gute Germanistik-Lehrbücher von aufrechten Faschisten bis 1945, die sich dann zu aufrechten Demokraten wandelten im
Bücherregal stehen. Sie bildeten die Grundlage der demokratischen Germanistik.
Wenn heute also Märchen erzählt werden vom guten Deutschland, dann ist das eine geschichtliche Konstruktion, die ihre
Berechtigung verloren hat. Eine Demokratie, die sich zunehmend in einer Todesspirale aus Management und Verwaltung selbst niederringt, eine Demokratie, die längst ihren Zugriff darauf verloren
hat, gesellschaftliche Vorgänge zu deuten, eine Demokratie, die in einem global organisierten Hightech-Kapitalismus keinerlei Marktkontrolle mehr ausübt, eine Demokratie, die im Grunde nur noch
ihren eigenen Schatten verteidigt, so eine Demokratie ist zu fragil, zu anfällig für Monster. Das lässt sich überall auf der Welt beobachten. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Und fragen Sie mich
jetzt: Wie konnte es so weit kommen? Nun. Es war schon so, bevor es so weit kam. Märchen sind keine Grundlage für ein demokratisches Wesen. Als Solon dem attischen Seebund seine Gesetze für eine
Demokratie gab, legten die Griechen einen Eid ab, diese für zehn Jahre nicht zu brechen. Um diesen Eid abzusichern, verließ Solon Griechenland und ging diese zehn Jahre auf Wanderschaft. So
berichtet es uns Herodot. Dieser aus dem heutigen Bodrum (Türkei) stammende Historiker lebte im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Er legte den Grundstein für das Vermischen von Fakten und
Mythen.
Heute sollten wir eigentlich wissen, dass diese Erzählungen keinen universalen Wahrheitscharakter haben können. Das Ringen darum, wie Rassismus, Antisemitismus und Autoritätshörigkeit in einer fortschrittlichen Demokratie möglich sein können, gründet sich im Mythos. Der Mythos ist ein Versprechen. Bei den Griechen war es eine Rückschau in vergangene Zeiten (das goldene Zeitalter). Bei den Christen ein Chiliasmus für jenseitige Zeiten und in der Demokratie ein Versprechen für kommendes diesseitiges Glück. Immer noch gilt Churchills Versprechen als würdiger: Blut, Schweiß und Tränen. Aber mit solchen Versprechen wird man nicht gewählt.
Demokratie ist anstrengend, mühsam, oft frustrierend und eher selten mit dem eigenen Glück kompatibel. Sich für andere einzusetzen, ohne Karriere damit zu machen, sich zu engagieren, ohne gleich
Präsident des Vereins zu werden, das alles bedeutet Verzicht. Statt Urlaub auf Teneriffa zu machen, sitzt man in einem muffigen Keller bei einer ermüdenden Vereinssitzung, die am Ende keinen
Beschluss fassen kann, weil mindestens so viel dafür wie dagegen sind. Statt gemütlich zu Hause auf dem Sofa Chips zu knabbern, formuliert man in seiner Freizeit Pressemitteilungen, klingelt als
Wahlhelfer vergeblich an vernagelte Türen und so weiter.
Natürlich ist Demokratie eine feine Sache. Aber wir müssen sie uns selbst machen. Sie wird nicht gemacht. Sie ist keine Doku-Serie, die abends auf Netflix läuft. Sie ist leider real. Das ist das Hauptproblem von uns allen.
ENDE
Der 14. Beitrag 2023
Ein trauriger Ritter tritt auf
und ertönt in der Wirklichkeit
Im Jahr 2002 wurde von Schriftsteller aus aller Welt der Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha von Miguel de Cervantes, übersetzt Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha zum besten Buch aller Zeiten gewählt. Der norwegische Buchclub forderte 100 Autoren aus 54 Ländern auf, ihre zehn persönlichen Favoriten zu wählen und erstellten daraus eine Liste mit den 100 größten Romanen. "Don Quijote" habe dabei rund 50 Prozent mehr Stimmen erhalten als jedes andere Buch, erklärte der Club.
Für die anderen Bücher auf der Liste gab der Club keine Platzierungen an. Erfolgreichster Schriftsteller war der Russe Fjodor Dostojewski, der gleich mit vier Werken vertreten war: "Schuld und Sühne", "Der Idiot", "Die Dämonen" und "Die Brüder Karamasow". Franz Kafka, William Shakespeare und Leo Tolstoi schafften es mit je drei Werken auf die Liste, Thomas Mann, William Faulkner und Virginia Woolf mit je zwei. Als bester deutscher Schriftsteller wurde Günter Grass gewählt.
Zu den befragten Autoren gehörten John Irving, Salman Rushdie, John Le Carre, Carlos Fuentes und Fay Weldon. Die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren gab noch vor ihrem Tod im Januar ihre Stimme ab. Ihre "Pippi Langstrumpf" war ebenfalls auf der Liste vertreten.
DIE WAHRHEIT ÜBER SANCHO PANSA
Von Franz Kafka (1931)
Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, dass dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.
So gelingt es Franz Kafka, erneut Verwirrung zu stiften, indem er die Rollen vertauscht und nicht nur das, sogar den Teufel selbst dabei bannt. Kafka greift auf seine meisterhafte Art den Selbstreferenz auf und bedient sich ihrer als weitere Wahrheit.
Es handelt sich bei Cervantes Rittersatire nicht nur um eine Mischung aus heroischem Roman und Schelmenroman (Guzman), sondern auch um den ersten modernen Roman der Weltgeschichte, 1605 erschien der erste Teil, 1615 der zweite Teil.
Zum zweiten Teil gibt es aber eine weitere Geschichte, mit der ich beginnen möchte:
Ein berühmtes Beispiel für so genannte Selbstreferenz (eine Idee, ein Bild, ein Modell nimmt auf sich selbst Bezug, wie in dem berühmten Satz auf der Whiteboard „dieser Satz ist falsch“) ist der große Roman „Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha“, von Miguel de Cervantes Saavedra aus dem Jahr 1605. In vielerlei Hinsicht zählt dieser Roman (aus dem goldenen Zeitalter der spanischen Literatur) zum ersten modernen Roman der Kulturgeschichte. Das liegt vor allem am zweiten Teil, den Cervantes 1615 herausbrachte. Denn ein Jahr zuvor hatte ein gewisser Avellaneda (Pseudonym) eine apokryphe Fortsetzung geschrieben, eher plump und einförmig. Cervantes reagierte darauf besonders raffiniert indem er nicht nur den Handlungsstrang der Fälschung aufgreift, sondern auch die Figuren aus der Fälschung mit dem originalen Don Quijote und Sancho Pansa konfrontiert. Während in der Fälschung von Avellaneda Don Quijote von dem Edelmann Don Alvaro Tarfe ins Irrenhaus eingesperrt wird, konfrontiert ihn Cervantes mit dem „wirklichen“ Don Quijote, Tarfe ist irritiert und muss bekennen, dass er nun dem tatsächlich wirklichen Ritter begegnete und er eine Fälschung ins Irrenhaus brachte. Und auch Sancho, muss Don Alvaro Tarfe bekennen, ist viel geistreicher, als in der Fälschung von Avellaneda.
So wurde der zweite Teil des Don Quijote nur deshalb so geschrieben, weil es eine Fälschung gab und die Figuren treten aus dem Roman in die Wirklichkeit. Im zweiten Teil begegnen dem komischen Paar viele Leute, die den ersten Teil schon gelesen haben. Die Figuren im Roman haben also ein heterodiegetisches Wissen über den ersten Teil des Romans. Und es wird so eindeutig, dass die Fortsetzung des Avallaneda unwahr war. Das ist in der Tat verwirrend.
Die Stimmen zu diesem Werk sind unendlich und man könnte mehrere Semester mit diesem Werk füllen. Was soll ich Ihnen also sagen zu diesem Roman, der sich nicht nur in die Literaturgeschichte, sondern überhaupt in unsere Geschichte so intensiv eingeschrieben hat?
Ist es der Humor darin, dass ein einfacher Hidalgo sich nach übermäßiger Ritterlektüre selbst zum Don erklärt? Alonso Quijano, ein Sohn von etwas (Hidalgo) nennt sich Don Quijote, was sich auf die ledernen Beinschienen bezieht, also Don Diechling, oder Don Kniebuckel. Sein Gehirn ist eingetrocknet von der Lektüre vieler Ritterromane, die zu dieser Zeit als Cervantes den Roman schrieb, bereits ihre Blütezeit weit überschritten hatten. Daher war es auch möglich, diese Parodie anzubringen. Der Text ist voll mit den Zitaten aus dem Sagenkreis des König Artus, den zwölf Paladinen des Roland oder des Ritter Cifar und vor allem Amadis de Gaula, einer Serie von Ritterromanen, eine Urfassung von Vasco de Lobeira ist nicht erhalten, die älteste Bearbeitung auf, die sich auch Cervantes bezieht, stammt von Garci Rodríguez de Montalvo der selbst Ritter der Reconquista war, lebte von 1440 bis 1504, stammt aus Zentralspanien und war im Dienste der katholischen Könige.
Als Katholische Könige bezeichnet man die spanischen Monarchen Königin Isabella I. von Kastilien (1451–1504) und König Ferdinand II. von Aragón (1452–1516), der als Ferdinand V. auch König von Kastilien war. Der Herrschertitel Reyes Católicos wurde ihnen im Jahr 1496 von Papst Alexander VI. verliehen.
Selbst Goethe hatte den Amadis gelesen:
„Ich habe vor Langerweile allerley gelesen, z. B. den Amadis von Gallien. Es ist doch eine Schande, daß man so alt wird, ohne ein so vorzügliches Werk anders als aus dem Munde der Parodisten gekannt zu haben.“
Eine Bücherliste der Bibliothek von Alonso Quijano wird uns im 6. Kapitel des ersten Bandes vorgestellt, und dabei wird eine Auswahl getroffen, was verbrannt und was erhaltenswert ist. Auch hier kommt es zu einem Bruch mit der herkömmlichen Literatur, wird dort doch vom Autor selbst ein eigenes Buch erwähnt, die La Galatea, ein Hirtenroman von Cervantes.
Nach antikem Vorbild spielt die novela pastoril im verklärten Niemandsland Arkadiens. Sie gründet nicht auf einem Programm der Wunscherfüllung, sondern auf Verzicht. Die novela pastoril kultiviert Passivität und Leiden an Stelle heroischer Taten. Verantwortlich für das Leiden ist die unglückliche, weil unerwiderte Liebe zu einer adeligen Frau. In der ganz als idyllischer locus amoenus gestalteten Natur, in der sich die Schäfer versammeln, scheinen alle sozialen Konflikte völlig beseitigt und lediglich die unterschiedliche Verteilung von Affekten scheint für Ungleichheit zu sorgen.
Cervantes legte mit La Galatea im Jahre 1585 einen weiteren Meilenstein dieser Gattung. Gemäß der Logik des Prinzips in Arcadia ego, haben Kritiker manifestiert, dass die Schäfererzählung nicht komplett frei von emotionalen Erschütterungen ist.
Die
Protagonisten, die sich anfangs nach dem Schema des Arkadientypos richten, nehmen mit zunehmender Zeit durch einige Begebenheiten einen menschlichen Charakter an.
Insofern erwähnenswert, da der traurige Ritter am Ende des zweiten Teils seine Rüstung ablegt und zum Hirten wird, also in eine ganz andere Rolle schlüpft,
ehe er zurückgezogen stirbt.
Spaniens goldenes Zeitalter
Anfang des 16. Jahrhunderts hat Spanien den Höhepunkt seiner Macht erreicht. Der Titel Karls V, in dessen Reich nach Eroberung der amerikanischen Kolonien 1492 die Sonne niemals unterging, lautete: Römisch-deutscher König, Erwählter Römischer Kaiser, Mehrer des Reiches, König von Spanien, Sizilien, Jerusalem, der Balearen, der kanarischen und indianischen Inseln sowie des Festlandes jenseits des Ozeans, Steier, Kärnten, Krain, Luxemburg, Limburg, Athen und Nepatria, Graf von Habsburg, Flandern, Tirol, in Schwaben, Herr in Asien und Afrika.
Doch 1556 kommt mit Philipp II ein strenger Katholik an die Stelle eines weltoffenen Reisenden. In dieser Periode kommt es zu Vertreibungen, zu Inquisitionen. Philipp hat es mit den Gegenkräften der Reformation zu tun, mit den Niederlanden, mit der aufsteigenden Macht Englands, Doch 1580 kommt es zur bekannten Reunion, zur Annektierung des in der Zeitschiene des Elefanten Salomon (König Johann I schenkte dem Nachfolger Karls IV einen Elefanten zu dessen Hochzeit, dieser wurde 1552 nach Wien überführt) noch unabhängigen Portugals.
Zuvor, bereits 1568 kam es zu einem Aufstand der Morisken, Moslems, die zum katholischen Glauben konvertiert waren, dieser wurde massiv unterbunden. Viele Morisken siedeln in die Weiten der Mancha (dem Ort des Don Quijote).
Sie bauen dieses Ackergebiet auf, es werden blühende Landschaften. Doch der katholische Dogmatismus und das türkische Schreckgespenst führen zu einem Klima der Intoleranz gegenüber der Morisken. Diese greifen zu einer List. 1588 findet man in den Ruinen der Hauptmoschee von Granada die so genannten Bleibücher von Sacramonte. In diesen Schriften wird bewiesen, dass es schon vor dem Einfall der Sarazenen im 8. Jahrhundert, arabische Christen auf der iberischen Halbinsel gegeben habe. In den Büchern ist in mehreren Sprachen (arabisch, lateinisch, griechisch) in großer Gelehrsamkeit auch über biblische Legenden die Rede. So käme die katholische Herrschaft in einen Konflikt, würde man weiter gegen die Morisken vorgehen. Außerdem „prophezeien“ die Schriften die Ankunft des Propheten Mohammed und auch Martin Luthers sowie ihre eigene Auffindung, womit sie dem Bischof von Granada schmeicheln wollen. Islam und Protestantismus wird hier einander angenähert. Erst im 17. Jahrhundert werden die Schriften vom Vatikan als Fälschung angesehen. Im Jahr 2000 wurden die Bleibücher unter Leitung von Kardinal Ratzinger an Granada zurückgegeben.
Cervantes trägt diesen Diskussionen um die Bleibücher augenzwinkernd Rechnung, indem er den Don Quijote einem arabischen Historiographen in den Mund legt und am Ende des ersten Teils Fragmente einer Fortsetzung in Bleischatullen zu Tage fördert. Auch dies ist ein Beleg für Modernität des Romans, da die Auto Referenzialität des Textes mehrere beglaubigte Autoren zu haben scheint.
Dennoch kommt es zur Vertreibung von über 300.000 Morisken, was für Spaniens Wirtschaft schon bedeutend war. Der Adel war nicht glücklich darüber, da sie in Zukunft auf die Steuereinnahmen und auf die wertvollen Arbeitskräfte verzichten mussten. Spanien verlor ein Viertel seiner Bevölkerung auf diese Weise.
Kardinal Richelieu bezeichnete diese Vertreibung als die tollkühnste, barbarischste Maßnahme, die die Geschichte bisher erlebt habe. Cervantes wird dieses Vorgehen auf seine Weise im Don Quijote kommentieren. Da offene Kritik nicht gebilligt wurde, wählt er den entgegengesetzten Weg: die begeisterte Zustimmung. Doch indem er sie ausgerechnet dem braven christlichen Morisken Ricote in den Mund legt, wird die Kluft zwischen blindem Dogmatismus und individuellem Schicksal nur umso deutlicher. Thomas Mann sagt dazu in Meerfahrt mit Don Quijote (1934, Th. Mann hatte den Quijote als Reiselektüre bei seiner Überfahrt nach Amerika dabei): „Das Herz des Dichters, das im zweiten Teil von Ricotes Rede zum Ausdruck kommt, spricht eine überzeugendere Sprache als seine vorsichtig unterwürfige Zunge.“
Im Don Quijote von 1615 ziehen Ritter und Knappe durch ein Spanien im Verfall. Die Mancha ist entvölkert, die Adligen leben in Verschwendung und Faulheit und suchen nur das Vergnügen, wie das Herzogs Paar, das mit Don Quijote und Sancho seine Späße treibt, um der Langeweile zu entkommen, dem ennui der Dekadenten. Sie ergötzen sich an Ritterromanen, da die eigene ritterliche Vergangenheit bereits lange zurückliegt. Jetzt wird der Krieg nur noch gespielt, sei es bei Turnieren oder auf der Jagd, die der Herzog Sancho wärmstens empfiehlt, da sie so gut auf den Krieg vorbereite, den die Adligen doch längst an das Berufsheer abgetreten haben.
Cervantes selbst
„Den ihr hier seht, mit adlerartigem Gesicht, mit hellbraunen Haar, glatter, heiterer Stirn, fröhlichen Augen und gekrümmter, jedoch wohlgeformter Nase, silbernem Bart, der noch vor zwanzig Jahren golden war, großem Schnurrbart, kleinem Mund, mit weder winzig noch üppig gewachsenen Zähnen, denn er besitzt nur mehr sechs, schlecht beschaffen und noch schlechter verteilt, da zwischen ihnen Lücken klaffen; der Wuchs des Leibes in der goldenen Mitte, weder groß noch klein, von eher heller Haut als dunkler, ein wenig gebeugt und nicht sehr flink zu Fuß“
Dieses Selbstportrait ist zuverlässiger als mögliche Bilder. Denn es gibt von Cervantes keine beglaubigte Bilddarstellung. Cervantes wird 1547 in Alcala de henares geboren, einer ehemaligen maurischen Festung dreißig Kilometer von Madrid entfernt, die im 16. Jahrhundert eine Hochburg der Bildung war.
Mit 21 Jahren schreibt er Gedichte zum Tod der dritten Frau Philipps II. doch die Autorenkarriere wird wohl unterbrochen durch ein missglücktes Duell und Cervantes flieht nach Rom. Ein Jahr als Kammerdiener eines Kardinals, danach wird er mit seinem Bruder Rodrigo Soldat und nimmt auch an der berühmten Schlacht von Lepanto gegen die Türken teil. Dabei wird er schwer verletzt und verliert die Beweglichkeit seiner linken Hand: El Manco de Lepanto nennt man ihn zukünftig. Der Autor der Fälschung Avellaneda beschimpft Cervantes in seiner Vorrede als einhändigen, verbitterten alten Mann. Cervantes antwortet in seiner Vorrede darauf elegant, dass er ein Soldat war, ein Ritter, der noch an etwas glaubte.
Schließlich gerät Cervantes in eine fünfjährige Gefangenschaft in Algier, erst 1580 kommt er frei (seine Familie hatte lange nicht das Lösegeld dazu). In Madrid versucht er wieder Fuß zu fassen in der Literatur. Doch der fünfzehn Jahre jüngere Konkurrenz Lope de Vega ist dort schon so etabliert, dass Cervantes Mühe hat. Sein Schäferroman La Galatea erscheint 1585. Galatea soll an einen portugiesischen Schäfer verheiratet werden. Hier greift Cervantes bereits kritisch die Eroberung Portugals auf.
Cervantes bewirbt sich für ein Amt in den Kolonien, wird aber nicht genommen. Man macht ihn zum Steuereintreiber und dabei lernt er wohl die Gegend kennen, die später sein berühmter Ritter bereisen wird, die Mancha. Dabei gerät er einmal sogar in Schuldhaft. Doch er wird nach ein paar Monaten wieder frei gelassen. Es ist eine Legende, er habe dort den Don Quijote geschrieben. Aber die Idee mag hier wohl entstanden sein.
1603 spitzt sich die Feindschaft zwischen Cervantes und Lope de Vega zu. „Keiner ist so schlecht wie Cervantes oder so dumm, dass er den Don Quijote loben würde“ behauptete Lope de Vega später, und schickt ihm auch noch per Nachporto ein Sonett zu, indem er ihn beleidigt und beschimpft. Cervantes meinte daraufhin, dass er nie wieder für den Empfang eines Briefes bezahlen würde, seit dieser Erfahrung.
Am 23. April 1616 stirbt Cervantes verarmt in Madrid. Es ist das gleiche Todesdatum, das auch Shakespeare hatte. Doch der Wermutstropfen für diese schöne Koinzidenz: im Jahr 1582 veröffentlichte Papst Gregor XIII. eine Bulle, die alle verpflichten sollte, den korrigierten gregorianischen Kalender einzuführen um am 04. Oktober 1582 sollten zehn Tage übersprungen werden. Denn der julianische Kalender hinkte zehn Tage hinterher. Nur die anglikanischen Briten akzeptieren diese Reform nicht. Daher starb Shakespeare wohl zehn Tage früher als Cervantes.
Die spanische Regierung opferte 2014 über 12 Millionen Euro um seine Knochen in einem verwaisten Madrider Trinitarier-Kloster ausgraben zu lassen. Seine linke, gelähmte Hand wäre der schlagende Beweis, dass er dort beerdigt worden war.
Der Ritter von der traurigen Gestalt (wie er sich selbst nach seiner ersten Niederlage nannte) ist ein Held, ein Mann, der sein Ideal über die Realität stellte und für seine Moral riskierte, sich lächerlich zu machen. Es ist wahrlich traurig, dass wir über ihn und seinen hoffnungslosen Kampf gegen Windmühlen heute noch lachen. Cervantes schuf eine Figur die aus der Schrift, dem Text, dem Gedanken heraustrat und mit allem Risiko in die Wirklichkeit übertrat. Dafür gebührt dem Spanier alle Ehre und unser aller Respekt.
ENDE
Der 15. Beitrag 2023
Universalienstreit in der Scholastik
Ab dem 11. Jahrhundert wird vor allem über die Klöster der schulische Betrieb der Kirche ausgebaut. Ein wichtiges bzw. zentrales Thema war der Universalienstreit, das Verhältnis von Begriff zu Inhalt, Ausdruck zu Sache.
An dieser Stelle ist es gleich angebracht den häufigen Verwirrungen vorzubeugen. Denn die Positionen des Realismus und des Nominalismus werden vielfach verdreht.
Realismus bezeichnet eine Position: Das Allgemeine ist vor dem Einzelnen.
Nominalismus hat die Position: Das Allgemeine folgt dem Einzelnen.
Auf politischer Ebene kritisierten die Klöster (vor allem die Benediktiner) die Kirche und ihren allzu weltlichen Stil. Die Kirche dagegen versuchte ihren Einfluss auf die Ostkirche aufzubauen und stellte sich gegen die Klöster.
Historischer Höhepunkt ist sicher der Investiturstreit zwischen Gregor VII und Heinrich IV (der von Urban II und Heinrich V im Wormser Konkordat zur Einigung gebracht wird, aber eigentlich eine Einigung durch die Spaltung der Einheit von Kaiser und Papst).
Die Reconquista umschreibt eine Epoche die vereinfacht dargestellt ein Versuch der Christen war, die Muslime (die bereits bis nach Südfrankreich vorgedrungen waren) zurück zu drängen. Aber es war – wie viele historische Zusammenhänge – komplizierter und zeigte sich auch in Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Akteure.
Der Lombarde Lanfrank von Bec (1010 – 1089) war Erzbischof von Canterbury (Oberhaupt der englischen Kirche) und setzte sich für die Klöster ein. Er lebte Jahre als Einsiedler im Benediktiner-Kloster Le Bec (bei Notre Dame). Das Credo von Lanfrank, der aus vornehmer Gesellschaft kam und in den sieben freien Künsten gebildet war, lautete: Dass du mit Vernunft beweist, was zu beweisen ist und ausschließt, was auszuschließen ist, das trage ich dir auf. Lanfrank gehört so zu jenen, für die der Glaube aus vernünftigen Gründen ableitbar ist. Wenn man nur genügend nachdenkt, ergibt sich Gott logisch.
Ganz anders sah das sein Konkurrent Petrus Damiani aus Ravenna (1006-1072). Von ihm stammt der berühmt-berüchtigte Satz: Die Philosophie muss die Magd bleiben und dem Glauben als ihrem Herren nicht vorangehen, sondern höchstens nachfolgen. Damiani war Berater von Gregor VII. Investiturstreit nahm er eine wichtige Rolle ein im Kampf gegen die Simonie und für das Zölibat.
Abendmahlstreit
Im berühmten Abendmahlstreit ging es um das Wesen der Eucharistie. War die Hostie nur ein Symbol vom Leib Christi? Oder war der Leib Christi hierin vorhanden. Lanfrank vertrat gegenüber Berengar von Tours die Position der Realpräsenz des Leib Christi in der Hostie. Lanfrank gilt als Vordenker der Transsubstantiationslehre, der Wandlung von Brot und Wein in den Leib Christi und sein Blut. Ausgehend von der aristotelischen Lehre von Substanz und Akzidenz. Die Substanz ist die nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenheit der Dinge, während die Akzidentien die nicht wesentlichen, veränderbaren Anteile darstellen. Sie haften der Substanz an, aber sie sind ihr nicht notwendig, denn durch ihre Veränderbarkeit und Zufälligkeit gehen sie vom Zugrundeliegenden aus, liegen diesem aber nicht selbst zugrunde. Statt einer Hostie könnte man im Grunde auch eine Fertigpizza für das Abendmahl hernehmen. Es findet in der Konsekration eine Übertragung der Sache in den sakralen Bereich statt.
Berengar von Tours (bis 1088) nahm eine gegenteilige Meinung an. Es ist merkwürdig, dass du annimmst, etwas würde existieren nachdem seine Substanz sich verändert hat, und zwar auf der Basis dessen, dass die neue Substanz zufällig die gleichen Eigenschaften habe, wie die alte. (De sacra coena) Dies erkannte er als einen Widerspruch zur Vernunft.
In diesem Streit aber liegt schon wieder der Universalienstreit zugrunde, der Widerspruch zwischen dem Ganzen und dem Teil. Wie kann es sein, dass das Einzelne (die Hostie) nicht teilhat am Ganzen (Leib Christi)? Doch andersherum kann das Teil nie selbst das Ganze sein.
Dann trat (wie oft, wenn es wirklich nötig ist) ein Mann von großem Verstand auf. Der in den italienischen Alpen in Aosta geborene Anselm von Canterbury (1033-1109) studierte bei Lanfrank le Bec und wurde sein Nachfolger als Erzbischof von Canterbury.
Durch nichts ist jedoch nichts. Es lässt sich nicht einmal denken, dass etwas nicht durch etwas sei. Alles was ist, ist durch etwas. Und es ist unzweifelhaft, dass alles durch dieses ist, das ihm sein Durch-Sich-Selbst-Sein gibt. Dieses Eine ist die Einheit und das Höchste in allem (Monologion).
Alles was ist, ist durch das, denn es gelangt durch sich selbst zum Sein. Diese letzte Ursache hat selbst keine Ursache mehr. Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Anselm nannte es das per se ipsum.
Es folgt daher, dass, wo diese Selbigkeit nicht ist, nichts ist. Sie ist ihr Sprechen (monologion).
Dieses durch sich selbst Seiende wurde bzw. wird fälschlicherweise als Gottesbeweis geführt. Das ist so nicht korrekt. Die Begriffe sind nach Anselm der Grund der Erkenntnis. Er zeigt sich damit als Begriffsrealist.
Dieses Einzigartige und einzigartig Wunderbare ist der Geist. Denn allein der Geist ist auf diese Weise und alles andere ist nicht oder kaum. Dieser Geist ist je der Vater des durch ihn Gezeugten. Und es ist zugleich unmöglich, dass sie beide verschieden sind. Denn alles andere hat Sein nur durch Analogie zu diesem höchsten Geist.
Alles Seiende, das nicht das durch sich selbst Seiende ist, ist nur eine Analogie. Der Selbstbezug des Seins ist begrifflich. Alles Seiende hat damit a priori seine Bestimmung als jeweiliges Sein. Sonst könnte es gar nicht sein.
So sah dich meine Seele aber nur bis zu einer gewissen Grenze, aber nicht dich, wie du bist. Sie sieht nicht weiter, nicht wegen deiner Finsternis, sondern wegen ihrer eigenen. Sie wird zusammen-gezogen in ihre Enge, überwältigt durch deine Weite. (Proslogion).
Die Bestimmung hat ihre Grenze nicht in Gott, sondern in mir selbst. Ich kann darüber hinausgreifen und dies wiederum als ein Allgemeines Erkennen. Dies ist das unum argumentum, das später durch Immanuel Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis Berühmtheit erlangte. Da ich nichts Größeres denken kann, als eben diese letzte Ursache durch sich selbst, gelange ich nur durch das Gebet zu Gott.
Daher bist du etwas Größeres als gedacht werden kann. Denn selbst ein solches kann gedacht werden, wenn etwas gedacht wird, als das nichts größeres gedacht werden kann.(Proslogion).
Zugegeben, für solche Sätze muss man Anselm einfach lieben. Ich kann denken, dass ich nichts Größeres denken kann. Da ich also in meinem beschränkten Denken an eine Grenze stoße und davon ausgehen kann, dass es da jenseits meiner Beschränkung noch Land geben kann, allein dass ich so ein Land annehmen kann (das wäre eben der Geist, der das kann), stelle ich diesen Selbstbezug her.
Diese letzte Grundlosigkeit des per se ipsum ist nicht mehr
hintergehbar. Daher ist es. Und dies hat natürlich auch ethische Konsequenzen.
So ist auch der Wille, der um seiner selbst willen will, ein anderer als derjenige, der um einer anderen Sache willen will.
(de Libertate alibrii).
Credo ut intelligam, ich glaube, damit ich erkennen kann. Die Selbstzerstörung des Intellekts ist der Übergang zum Glauben. Durch den Intellekt kommen wir zum Glauben, eben weil der Intellekt das Größere denken kann. Und so führt sich der Intellekt selbst ad absurdum. Die Wahrheit muss sich daher immer selbst begründen. Der Wille muss sich selbst wollen.
Dies ist absolute Freiheit. Später hat das auch Schelling aufgenommen und auch Hegel gründete sich darauf.
Wer sündigt, gibt daher nicht seine Freiheit auf. Aber es ist auch nicht die eigentliche Freiheit, die sündigt. (de libertate alibrii).
Das ist eben die Gnade, dass wir die Freiheit haben zu sündigen. Sünde ist damit nicht – wie bei Augustinus noch – die Abwesenheit des Guten, sondern selbst auch Freiheit. Ein Rechtsbegriff von ganz anderer Natur.
Dass der Wille sich selbst wollen kann, ist die Gnade. Sie begleitet auch den sündigen Willen. Freiheit und Gnade harmonieren immer, um den Menschen zu retten. (De Concordia).
Das Universale ist nach Anselm logisch vor etwas.
Anders wird nämlich etwas gedacht, wenn nur der es bezeichnende Laut gedacht wird, anders, wenn das begriffen wird, was etwas ist. (Proslogion).
Nach Anselm ist der Intellekt schon etwas Vorausgesetztes, dass etwas überhaupt thematisiert werden kann. Die Begriffe des Erkennens sind die Voraussetzung des Seienden und nicht nur irgendwelche Nachbildungen des Seienden durch den Intellekt.
Es gibt aber Dialektiker, die die allgemeine Seiendheit (substantia universalia), für einen bloßen Hauch der Stimme halten. In diesen Häretikern ist die Vernunft so verdeckt von materiellen Vorstellungen, dass sie sich selbst gar nicht von diesen Vorstellungen unterscheiden kann.(de incarnatione Verbi).
Dies ist der Angriff auf die Nominalisten, die Begriffe für flatus vocis halten. Etwas zu begreifen ist also nicht nur ein Benennen von etwas, sondern ein Verstehen von Etwas, das sich als Seiendes voraussetzt, da ja von nichts, nichts kommen kann. Wie soll denn etwas einen Namen, einen Begriff bekommen, wenn es nicht selbst etwas sei und sich eo ipso schon damit auf sich selbst bezieht? Das macht einfach keinen Sinn. Und trotzdem haben sich bis heute die Nominalisten durchgesetzt und vergeben die Zeichen, als wäre damit die Sache selbst nicht schon gemeint. Bis heute ist dieses Dilemma der Sprachphilosophie nicht wirklich letztgültig gelöst. Diese verrückte Differenz von Ausdruck und Sache! Ich erinnere hier auch an Walter Benjamin: Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen.(Über die Sprache überhaupt).
Ohne Sprache können wir uns gar nicht verständigen. Damit ist Sprache bereits vorausgesetzt. Walter Benjamin ist damit ein Begriffsrealist und ganz bei Anselm. Nun, dass wir im Geiste alle beschränkt sind, das hat Anselm ja in seinem so genannten Gottesbeweis bereits deutlich gemacht.
ENDE
Der 16. Beitrag 2023
Wissenswertes
20 wissenswerte Fakten aus dem Raum
1*
Es geht – klar – ums Paradies. Um eine alte Utopie, die aus der altiranischen Sprache kommt: paira daeza. Und das übersetzt sich als
eingezäunte Fläche. Das ist schon ein starkes Stück. Die neolithische Revolution war der Ursprung unseres Utopie Begriffs. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau hat
das schlicht umgedreht und dargelegt, dass das unsere erste Ursünde war. Aber auch Rousseau irrt. Denn es war ein Wunschtraum, Projektion, Ideal. Nie mehr hungern, nie mehr frieren, nie mehr
leiden. Die ganze menschliche Grundidee basiert auf einem Wunschtraum. Aus diesem Grund ist das reine Land, das Elysium, das Paradies ein Urgrund.
2*
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges behandelt in der Sphäre Pascals die höchst problematische, aber auch faszinierende,
entsetzende aber auch zum Frohlocken anregende Metapher, dass Gott eine intelligible Sphäre ist, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo ist. Die stetig wachsende Kugel des
Universums legt nahe, dass es weder ein Wann gibt noch ein Wo. Denn in einer solch unendlich wachsenden Kugel sind alle Punkte immer gleich weit entfernt und damit gibt es nie einen bestimmten
Tag oder einen bestimmten Ort. Der Mittelpunkt ist überall, also dort, wo ich bin ist ebenso der Mittelpunkt. Dort wo der andere, du oder sie oder er ist, ebenso Mittelpunkt. Wir haben das
Paradies nie verlassen.
3*
Im ersten Canto des Paradiso heißt es, dass es wahr sei, dass sich die Form nicht der Absicht der Kunst fügt,
da die Materie ihr widerstrebt. Und in ähnlicher Weise entferne sich die Kreatur von ihrem vorgeschriebenen Lauf, da sie die Macht besitzt, sich trotz ihrer Bestimmung in eine andere Richtung zu
bewegen.
4*
Der Nicht-Ort ist ein schwer fassbarer Angriff auf den Ort selbst.
5*
Dem Delinquenten wird mit Nadeln automatisch das Urteil in den Leib geschrieben. Eine Prozedur von 12 Stunden. Ab der sechsten Stunde wendet
sich das Blatt, da tritt Erkenntnis beim Delinquenten ein. Dieses Epiphanie Erleben des Schuldigen wird ihn nicht retten. Der alte Kommandant, der diese Maschine entwickelte, war ein
Alleinherrscher. Das Urteil war immer zweifellos. Der Offizier, der sich am Ende an die Stelle des Verurteilten auf das Wattebett der Maschine legt, wollte sich „sei gerecht!“ auf den Leib
schreiben lassen. Doch die Maschine löst sich dabei auf. Damit wird auch klar, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Das unbezweifelbare Urteil ist nicht gerecht. Damit ist natürlich der Tod gemeint.
Das Leben ist grundsätzlich ein Urteil, das sich in den Körper einschreibt. Aber es ist mit der selbstständig arbeitenden Maschine ein weiterer Faktor dazu gekommen. Das Urteil wird nicht mehr
von Menschen vollstreckt. Folter und Hinrichtung sind eine Einheit geworden und die Maschine ist hochfunktional.
6*
Für all die sinnlichen Qualitäten, Düfte, Geschmack, Farben, Töne, fehlt nach wie vor die wissenschaftlich
abschließende Erklärung. Während der gesamte materielle Raum ausgekundschaftet wurde bis hin zu fernsten Sternenkonstellationen, ist der seelischen Binnenraum, den wir heute Bewusstsein nennen,
eine Terra incognita.
7*
In dem berühmten Fresko Disputa del Sacramento von Raffael werden Himmel und Erde im euklidischen Raum angesiedelt. Aber Gott im Empyreum ist
enthoben und spirituell schwebend. Es ist ein anderer Ort, ein Nicht-Ort, in dem die Perspektive aufgegeben wird. Düfte, Farben, Geschmack, Töne sind daher im nicht-euklidischen Raum
angesiedelt.
8*
Vielleicht war Einstein der letzte namhafte Wissenschaftler. Die Massengesellschaft wurde auf den Durchschnittsmenschen geeicht. Heute funktioniert Wissenschaft nur noch als Komposita mehrerer
Forscher.
9*
Kaum jemand kennt noch einen gewissen Vesto Slipher. Gut, vielleicht kennen ihn die spezialisierten
Astronomen und der eine oder andere Wissenschaftsjournalist. Edwin Hubble dagegen ist der breiten Masse bekannt. Denn er gilt als Entdecker der Ausbreitung des Universums. Möglich aber machte
diese Entdeckung eben Vesto Slipher. Denn dieser Astronom aus Indiana entdeckte vor 100 Jahren eine Lichtveränderung in den Spiralnebeln. Das hielt man lediglich für eine Kuriosität innerhalb von
Gaswolken. Edwin Hubble hatte relativ zeitgleich vermutet, dass die Spiralnebel Sterne – Cephaiden - enthielten und so kam es, dass diese Lichtveränderung, die Slipher entdeckt hatte, zu Hubbles
Erkenntnis beitrug, dass sich das Universum ausdehnt. Wissenschaft ist ein Kompositum. Das erfordert aber Leute, die komponieren können. Also auch kombinieren. Diese Fähigkeit wird weitestgehend
unterschätzt. Denn die Spezialisierung der Wissenschaft entfernt den einzelnen Forscher vom Gesamtgebiet.
10*
Edwin Hubble hatte einen Riecher, ein Gespür dafür, die Lichtveränderungen in den Spiralnebeln mit Sternen
zusammen zu bringen. Da war mehr als nur Logik im Spiel. Denn er hatte einen Helfer, der mit 14 Jahren die Schule verlassen hatte, sich in die Berge verpisste und dort als Maultiertreiber lebte.
Mit 20 Jahren lernte dieser Junge, Milton Humason, eine Frau kennen. Er heiratete sie. Sie war die Tochter eines Ingenieurs am Mount Wilson, dem Observatorium an dem später auch Hubble arbeitete.
Milton bekam einen Job als Pförtner am Observatorium, lernte Teleskope zu reparieren. Eines Tages wurde der Nachtassistent krank und Milton sprang ein. Damit beginnt die Karriere eines
bemerkenswerten Jungen, der die Cephaiden in den Spiralnebeln schon vier Jahre vor Hubble entdeckt hatte, aber von seinem Chef nicht ernst genommen wurde. In der Zusammenarbeit mit Hubble wurde
dieses Gespann zum Erneuerer unseres kosmischen Weltbildes.
11*
Vier Jahre vor Hubbles Entdeckungen berechnete ein junger in Berlin am Max-Planck-Institut angestellter
Deutscher allgemeine Fragen zur Physik. Irgendetwas mit Newtons Raum war nicht ganz in Ordnung und deckte sich nicht mit der Art und Weise, wie sich kleinste Teilchen verhalten. Mit dem Kosmos,
den Sternen und all dem hatte der junge Deutsche gar nichts am Hut. Doch die allgemeine Relativitätstheorie bewies Hubbles Entdeckungen von der Expansion und damit auch die Tatsache, dass ein
sich ausdehnendes Universum irgendwann mal mit dem Ausdehnen angefangen hatte. Fred Hoyle hatte das Ganze noch 1949 in einer BBC-Radiosendung spöttisch Big Bang genannt. Das Universum galt immer
noch als statisch.
12*
Ein gut aussehender, Pfeife rauchender und von sich selbst sehr überzeugter Amerikaner aus dem mittleren Westen, ein jugendlicher Herumtreiber
aus Minnesota an der kanadischen Grenze, ein Astronom aus dem Osten der USA und ein Mathematiker aus Ulm krempelten unsere gesamte Vorstellung vom Universum um. Heute zweifelt niemand mehr daran.
Und die Vorstellungen eines Giordano Bruno – der für seine Vorstellungen eines unendlichen Universums noch verbrannt wurde – sind Allgemeingut geworden.
13*
Dantes Satan verharrt in einer Pose des Grauens, eingefroren wie eine tief erschütterte Seele.
14*
Der gotische Himmel war noch ganz ohne räumliche Konstruktion. Die Figuren schwebten ohne die geringste
Beziehung zum Raum. Doch dann kam die Linearperspektive, der Augpunkt Raffaels, und der Himmel wurde greifbarer, standfester. Johannes Kepler spazierte schon auf dem Mond herum, der bei Dante
noch ein Symbol der von Unbeständigkeit befleckten Treue war. Kepler träumte zwar nur seine Mondfahrt und sah dort Pflanzen, Schlangen und Schiffe bauende Reptilien. Neil Armstrong sah bei
seinem – little Step of men – nur noch Staub und Materie.
15*
Bei Dante war der Himmel pures Licht ohne Raum und Zeit. Heute ist der Himmel Dunkelheit aus Raum und Zeit. Und es wird von Jahr zu Jahr dunkler.
16*
Aus dem Seelenraum Dantes wurden Sternenhaufen aus Materie und dunkler Materie und Planeten verschluckende schwarze Löcher. Aus Dantes Heiligen und Engeln wurden Aliens mit magischer
Technologie.
17*
Der Mathematiker und Nichtschwimmer Theodor Kaluza berechnete eine fünfte Dimension, die so klein war, dass
man sie nie wird praktisch nachweisen können. Seine Berechnungen stimmten. Aber die Theorie würde man wohl nie mittels Experiment beweisen können. Da nahm der Mathematiker das selbst in die Hand.
Da er nie schwimmen gelernt hatte, las er alles über das Schwimmen, eignete sich das theoretische Wissen über das Schwimmen an. Dann schnappte er sich eine Badehose und fuhr mit seiner ganzen
Familie zum Strand. Schätze, die Familie von Theodor hatte gemischte Gefühle dabei. Ein kleiner Fehler und Theodor bricht in Panik aus und ertrinkt. Aber! Er konnte schwimmen. Ohne die geringste
praktische Übung lernte Theodor Kaluza auf rein theoretischer Basis schwimmen. Die Schönheit seiner Gleichungen bewies er in einer Badehose im offenen Meer.
18*
Zeit ist nur ein Ergebnis des sich faltenden Raumes. Kein geringerer als Albert Einstein lieferte uns zu dieser Einsicht die Mathematik. Wenn man Einstein ernst nimmt, dann ist Zeit pure
Geometrie. Nach der Karuza-Klein-Theorie ist Materie überhaupt, das Buch in meiner Hand, meine Hand selbst, die Zigarette, die Kaffeetasse, nicht im Raum, sondern selbst Raum. Ich selbst bin nur
ein geometrischer Fakt der Raumfalten. Eine Art strukturiertes Nichts.
19*
Bei Aristoteles gab es das Horror Vacui, die Scheu der Natur vor der Leere. Daher hatte Aristoteles keine
Theorie des Raumes. Dinge grenzen an andere Dinge. Der Fisch lebt im Wasser und der Mensch lebt in der Luft. Die Welt war bei Aristoteles voll. All das hat sich der Raum zurückgeholt. Heute ist
von diesen Dingen nichts mehr übrig, sie sind alle in den Knicken, Falten und Spalten des Raums verschwunden.
20*
Auch die Zeit verschwand in den Falten und Ecken des Raums. Heute erreicht uns eine Kondolenzkarte aus einer weit entfernten Galaxie.
Für den Absender dieser Kondolenzkarte kam das Licht unserer Sonne so spät bei ihm an, dass er beim Messen der Entfernung des Lichtpulses feststellte: Es war einmal. Relativ zum Beobachter kommt
aber für uns die Kondolenzkarte zu früh. Wir haben es noch gar nicht mitbekommen, dass wir schon tot sind. Der weit entfernte Beobachter jenseits des Zeitpunktes P (Untergang der Sonne) schickte
seine Nachricht in die Vergangenheit vor dem Zeitpunkt P. Für uns aber ist das eine Nachricht aus der Zukunft. All das, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur
Raumverzerrungen.
ENDE
Der 17. Beitrag 2023
Vom Begriff Gottes
Zu Beginn, die Anekdote
Als ich etwa 15, 16 Jahre alt war, habe ich mir manchmal vorgestellt, ich würde vor Publikum sprechen. Große Worte, kluge Worte. Nie war die Vorstellung ganz frei von Rebellion. In meinem jugendlichen Größenwahn weitete sich diese Phantasie immer neu und spielerisch in Posen. Ich! Das war die Botschaft. Inhalte hatte ich damals wenige. Nur dunkel wütete in mir ein Befreiungslied, melancholisch, düster, traurig und zugleich leuchtend, kraftvoll und wütend. Was ist davon geblieben, heute, wo ich vor Publikum spreche? Ich? Inzwischen hat sich die Pose mit Inhalt aufgefüllt und ich weiß, wovon ich spreche. Doch ich wurde stiller dabei. „In der Jugend lernt man das Reden, im Alter – das Schweigen. Darin liegt der große Fehler des Menschen: Er lernt das Reden, bevor er schweigen lernt.“ So äußerte sich einst Rabbi Nachman im 18. Jahrhundert. Nun. Heute stelle ich mir manchmal vor wie andere von mir reden. Sie hätten nichts zu reden, hätte ich nicht geredet. Würden sie über mich reden, ohne dass ich je geredet hätte, würden sie in ihrem Reden Vermutungen anstellen, was ich wohl zu sagen hätte, aber verschweige. Das wäre mir manchmal lieber. Von den wahren Dingen in mir schweige ich öffentlich. Was ich zu sagen habe ist nur das, was zu sagen ist. Was man allerdings nicht sagen kann, das gilt es doch eigentlich in Worte zu fassen. Sonst wären wir nur Kühe, die wiederkäuen was schon immer gesagt wurde. Für mich ist die Literatur die Folie des Unsagbaren. Daher bin ich sehr enttäuscht von den Schriftstellern, die heute etwas sagen. Sie sind Kühe. Sie weiden auf einer grünen Wiese und wissen nicht, dass sie bald geschlachtet werden. Doch wirklich etwas zu sagen, das bedeutet Unsagbares. Tja. Das ist die Crux. Alles, alles, was ich je versuchte zu sagen war, Unsagbares zu sagen.
Vom Begriff Gottes (Spielereien)
Die Tora ist der erste Teil des Tanach, der 24 Bücher fassenden hebräischen Bibel und umfasst die fünf Bücher Mose, das wir als Pentateuch kennen. Allgemein begreift man die Tora in der jüdischen Mystik in drei Formen. Einmal sind die fünf Bücher Mose das Wort Gottes. Jeder Buchstabe in der Tora zusammen sind das Wort Gottes. Dann ist die Tora ein lebendiges Wesen, ein Organismus, der sich darin ausdrückt, dass die Tora einen Körper hat und eine Seele. Darin drückt sich schon der mehrfache Schriftsinn der Tora aus. Da die fünf Bücher Mose sowohl in ihrer äußeren Physiognomie erkennbar sind, als auch in ihrer emotionalen Tiefe. Die Tora weist drittens eine unendliche Bedeutung und Sinnfülle auf. Hier entwickelte sich zeitgleich mit der christlichen Scholastik im Mittelalter der vierfache Schriftsinn der Tora. Im Rahmen einer kosmischen Zyklenlehre (Schemitoth) drückte sich die Tora in jedem Zeitalter besonders aus. Das bedeutet nicht, dass sich der Text immer wieder verändert. Die Buchstaben, aus denen die Tora zusammen gesetzt wurde, sind immerzu in allen Weltzeitaltern die gleichen. Doch offenbaren sie sich jeweils neu. Und so gab es vor der Zeit der Sünde eine Lesart der Tora, die ohne Gesetze (Halacha) auskam. Und es wird eine Weltzeit geben, in der die Tora ihren harten Körper ablegen kann und als spirituelle Sphäre erscheint. Ein Gedanke, der auch bei Joachim von Fiore aufkam und in seinem 1000jährigen Reich des Geistes dargelegt wurde. Diese Schemitta (Weltzeitalter) haben ihr Überbleibsel im Schabbat. Und im Sabatical, das wir gerne mal nutzen, um uns neu zu orientieren.
In der Mizwa (der Halacha des Talmud) gibt es dieses Sabbatjahr zum Gebot. In diesem Jahr darf weder geerntet noch gesät werden, alle Zäune werden niedergerissen und jeder, ob arm oder reich, darf sich am Feld bedienen. Hinzu kommt die Regel, dass in diesem Sabbatjahr (alle sieben Jahre) alle Juden gehen im Sabbatjahr zueinander bankrott. So steht es im 5. Buch Mose, 15. Dort heißt es: In jedem Jahr sollst du die Ackerbrache einhalten. Und so lautet eine Bestimmung für die Brache: Jeder Gläubiger soll den Teil seines Vermögens, den er einem andern unter Personalhaftung als Darlehen gegeben hat, brachliegen lassen. Damit konnte jeder, der während der sechs Arbeitsjahre des Schemitta-Zyklus seine Schulden nicht begleichen konnte, während des Schemitta-Jahres nach Belieben von den Früchten der besten Bäume essen und sich erholen, um anschließend einen Neuanfang zu wagen. Die Aufhebung der Schulden heißt Schemittat Kessafim.
Diese normative Regelung in der Tora unserer Schemitta wird in der geistigen Schemitta nicht mehr nötig sein, was im Grunde bedeutet, dass so etwas wie Schuld oder Schulden gar nicht mehr existieren werden. So wie es vor dem Sündenfall nie eine Schuld gab. Da die Tora ein lebendiger Organismus ist, wird sie auch als der Baum des Lebens betrachtet. Sie ist das Wort Gottes, der Baum des Lebens und unendlich. Interessant an der jüdischen Mystik ist, dass sie lange, sehr lange vor den klassischen Utopien eine höchst provokante antinomistische Utopie aufstellte, die zugleich keinen festen Ort und auch keine feste Zeit mehr aufwies, also außerhalb jeder örtlichen, wie zeitlichen Fixierung in reinster Lichtsphäre existiert. Diese abstrakte Aufhebung jeder mythologischen Erzählung, diese Liquidation des Mythos geht auf in einer absoluten Reinheit und damit einer absoluten Leere. Der darin anklingende Nihilismus ist ein Paradoxon, eine Art tragischer Dramaturgie dieser Eschatologie. Die Aufhebung aller Gesetze ist nur dann möglich, wenn die Materie nicht mehr nötig ist, wenn der Körper sich in Seligkeit transformiert. In der Mizwa klingen die normativen Beschränkungen utopisch durch. Man könnte weiter sagen, dass jedes Gesetz seine eigene Aufhebung in sich birgt. Die Schechina ist die Einwohnung Gottes im Hause Israel. Doch Israel steht für das Haus Gottes und dieses für das All und dieses für den Baum des Lebens. Womit Gott in sich selbst wohnt. Das irdische Haus unserer Schemitta, unseres Weltzeitalters ist ein Haus aus Gesetzen, seien es Naturgesetze, seien es legalistische Entwürfe die ein Miteinander der Menschen möglich machen. In ihnen, den Naturgesetzen und den legalistischen Entwürfen wohnt Gott inne und entfaltet sich durch Aufhebung des Äußeren. Fällt ein Gesetz, entfaltet sich Gott. „Die Schwester Lothans war Timna“, heißt es in Genesis 36:22. Rabbi Chaim Asulai (1724-1806) meinte dazu, dass man diesen belanglos erscheinenden Satz nur einen Tag lang lesen müsse, um ewige Seligkeit erreichen könne.
Doch wenn die Tora in einem anderen Weltzeitalter ein anderes Gesicht zeigt, eines, das ihr schon jetzt inhärent ist, wieso zeigt sie es nicht gleich und sofort? Im Buch Sohar von Moses Leon (1305 verfasstes Hauptwerk der Kabbala) wird erwähnt, dass womöglich ein Buchstabe fehle in der Tora. Das läge daran, dass Moses die Gesetzestafeln zerbrochen habe. Andere meinen, es sei nur ein Buchstabe verzerrt, der Buchstabe ש, hätte ursprünglich vier Arme gehabt. Daher gab es einst nicht fünf, sondern sieben Bücher Mose, das Heptateuch, das man in dem Ausspruch von Jesaja 41:4 lesen könne: Eine neue Tora wird von mir ausgehen. Doch ist er immer derselbe Gott, dieselbe Tora. Dieses weitere Paradoxon erklärt sich in der Inwendigkeit Gottes, eine geometrische Raffinesse. So ist das Haus innen größer, durch perspektivische Bedeutung. Für uns sollte das kaum ein Wunder sein, können wir doch auf einem kleinen handelsüblichen USB-Stick die Enzyklopädia Brittanica speichern und in die Hosentasche stecken. In jeder Ziffer birgt sich die Unendlichkeit Gottes genauso wie in jedem Buchstaben sich der unendliche Sinn Gottes verbirgt. In jedem komplexen Zeichensystem haben wir diese Unendlichkeit vorliegen.
Schelling als Kabbalist
Und so ist in uns selbst eine weit größere Welt, als die Äußere uns scheinen mag, eingeschrieben. So könnte man auch die Gedanken des großen deutschen Idealisten Schelling verstehen, der das Angeschaute und das Anschauende als identisch begriff. Friedrich, Wilhelm, Joseph Schelling kam 1775 zur Welt und starb 1854. Sein oft als fragmentarisch bezeichnetes Werk beschäftigte sich im Kern mit der Ausdeutung dessen, was Gott sei, inwendig sei, als Freiheit gedacht. Schellings Freiheitsbegriff ist vom Ursprung her gedacht als spinozistische Setzung eines Sein-Wollens, das sich entfaltet. Als Schelling starb, war der Neffe von Clemens Brentano, Franz Brentano, grade 16 Jahre alt und noch Gymnasiast in Aschaffenburg. Dennoch gibt es einen geistigen Zusammenhang zwischen dem Urgestein der Phänomenologie Franz Brentano, seiner Aktpsychologie und der Intentionalität von Bewusstseinsinhalten mit Schellings Gottesvorstellungen. Schellings Vorstellung einer intellektuellen Anschauung war es, dass Anschauender und Angeschautes eine Identität aufweisen. Das lässt sich leichter verstehen, wenn man den lateinischen Ursprung von Intellekt betrachtet: intellegare. Das bedeutet auch inne werden. Die innere Abbildhaftigkeit dessen, was das Objekt in meinem Geiste erzeugt, intendiert das Designat meiner Anschauung. Schon bei George Berkeley war das Angeschaute nicht trennbar vom Anschauenden. Ein unabhängiges Objekt existiert nicht, ohne ein das vorgestellte Objekt intendierendes Subjekt. Man kann das behaupten, aber nie beweisen. Denn um ein von der Anschauung unabhängiges Objekt beweisen zu wollen, muss man es sich schlicht vorstellen und damit gerät man in einen sofortigen Widerspruch. Schelling ist nun der Ansicht, dass man, um zur absoluten intellektualen Anschauung zu kommen – zum absoluten Inne-Werden des Objekts (A. d. A.) – uns in uns selbst zurückziehen müssen, um uns auf diese Weise selbst gegenwärtig zu sein. In uns selbst finden wir dann das, was ohne äußere Gesetze auskommt.
Bringen wir also die jüdische Mystik der Schechina, der Inwendigkeit Gottes zusammen, dann haben wir in der äußeren Welt der Gesetze und Gesetzmäßigkeiten nichts als einen Spiegel unserer inwendigen Freiheit vorliegen.
Ein Spiel aus קǩל
Das Empfangen der Tora am Berg Sinai, das ist der Wortsinn qbl, Kabbala. In der Summe das ו, das wir im griechischen Digamma finden und für Wissen stehen. Waw und Digamma, gegabelter Haken ist das Wissen.
Nun! Vielleicht ist der Mystiker nur ein Prophet, der nicht versteht, oder der Prophet ein Mystiker, der zu verstehen glaubt. Wir wissen es letztlich nicht und haben es doch vor uns liegen!
Als Origines vor 1800 Jahren in Tyros, am Libanon, mit einem Rabbiner sprach, hat er nicht mit
einem lebenden Rabbiner gesprochen. Es war Rabbi Akiba (der 200 Jahre vor Origines lebte), der ihm in einer Art Halbschlaf erschien und erklärte, dass die Schrift einem großen Haus mit vielen,
vielen Gemächern gleiche und vor jedem Gemach liegt ein Schlüssel, aber es ist nicht der Richtige.
Alle Schlüssel wurden vertauscht und die Suche nach den richtigen Schlüsseln für jedes Zimmer im großen Haus hält den Weltprozess aufrecht. So hat auch jedes Wort der Tora sechshunderttausend
Eingänge, wie die Kinder Israels am Berge Sinai. Doch suchen wir das passende Gesicht zum Eingang. Dies hält den Weltprozess aufrecht.
Oder wie es der chassidische Rabbi Mendel von Rimanov betonte, hörten die sechshunderttausend Kinder Israels am Berg Sinai lediglich das Aleph, א, das nichts als ein Anklingen der Stimme Gottes war. Mehr ertrugen sie nicht. Schon das Knacken von Gottes Stimme, sein spiritus lenis, war ihnen zu viel. Wa-jered und wa-jeddabar (er stieg herab, er redete, heißt es im Buch Exodus) hat nur sich selbst zum Inhalt. Alles Weitere war die Auslegung von Moses, dem Einzigen, der die Stimme Gottes ertragen konnte.
וירד, er stieg herab. Wow, Jod, Resch und Dalet. 6, 10, 200 und 4, ergeben 220. Daleth, die geöffnete Zelttür die sich im Tetragramm
offenbart.
וידדר, er redete setzt sich aus 6,10,4,4,2,200 zusammen, das ergibt 226, die 10 und damit die 1 und das wiederum ist die Stimme Gottes א, das Aleph.
So stieg ER herab und redete, doch die Offenbarung ist das was niemand hören konnte.
Was heute blieb
Der Rabbi Moses Cordovero, Nachfahre sephardischer Juden, die 1492 von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden, lehrte in Zefat (Galiläa). Er beschäftigte sich mit der Frage, wie die Tora ausgesehen hatte vor dem Sündenfall. Du sollst kein Schat’nes anziehen, heißt es im Deuteronomium. Genauer; scha’atnes zemer u-fischtim (Scha’atnes aus Wolle und Leinen). Diese gemischte Kleidung galt als Schlangenhaut und war unrein. Doch vor dem Sündenfall war Adam ja nackt und diese Regel machte gar keinen Sinn. Ursprünglich hieß es in der Tora vor dem Sündenfall: satan’as mezar u-tofsim. Adam solle sein Lichtgewand nicht gegen ein Gewand aus Schlangenhaut eintauschen. Mit der Schlangenhaut wurde Adams Natur materialisiert. Der spannende Gedanke einer vorkörperlichen Existenz wurde auch von Isaak Luria aufgenommen, einem der größten Kabbalisten eine Generation nach Cordovero in Zefat. Reines, weißes Licht das sich nicht an Gegenständen bricht. In einer nicht materiellen Welt muss sich auch Licht völlig anders verhalten und ist doch immer noch Licht wie heute.
ENDE
inte
Der 18. Beitrag 2023
Der letzte Versuch des Impressionismus
Ich wollte die Natur kopieren, aber ich konnte es nicht (Claude Monet)
Die Wiener Moderne war geprägt vom Impressionismus, also von stimmungsvoller Darstellung flüchtiger Momente. Diese kurze Epoche lässt sich um die Zeit 1890 bis 1910 ansiedeln und war mehr von der Kunst (Klimt), der Musik (Schönberg) und dem Drama (Burgtheater) bestimmt, als von der Literatur. Wiener Autoren hatten kaum Veröffentlichungsmöglichkeiten in Wien. Die meisten schrieben ihre Texte daher für Berliner Verlage. Von den rund 52 Millionen Einwohnern der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie lebten gerade einmal 11 Millionen Menschen in industrialisierten Gebieten (hauptsächlich in Wien und in Prag), der Rest der Monarchie war Agrarland. Wien war daher zentralistisch und aristokratisch geprägt, eine Art orientalisches Paris.
Verfeinerte Sensibilität, gesteigerte Wahrnehmungs- und Reizempfindlichkeit, als Resultat einer gewissen Sorglosigkeit und Unbefangenheit. So konnten ästhetische Reize als von der unmittelbaren Lebenspraxis losgelöste Werte erlebt werden, als intime Stimmungswerte. Ausgedehnte literarische Lektüre, Noblesse, Geschmack, Nervosität.
Größter Wortführer des Impressionismus war Hermann Bahr. Er kam 1863 als Sohn des Rechtsanwaltes und liberalen Landtagsabgeordneten Alois Bahr in Linz zur Welt. Er wurde zum Propheten der Moderne in Jung-Wien und propagierte den Impressionismus als Überwindung des Naturalismus. 1922 übersiedelte er nach München, wurde in die Sektion Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste berufen und starb 1934 an einer fortschreitenden Demenz.
Hermann Bahr schrieb in einem Glückwunsch an Arthur Schnitzler: Durch unsere Geburt gehören wir ihr an (der ökonomischen Klasse), deshalb wird sie aus unserer Empfindung niemals auszutilgen sein. Die bürgerliche Klasse wird als „sinkende Klasse“ (Bahr) empfunden – das Dekadenz-Gefühl, Sinnlichkeitsluxus, Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen. Die österreichische Moderne hat dem Naturalismus (vor allem geprägt durch die französische Literatur von Emilie Zola, oder auch Balzac) kein tieferes Interesse entgegengebracht. Der Naturalismus (exakte Wissenschaften, Schnörkellosigkeit, exakte Beobachtung, umfassende Darstellung) war ein aus der Aufklärung gewachsenes Interesse, das dem noch aristokratisch gesinnten Wiener suspekt war. Ein schönes und ironisches Beispiel für diese Diskrepanz liefert der erste Satz in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften.
Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht.
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
So löst auch der Szientismus unser natürliches Empfinden in sperrige, abstrakte Daten auf. Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“ dokumentiert vor allem diesen Widerspruch zwischen Szientismus und Romantik, wobei sich Musil über Beides lustig macht und sich die Frage stellt, wie in dieser fortgeschrittenen Industrie noch ein mystisches Erleben möglich sein könnte. Er sprach dabei von dem Entwurf einer „taghellen Mystik“.
Die Eindruckskunst hatte es im Wien um die Jahrhundertwende leichter als im bürgerlichen Berlin. Den Anstoß dazu gab ein erst in Prag und dann in Wien lehrender Physiker: Ernst Mach. Seine
„Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“ von 1885 hatte ab der zweiten Auflage von 1900 eine große Breitenwirkung. Auch Robert Musil promovierte über Ernst Mach. Hermann Bahr berichtet in seinem Essay „Das unrettbare Ich (Dialog vom Tragischen)“ von 1904 über seine Reaktion auf Ernst Mach, es handele sich um die „Philosophie des Impressionismus“.
Erklärend: Mach definiert Körper (Gegenstände) als relativ beständige Komplexe von Farben, Tönen, Drücken usw., wobei dem Wort „relativ“ entscheidende Bedeutung beizumessen ist.
„Mein Tisch ist bald heller, bald dunkler beleuchtet, kann wärmer und kälter sein… Mein Freund kann einen anderen Rock anziehen. Sei Gesicht kann ernst und heiter werden. Seine Gesichtsfarbe kann durch Beleuchtung oder Affecte sich ändern.“ (Ernst Mach).
So ist auch das menschliche Ich ein Komplex, dem nur relative Beständigkeit zukommt, ein Komplex aus Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen. Was man als Einheit der Persönlichkeit empfindet, ist nur eine scheinbare Einheit eine durch Kontinuität der langsamen Änderung hervorgerufene Täuschung. So kann das Ich auch, das Individuum ein Teil vieler (auch fremder) Bewusstseinsinhalte sein, es sind Spiegelungen dessen, was den Menschen umgibt, ihn füttert.
Warenhaftigkeit und der Eindruck der Industrialisierung, die Elektrifizierung der Stadt führten dann etwas später zu dem beeindruckenden Essay „Die Kunst im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von Walter Benjamin (in den 1930ern verfasst). Darin wird unser ganzer Wahrnehmungsapparat historisch. Wir empfinden immer auch innerhalb unserer Zeit. Oder wie es Goethe in seinem Faust formulierte:
„Was ihr den Geist der Zeiten nennt, ist der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“. Durch die Möglichkeit der Reproduktion (vor allem durch den Film) verlor das Kunstwerk seine Aura, ihre Einmaligkeit und Besonderheit.
In den 1960er Jahren (1962) erschien dann das epochale und visionäre Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ von Marshall Mac Luhan, in der die Kernthese lautet: Das Medium ist die Botschaft. Die Brille, durch die wir blicken, a mist before our Eyes, nannte es einst John Locke (1632-1704), ist der Maßstab für alle Veränderung, das Tempo für den Menschen. Heute diskutieren wir intensiv über die neue Technik der KI und was diese mit uns machen wird.
Bei der ersten Filmaufführung der Brüder Lumiere am 28. Dezember 1895 im Grand Café in Paris kam es zu einer Panik. Die Lumières hatten Eintritt verlangt, ein paar Dutzend Besucher zahlten – und sahen zehn kurze Filme, die Angestellte der Lumière-Betriebe mit einem Kinematographen vorführten: offiziell die erste Kinovorführung. Den Apparat, Kamera und Projektor zugleich, hatten die Franzosen ein paar Monate zuvor patentieren lassen, am 13. Februar 1895. Nun staunten die Besucher der Vorstellung und starrten auf die bewegten Bilder vor sich. So etwas hatten sie noch nie gesehen.
Heute ist nicht mehr genau zu klären, ob sich die später vielfach kolportierte Geschichte einer Panik angesichts des Films „Die Ankunft des Zuges auf dem Bahnhof La Ciotat" tatsächlich so abgespielt hat. Der kurze Streifen zeigt einen Zug, der in den Bahnhof des Städtchens La Ciotat einfährt, aus Zuschauerperspektive immer größer wird, die Besucher zu überrollen scheint. Die sollen damals aufgeregt und voller Schrecken von ihren Sitzen aufgesprungen sein und das Café fluchtartig verlassen haben, hieß es später. Sie dachten, der Zug fährt tatsächlich ins Café ein. Die Kameraperspektive hatte das suggeriert.
War der Naturalismus noch mit dem Anspruch aufgetreten, die ursächlichen Zusammenhänge in Natur
und Gesellschaft in den Griff zu bekommen, verzichtete die sich vom naturalistischen Programm distanzierende Moderne auf einen solchen Anspruch.
Mimesis ohne Kausalität. Das beobachtende, empfindende, auf Reize reagierende Ich wurde zur Wahrnehmungsinstanz. Beim Impressionismus ist die Reizabhängigkeit und Unfertigkeit des Subjekts
potenziell eine Tugend. Die Fähigkeit, sich selbst unaufhörlich zu erneuern, das Fertige, Geordnete, war zum Beispiel für Peter Altenberg (1859-1919, lebte in Wien und war ein bekennender
Pädophiler) ein Merkmal philisterhaften Daseins.
„Menschen sind nicht, sie werden“ schrieb Peter Altenberg. Das punktuelle Daseinsgefühl entfaltet sich in Augenblicken besonderer sinnlicher Intensität, in denen der Mensch völlig in den Bann der flüchtigen Gleichzeitigkeit eines Bündels von Eindrücken gerät.
Hermann Bahr schrieb: „Es ist daher richtig bemerkt worden, der literarische Impressionismus stimme mit dem malerischen auch darin überein, als er besondere Wirkungen aus einer im Text selbst enthaltenen Aufforderung an den Rezipienten beziehe, dem Appell, die Andeutung assoziativ zu ergänzen.“
Einerseits die Auslassung, die Ellipse, das Andeuten, andererseits das symbolische Korrelat. So beschreibt es Hermann Bahr in seinem literarischen Manifest „Die Überwindung des Naturalismus“:
Einem Vater stirbt sein Kind. Dieser wilde Schmerz, die rathlose Verzweiflung sei das Thema. Der rhetorische Dichter wird jammern und klagen und stöhnen: "Ach, wie elend und verlassen und ohne Trost ich bin! Nichts kann meinem Leide gleichen. Die Welt ist dunkel und verhüllt für mich," – kurz, einen genauen und deutlichen Bericht seiner innern Thatsachen. Der realistische Dichter wird einfach erzählen:
„Es war ein kalter Morgen, mit Frost und Nebel. Den Pfarrer fror. Wir gingen hinter dem kleinen Sarg, die schluchzende Mutter und ich," – kurz einen genauen und deutlichen Bericht aller äußeren Thatsachen. Aber der symbolische Dichter wird von einer kleinen Tanne erzählen, wie sie gerade und stolz im Walde wuchs, die großen Bäume freuten sich, weil niemals eine den jungen Gipfel verwegener nach dem Himmel gestreckt:
„Da kam ein hagerer, wilder Mann und hatte ein kaltes Beil und schnitt die kleine Tanne fort, weil es Weihnachten war" – er wird ganz andere und entfernte Thatsachen berichten, aber welche fähig sind, das gleiche Gefühl, die nämliche Stimmung, den gleichen Zustand, wie in dem Vater der Tod des Kindes, zu wecken. Das ist der Unterschied, das ist das Neue.
Der naturalistische Ansatz der Genauigkeit, das begriffliche und Generalisierende in der Sprache, tritt zugunsten des Besonderen und Einmaligen zurück. Arno Holz (1863-1929, Dichter des Naturalismus) bemerkte dazu:
„Der Vogel sitzt auf einem Baum“, ist schlechter, als der Satz
„Der Zeisig sitzt auf der Ulme“.
In dieser Stimmung schwindet auch der Unterschied zwischen Innen und Außen, so werden die Randzonen des Bewusstseins zur literarischen Maxime. Und der innere Monolog ist das Beispiel für die Errungenschaften impressionistischer Faktur in diesem Bereich!
Historisch beginnt der „innere Monolog“ in der Epoche der „Empfindsamkeit“ und des „Sturm und Drang“. Das Gedankenzitat (direkte Rede) wird im Grunde nur lang gezogen. Denn der innere Monolog bleibt in der 1. Person Präsens Indikativ. Sprachlich wird hier mit a-grammatischem, parataktischem Satzbau gearbeitet. Noch deutlicher wird der Gedanke, wenn Sie den Gedanken als elliptische Satzkonstruktion darstellen. Einleitende Verben fehlen dabei. Bei Franz Kafka werden wir einen weiteren großen Fortschritt erleben, wenn er die erlebte Rede einführt.
Die Moderne im Allgemeinen und die Wiener Moderne im Besonderen läuteten einen
weiteren Schritt der Literatur ein, der zuvor in den 1830er Jahren im Julikönigtum sich etablierte. So gesehen ist der Impressionismus nicht eigentlich ein Konkurrent zum Naturalismus, sondern
ein weiterer Schritt in der zunehmenden Arbitrarität der Literatur. Noch im 18. Jahrhundert bestand für den Schriftsteller keine Spannung zwischen dem wirklichen und dem sein sollenden Publikum.
Erst mit der Proteus-Gestalt der bürgerlich geprägten Finanz- Kapitalismus änderte sich das elementar. Das System machte sich von seinen Trägern unabhängig und verwandelte sich in einen
Mechanismus, dessen Gang keine menschliche Macht aufzuhalten vermag. In dieser Selbstbewegung des Apparats besteht das Unheimliche des
modernen Kapitalismus. Eine Dämonie, die schon Balzac erschreckend schilderte.
Der Impressionismus ist ein letzter Versuch das Auseinanderfallen der Perspektive des Absoluten zu verhindern. Er scheiterte darin.
Heute sind wir alle Epigonen dieses Verlustes einer absoluten Perspektive. Wir können die Natur weder kopieren, noch begreifen ohne eine absolute Perspektive. Wir könnten aber wieder staunen lernen.
ENDE
Der 19. Beitrag 2023
Affe und Wesen
Original Ape and Essence, erschien 1948 bei Chatto & Windus,
übersetzt von Herbert E. Herlitschka 1964
Der berühmte Autor der Dystopie „Brave new World“ wurde noch im 19. Jahrhundert geboren. Er war sieben Jahre alt, als Königin Viktoria (1901) starb. Seine düstere Utopie über einen durch Drogen und Verhaltensmanipulation regierten „Menschenpark“ (Schöne neue Welt, brave new World) überschattet literarisch sein weiteres Werk. Fünf Jahre weilten die Huxleys in Sanary sur Mer in der „Villa Huley“ (der Maurer hatte das X vergessen und das Ehepaar Huxley amüsierte das so, dass sie es dabei beließen). In einem Café mit Blick auf den Hafen und im Gespräch mit all den deutschen Exilanten (von Brecht über Feuchtwanger bis Heinrich Mann, Ludwig Marcuse, Franz Werfel) entstand der Abgesang an den Fordismus (Fließband-Arbeit benannt nach dem Automobilhersteller Henry Ford) und der Abgesang an den Wunschtraum dass der Fortschritt und die Wissenschaft alles richten könnten.
Als Huxley den Kurzroman Affe und Wesen schrieb, lebte er mit seiner Frau Maria im La Land der großen Orangen, im San Bernadino County auf 1.800 Meter Höhe. Der Fortschritt hatte inzwischen für die atomare Verseuchung in Japan gesorgt und Hollywood eroberte das menschliche Gehirn. Doch schon zwanzig Jahre zuvor hatte Aldous Huxley seine Gedanken entwickelt. Nach einer langen Weltreise (Indien, Hongkong, Japan und USA) erschien sein Essay „Progress“, wo er die Menschen davor warnte, dass das wirtschaftliche Wachstum teuer erkauft wird und durch Raubbau an der Natur, an Bodenschätzen auf Kosten der zukünftigen Generationen gehen würde. In Affe und Wesen ist es dann so weit. Die Katastrophe, die in dem Roman nur lakonisch „The Thing“, die Sache genannt wird. Ein atomarer Krieg zerstört nahezu alles und verstrahlt die Welt. Schuld: Der Fortschritt und der Nationalismus. Übrig bleibt eine Gruppe Wilder in Kalifornien, die von einer Gruppe Forscher aus Neuseeland hundert Jahre danach aufgestöbert werden. Die Wilden glauben an den großen Belial, den Teufel und verehren ihn als den Verursacher der „Sache“ und beten ihn an, opfern ihm ihre Kinder, damit er sie in Ruhe lässt.
Fortschritt – die Theorie, dass man etwas für nichts kriegen kann; die Theorie, dass man auf dem einen Gebiet etwas gewinnen kann, ohne auf einem andern für diesen Gewinn zu bezahlen;
…Nationalismus – die Theorie, dass der Staat, dessen Untertan man zufällig ist, der einzige wahre Gott sei und alle andern Staaten falsche Götter seien; dass alle diese Götter, wahre wie falsche, die Mentalität jugendlicher Verbrecher hätten und jeder aus Gründen des Prestiges, der Macht oder des Geldes entstandene Konflikt ein Kreuzzug für das Gute, Wahre und Schöne sei.
So alt ist also dieser Diskurs. Während heute im 21. Jahrhundert wieder Säbelrasseln herrscht, Diplomaten ausgewiesen werden und die Ideologen der Toren laut und schrill die Zeitungsblätter versauen. Was Wunder, dass sich Huxley schon in den 1950er Jahren endgültig der Mystik zuwandte und schließlich 1962 in seinem Spätwerk eine tropische Insel in Ceylon zum Glückseiland verklärte.
Affe und Wesen ist nicht immer leicht zu lesen. Das liegt vor allem an seinem erzählerischen Aufbau. In einer Art Prolog unterhalten sich zwei Filmschaffende.
Es ist der Tag an dem Gandhi ermordet wurde, also der 30. Januar 1948 (übrigens von einem Hindu-Nationalist, einem Vorläufer der heute in Indien regierenden BJP).
In den Mittelpunkt stellt der Icherzähler seinen Freund Robert Briggs. Briggs wird als narzisstischer Drehbuchautor geschildert, der
sich selbst als einen Romantiker sieht und die ganze Zeit über sich redet, während der Ich-Erzähler in Gedanken bei dem ermordeten Gandhi verweilt. Der Diskurs der beiden geht darüber, was Kunst
ist, welchen Einfluss Kunst hat und überhaupt haben sollte. Und während sie sich so unterhalten, fährt ein Zweitonner an ihnen vorbei. Er hat Drehbücher geladen, Ausschussware, die zum Abfall
gehören. Während der Zweitonner eine Kurve macht, fliegt ein Dutzend dieser ausrangierten Drehbücher vom Laster auf den Boden. Der Ich-Erzähler hebt eins der am Boden liegenden Drehbücher auf. Es
ist Affe und Wesen von einem William Tallis, Cottonwood Ranch, Murcia, California geschrieben. Robert Briggs macht sich über „das Zeugs“ lustig. Aber der Ich-Erzähler beginnt zu
lesen. Das versteht sich doch von selbst / weiß es nicht jeder Schuljunge schon? / Zwecke sind affenerkoren!
nur die Mittel sind menschlich.
Die beiden beschließen nun, nach Murcia zu fahren und den Autor zu besuchen. Doch der ist bereits tot. Sie erfahren nur, dass dieser Autor Tallis nicht wirklich ein Menschenfreund war.
Das zweite Kapitel zeigt nun das vollständige Manuskript von Affe und Wesen. Die folgenden Seiten sind ein wenig wie ein Drehbuch geschrieben. Ein Erzähler führt durch die Geschichte. Er unterbricht immer wieder die Handlung und kommentiert sie. Immer wieder streut der Erzähler auch Gedichte ein. Die Handlung wird so immer im direkten Dialog dargestellt und mit knapper szenischer Darstellung. Längere Zeiträume werden durch den Erzähler überbrückt. Hinweise auf Kameraeinstellungen (Totale, Halbtotale) erinnern uns immer wieder daran, dass es sich um einen Film handelt. Aber die Story selbst hat einen Sog, und der Erzähler eine Art, die den Leser ansaugt und in die Geschichte hinein tauchen lässt.
Wir befinden uns im Jahr 2106 etwa hundert Jahre nachdem „die Sache“ passiert ist. Eine Gruppe neuseeländischer Forscher befindet sich auf einem Segelschiff und kommt vor die Küste Kaliforniens. Da Neuseeland zu abgelegen lag haben sie als einzige nicht mitbekommen, dass „die Sache“ passiert ist. Mit dabei ist der Botaniker Dr. Poole. Als er sich einmal alleine um eine seltene mutierte Pflanze kümmert, wird er von Wilden entführt. Er lernt nun die primitive Gesellschaft kennen, die sich auf Belial beruft. Alle bekannten religiösen Symbole wurden umgedeutet. In den Gipsfiguren des hl. Joseph, der Magdalena, des hl. Antonius von Padua und der hl. Rosa von Lima wurden einfach nur rot übermalt und mit Hörnern ausgestattet. Die Menschen sind in festen Strukturen eingebettet. Eine elitäre Priesterschaft kontrolliert die Arbeiter dadurch, dass sie ihnen jede Form von Sex verbieten. Die Frauen tragen Kleidung die an den Stellen der äußeren Sexualmerkmale ein „Nein“ aufgestickt haben. Nur an den Belials Tagen fallen alle tierisch über sich her. Dort ist es erlaubt. Doch die Kinder dieser Tage sind meist missgebildet aufgrund der Gammastrahlung durch den Atomkrieg. Wenn die Belials Tage vorüber sind, werden alle bestraft. Und wenn die Kinder zur Welt kommen, werden sie Belial geopfert. Blut soll die Menschen reinigen und vor Belial beschützen. Der entführte Dr. Poole ist ein liberaler protestantischer Botaniker, der noch nie mit einer Frau zusammen war. Er liebte seine Mutter. Doch dann verliebt er sich in die Wilde Lula (im Original Loola). Da Dr. Poole sich vielleicht nützlich erweisen könnte, weil er als Botaniker die chronische Nahrungsknappheit beseitigen könnte, wird er von der Priesterschaft verschont. Aber er soll der Kirche Belials beitreten. Das aber würde bedeuten, dass er sich kastrieren lassen müsste.
Dr. Poole entschließt sich daher mit Lula zu fliehen. Von dem Direktor (einem weltlichen Führer, der allerdings unter der
Priesterschaft steht) erfährt er, dass sich einige der „Hitzigen“ (so werden alle genannt, die sich außerhalb der Belials Tage nicht beherrschen können) in den Norden abgesetzt und dort eine
eigene, liberale Gemeinschaft gegründet haben. Der Roman endet damit, dass das Liebespaar Dr. Poole und Lula vor einem Grabstein pausieren. Dort ist ein Gedicht eingeritzt. Dies Licht, das liebeswarm die Welt umfängt / die Schönheit, darin alles wirkt und währt / der Segen, den der Fluch nichtlöscht, verhängt / uns von Geburt, die Liebe, die uns
nährt / und durch des Daseins Schleier, blind gewebt / von Erde, Luft und Meer und Mensch und Tier / leuchtet, je mehr zu spiegeln eines strebt / des
allersehnten Feuers, - strahlt nun mir / und letzte Wölkchen Sterblichkeit verzehrt.
Es ist ein Gedicht von Percy Shelley über den Tod seines Dichterfreundes John Keats.
So abgedreht die Geschichte auch wirkt, so tiefsinnig ist sie zugleich. Die Wilden haben gelernt, nicht mehr selbst verantwortlich zu sein für das Böse. Dafür haben sie nun Belial. So wurden die Menschen zu infantilen Kindern ohne Verantwortungsgefühl. Einzig die Furcht vor Belials Strafen leitet sie an und die Kinder lernen nichts anderes, als diese Angst zu fühlen und werden auf diese Weise leicht beherrschbare Untertanen.
Bei einer echten Symbiose ist eine wechselseitige fördernde Beziehung zwischen zwei vergemeinschafteten Organismen vorhanden. Der Parasitismus
jedoch ist dadurch gekennzeichnet, dass der eine Organismus auf Kosten des andern lebt. Die Beziehung zwischen dem modernen Menschen und dem Planeten, für dessen Herrn und Meister er sich bis vor
so kurzer Zeit hielt, war nicht die von symbiotischen Partnern, sondern die des Bandwurms und eines von ihm befallenen Hundes, eines Pilzes und einer schimmeligen Kartoffel.
So trägt es Dr. Poole vor, nachdem er feststellen musste, dass die Nahrungsknappheit selbstverschuldet ist. Diesen Gedankenschritt verbieten die Priester, denn es war Belial, der die Menschen hasst und nicht die Eigenverantwortung der Menschen. Huxley stellt damit zwei Konzepte gegenüber: Auf der einen Seite gibt es eine einfache Erklärung für „die Sache“. Es war das Böse, Belial eben, der die Menschen hasst. Die andere Erklärung ist komplexer und zeigt, dass der Mensch für „die Sache“ selbst verantwortlich war.
Sein Heilmittel ist Geduld und Zeit. Aber Ungeduld ist eines der Lieblingslaster Belials antwortet ihm der Priester. Bedenkt man, dass schon Goethes Faust gerade die Geduld verteufelte als er mit dem Teufel seine Wette abschloss, kann man in etwa erfassen, worauf Huxleys Gesellschaftskritik abzielt. Huxleys älterer Bruder Julian war ein Vordenker des Eugenik-Gedankens, und Aldous Huxley hat dieses Problem schon im Roman „Schöne neue Welt“ verarbeitet und damit unser Problem einer Massengesellschaft. In seinem Spätwerk „Eiland“ hat er eine positive Utopie kreiert in der freie Sexualität und Geburtenkontrolle eine Harmonie mit der Natur eingehen können. Schon früh hat Thomas Malthus im 18. Jahrhundert die Probleme beschrieben. Fast zwei Millionen Menschen Zuwachs pro Woche verursachen vor allem in den kritischen, bildungsarmen Regionen der Welt Nahrungs- und Wassserknappheit. Der Ressourcen-Verbrauch ist längst über dem Limit und eine Bedrohung des Planeten ist spätestens seit 1972 durch die Veröffentlichungen des Club of Rome thematisiert worden. Doch Huxley hat schon 1928 darauf hingewiesen. Man möchte fast glauben, dass wir vom Teufel besessen sind. Wider besseren Wissens… oder wie es die Psychologie so harmlos ausdrückt: kognitive Dissonanz.
Es ist Huxleys Thema. Und als er mit seiner Philosophia Perennis die Spiritualität dazu entdeckte – zugrunde liegt seine Freundschaft mit Krishnamurti – erkennt man schon, dass Rationalität allein keine Lösung ist. Wenn uns ein Engländer dies lehrt, dann bedeutet das was. Die Menschen sind viel irrationaler als sie selbst von sich glauben. Statt klar und rational die anstehenden Schwierigkeiten zu lösen, verbreiten sie Angst und Schrecken, erstarren vor Furcht oder schlagen sich in Hysterie ausbrechend die Köpfe ein.
Die so genannte „positive Psychologie“ entdeckt gerade erst die
Bedeutung von horizontaler Selbsttranszendenz (Generativität, Naturverbundenheit, Selbsterkenntnis) und vertikaler Transzendenz (Spiritualität) für den Menschen. Konsum allein macht uns
gewiss nicht glücklich. Natur, Gemeinschaft, Fürsorge und Barmherzigkeit, ja sogar Gott – sofern er kein Menschen hassender Belial ist.
Affe und Wesen bringt es auf den Punkt, wenn der Erzähler das Liebespaar Dr. Poole und Lulu so beschreibt: Und so haben diese zwei durch die Dialektik des
Gefühls die Synthese des Chemischen mit dem Persönlichen für sich wiederentdeckt, welcher wir die Namen romantische Liebe geben. Bei ihr war es das Hormon, was das Persönliche ausschloss; bei ihm
die Persönlichkeit, was mit dem Hormon nicht übereinkommen konnte. Nun aber ist da der Beginn einer größeren Ganzheit.
Diese größere Ganzheit ist paradigmatisch in dem Liebespaar Dr. Poole und Lula dargestellt, und wir könnten dies in der Spiritualität erfahren. Um es mit dem großen Baruch de Spinoza zu umschreiben:
Insofern die Menschen von Neid oder irgendeinem Affekt des Hasses
gegeneinander getrieben werden, insofern sind sie einander entgegengesetzt, und folglich umso mehr zu fürchten, je mächtiger sie sind als die übrigen Individuen der Natur.
Die Herzen werden jedoch nicht durch Waffen, sondern durch Liebe und Edelmut überwunden. (Von der Macht der Erkenntnis, Spinoza).
ENDE
Der 20. Beitrag 2023
Hugo von Hofmannsthal
Ein literarisches Portrait
Die Zeit in der Hugo von Hofmannsthal wirkte, lässt sich um die Zeit 1890 bis 1910 in Wien ansiedeln und war stark geprägt von der Malerei (Klimt) der Musik (Bruckner, Schönberg) und dem Drama, insbesondere dem Burgtheater.
Von den rund 52 Millionen Einwohnern der Doppelmonarchie lebten gerade einmal 11 Millionen Menschen in industrialisierten Gebieten, der Rest war Agrarland.
Viele Kleinbauern wurden durch die Großgrundbesitzer und Gutsherren enteignet.
Mittellos geworden kam es zur Landflucht.
Ein Arbeiter in Polen oder Ungarn verdiente deutlich weniger als ein Arbeiter in Wien oder Graz. Aber nie fiel es einem österreichischen Arbeitgeber ein, einen Arbeiter schlechter zu bezahlen,
bloß weil er Pole oder Slowake war.
Die Zeit um 1900 war eine spannende, aber keine besonders schöne Epoche. Wien war eine explodierende Stadt. Die Mischung aus Kaiser und Industrie - aus Kostüm und Stahl - bekommt man nicht so leicht in den Kopf. Im 19. Jahrhundert versiebenfachte sich die Bevölkerungszahl Wiens. Um 1900 lebten zwei Millionen Menschen in Wien. Damit war Wien die sechstgrößte Stadt der Welt. Nur gab es kaum Wohnraum. 1910 gab es 400000 Wohnungen für zwei Millionen Menschen. Das waren aber oft nur Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Und nur 5 Prozent der Behausungen in Wien hatten fließendes Wasser und eine Toilette. Dagegen sind die Wohnungsprobleme im 21. Jahrhundert bescheiden. Aber in der Intention ähneln sie sich. Und die Leistungen des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger (den Hitler ja verehrte) würden auch heute von den meisten „kleinen Leuten“ bejubelt. Die Arbeit dauerte täglich 12 bis 16 Stunden. Es gab viele so genannte Bettgeher, die nur ein Bett gemietet hatten zum Schlafen, und ansonsten die Wohnung zu verlassen hatten.
In der Stadt Wien lebten etwa 10 Prozent Juden und diese bestimmten neben der Wirtschaft auch das kulturelle Leben. Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann, Alfred Polgar, Felix Salten, Egon Friedell, Sigmund Freud, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, das nur ein paar der liberal gesinnten und assimilierten jüdischen Intellektuellen.
Der Wiener Alltag war weitestgehend unpolitisch (im Gegensatz zu Berlin). Es herrschte ein Ästhetentum unter den Intellektuellen.
Zu der Arbeiterfeier am 01. Mai 1890 schreibt die „Neue Freie Presse" am 1. Mai 1890 im Leitartikel: Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, Frauen und Kinder wagen sich nicht auf die Gasse.
Die Arbeiter reagieren mit Ruhe und Disziplin. Überall in Wien und in den meisten Industriestädten Österreichs wird die Streikparole befolgt. Vormittags gibt es in Wien etwa sechzig Versammlungen, nachmittags ziehen mehr als 100.000 Arbeiter in den Prater. Es ist die größte Kundgebung, die Wien bis dahin erlebt hatte. In der Arbeiter-Zeitung vom 23. Mai 1890 schreibt Friedrich Engels: Feind und Freund sind sich einig darüber, dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen hat.
Hugo von Hofmannsthal (damals 16 Jahre alt) glossierte dazu:
„Tobt der Pöbel in den Gassen, ei, mein Kind, so laß ihn schrei’n. / Denn sein Lieben und sein Hassen ist verächtlich und gemein! / Während sie uns Zeit noch lassen, wollen wir uns Schönerm weih’n.“
Fünf Jahre später 1895 schreibt er in einem Brief an E. Karg von Bebenburg:
„Über diese Dinge, was man so gewöhnlich die sociale Frage nennt, hört man recht viel reden, oberflächliches Zeug, auch besseres, aber alles so entfernt und unlebendig, es kommt einem gar nicht wie wirklich vor. Was es wirklich ist, weiß wohl auch niemand, weder die drin stecken, noch gar die oberen Schichten. Das Volk kenne ich nicht. Es gibt, glaube ich, kein Volk, sondern, bei uns wenigstens, nur Leut, und zwar sehr verschiedene Leut, auch unter den Armen sehr verschiedene, mit ganz verschiedenen inneren Welten. Dann darfst du bei uns die ungeheure Mannigfaltigkeit der Nationalitäten und damit der Entwicklungsgrade nicht vergessen. Ein bettelarmer jüdischer Student, ein verdorben-coquetter Wiener Strizzi, ein melancholischer böhmischer Dragoner, ein heruntergekommener deutschmährischer Handwerker und … und … und, das wird dann zu fünfzigtausenden summiert und heißt Proletarier. Mit einzelnen kann ich was anfangen, einzelnen vielleicht helfen, einzelne begreifen, und ich glaub, auch nur darauf kommts an. Wenigstens bei uns, wie einmal dieses werkwürdige schwer zu verstehend Österreich ist.“
Bei Arthur Schnitzler hört sich das ähnlich an: „die Heimat war eben nur Tummelplatz und Kulisse des eigenen Schicksals, das Vaterland, ein Geild des Zufalls, eine völlig gleichgültige, administrative Angelegenheit, und das Weben und Walten der Geschichte drang doch nur, wie es uns Gegenwärtigen meist passiert, in die mißtönigen Melodie der Politik ans Ohr, der man nur ungern lauschte, wenn man nicht gerade zu denjenigen gehörte, die beruflich oder geschäftlich an den politischen Ereignissen interessiert waren“ (Autobiografie, 1886/87).
Hugo von Hofmannsthal kam 1874 in Wien zur Welt. Er hatte jüdische Vorfahren. Sein Urgroßvater war 1835 noch von Ferdinant I. geadelt worden, er baute eine Seidenfabrik in Österreich auf, wodurch die Familie zu Reichtum kam. Hugos Vater wurde unehelich geboren und erst später von der Familie legitimiert. August Edler von Hofmann war Jurist und arbeitete für die österreichische Central-Boden-Kredit-Bank. Über diese Bank gibt es noch eine schöne Anekdote aus Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“:
Ein Wagen fährt durchs Tal, zwischen dunklen Fichtenwäldern, und eine Dame spricht
das Dichterwort: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut da droben?“ (Joseph Eichendorf). Darauf der neben ihr sitzende Herr: „Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht,
Kusine, dass alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ihr angestellter Forstmeister.“
Diese schöne Stelle verweist auf den Konflikt zwischen Romantik und Rationalität.
Als 1873 im Gründerkrach (der auch die Long Depression auslöste) die Familie Hofmannsthal ihr ganzes Vermögen verlor, wurde Hugos Vater August zum Haupternährer. Hugo von Hofmannsthal musste daher durchaus immer wieder über Geldsorgen nachdenken, obwohl er nach außen als reicher Aristokrat galt.
Hugo war bereits als Jugendlicher erfolgreich mit seiner Dichtung, veröffentlichte unter dem Pseudonym Loris.
Stefan Zweig beschrieb in seinen Memoiren Die Welt von Gestern (1942) den merkwürdigen Einfluss Hofmannsthals auf seine Generation:
„Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung; in der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrungensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile, wie in diesem großartigen Genius, der schon in seinem sechzehnten und siebzehnten Jahr sich mit unverlöschbaren Versen und einer noch heute nicht überbotenen Prosa in die ewigen Annalen der deutschen Sprache eingeschrieben hat. Sein persönliches Beginnen und zugleich schon Vollendetsein war ein Phänomen, wie es sich innerhalb einer Generation kaum ein zweites Mal ereignet.“ – Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Frankfurt am Main 1986, S. 63–64.
Hofmannsthal studierte ebenfalls Jura wie sein Vater. Er lernte um 1900 den Hofkapellmeister Richard Strauß kennen, was sehr fruchtbringend war. Für
verschiedene Opern und Operetten von Strauß schrieb er die Libretti (Elektra, Der Rosenkavalier). Der Rosenkavalier wurde im Januar 1911 in Dresden uraufgeführt, obwohl sie im Wien der Maria
Theresia um 1740 spielt. Es war ein voller Erfolg, wurde die berühmteste Oper des 20. Jahrhundert und kurz darauf ins Italienische übertragen und in Mailand aufgeführt, in München, und am 08.
April schließlich in der Wiener Hofoper (heute Wiener Staatsoper). Das Libretto wurde vielfach satirisch aufgegriffen. Hugo von Hofmannsthal orientierte sich in Handlung und Figurenwahl an
Moliere und die Comedia dell Arte und schrieb es in drei Tagen 1909 runter.
Sein Drama „Der Thor und der Tod“ wurde 1898 am Münchner Gärtnerplatz-Theater uraufgeführt. Das kurze Stück ist symbolistisch mit magisch-mystischem Ästhetizismus geschrieben. Der Edelmann Claudio begegnet dem Tod (der im Gegensatz zu anderen Todesdarstellungen ein eleganter und sanfter Mann ist), dieser Tod konfrontiert den Edelmann nun mit vielen Menschen seiner Vergangenheit die bereits tot sind und so sieht der Edelmann seinen Tod selbst ein und scheidet willig aus dem Leben. Die letzten Verse lauten:
Wie wundervoll sind diese Wesen,
Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen,
Verworrenes beherrschend binden
Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.
Ein Brief
Hofmannsthals „ Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“ wurde im Sommer 1903 verfasst und erschien am 18. und 19. Oktober 1903 in zwei Teilen in der Berliner Zeitung Der Tag.
Zentrale Themen des fiktiven Briefs sind die Kritik der Sprache als Ausdrucksmittel und die Suche nach einer neuen Poetik. Der Chandos-Brief gilt darüber hinaus als eines der wichtigsten literarischen Dokumente der kulturellen Krise um die Jahr-hundertwende. Er wurde zum Gegenstand zahlloser Interpretationen in der Literaturwissenschaft.
Der Autor des Briefes ist der fiktive Philipp Lord Chandos, der hier als 26-jähriges Dichtergenie im Jahre 1603 an seinen älteren Mentor schreibt, den Philosophen und Naturwissenschaftler Francis Bacon. Der junge Poet kann auf ein hoch gelobtes Frühwerk zurückblicken; nun aber, nach „zweijährigem Stillschweigen“, bezweifelt er, noch derselbe zu sein wie der Verfasser seiner Gedichte. Er spricht von einem „brückenlosen Abgrund, [der ihn von seinen Dichtungen trenne,] und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“
Sein früheres Verständnis von Dichtung (Poetik) beschreibt Lord Chandos zunächst so: Kern seiner Dichtung war die Form, „die Erkenntnis der […] tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich […]. Dies war mein Lieblingsplan.“
„Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebenso wenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst“;
„es ahnte mir, alles wäre Gleichnis und jede Kreatur ein Schlüssel der andern“
Doch diese Poetik ist nun Vergangenheit. Es gibt keine Einheit mehr zwischen Natur und Kunst, Körper und Seele oder Sprache und Empfindung. Diese Einheiten sind dauerhaft zerrissen.
„Mein Fall ist in Kürze dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden- gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. […] Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte 'Geist', 'Seele' oder 'Körper' nur auszusprechen, [denn] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“
„Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem […] Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen […]. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich“.
Diese detaillierte/zergliedernde Weltsicht führt dazu, dass der Detailreichtum des Gegenstandes nicht mehr adäquat durch ein Wort erfasst werden kann. Es gelingt Chandos nicht mehr, die Welt durch Sprache zu ordnen. Die Wörter werden ihm zu „Wirbeln […], in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“.
Die Empfindungen dagegen werden ihm umso größer, erhabener, ergreifender. Kein Wort hat mehr die Fähigkeit, die „sanft und jäh steigende Flut göttlichen Gefühles“ zu erfassen. Das „Hinüberfließen [oder] Fluidum“ der Empfindung zum Objekt der Empfindung löst auch die Grenzen des Subjektes auf. Subjekt und Sprache waren eine Einheit; nun sind sie in Auflösung begriffen. Der Sprachlosigkeit folgt die innere Leere, die „Gleichgültigkeit“.
Denn die heftige Empfindung muss stumm bleiben: „(D)as Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens.“ Die Lösung aus der Sprachkrise ist, durch nach außen hin unauffälliges sprachloses Leben, eine nach innen hin neue Sprache zu erschaffen (ohne Werte-Moment der Epiphanie, einsam mit sich und den Gegenständen). Die Konsequenz für Chandos ist, das Schreiben ganz aufzugeben und auf eine neue Sprache zu hoffen (Die Sprache der Gegenstände).
Hofmannsthal war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 28 Jahre alt, die Parallele zur Figur des gerade 26-jährigen Lord Chandos ist unübersehbar. Wie Chandos konnte Hofmannsthal auf ein hoch gelobtes Frühwerk zurückblicken, an dem er nun gemessen werden würde und in dessen Schatten er sich verunsichert fühlte. Allerdings ging der Abfassung des Chandos-Briefs keine zweijährige Schreibpause voraus; in den Jahren bis 1902 hatte Hofmannsthal stetig Dramen und Erzählungen produziert und an einer Habilitationsschrift gearbeitet.
Von einer Krise in Hofmannsthals sprachlicher Ausdrucksfähigkeit kann also nicht die Rede sein; der Brief ist rhetorisch äußerst gewandt formuliert. Vielmehr muss er im Kontext seines eigenen Schaffens als künstlerisches Manifest (also poetologisch) gelesen werden.
Der Brief enthält eine Absage an die „tiefe, wahre, innere Form“, auf die ihn Stefan George eingeschworen hatte. Demgegenüber formuliert er ein Verlangen nach einer Ausdrucksmöglichkeit, die das Sprachliche überwinden kann, „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“. Die „Trunkenheit“ der frühen Kunst kann nicht mehr erreicht werden; die Utopie einer solchen neuen Sprache, die „unmittelbarer, glühender ist als Worte“ erscheint ebenso unerreichbar.
Diese fast mystischen Formulierungen bilden die Basis für Hofmannsthals Poetik nach der Jahrhundertwende. Sie sind aber auch exemplarisch für die zahlreichen heterogenen Versuche deutschsprachiger Schriftsteller, sich von der Schreibweise des Fin de Siècle abzulösen und eine neue Richtung der Moderne einzuschlagen.
Hofmannsthal war nicht der einzige Schriftsteller der Jahr-hundertwende, der die Sprache als unzulänglich empfand. Eine ganze Reihe von Kunstformen blühte auf, in denen die Sprache weniger gebraucht wurde, insbesondere der Stummfilm. Geste und Gebärde sowie das Ornament als expressive Mittel. So wurde dann die Folgezeit spätestens ab dem Krieg und die Zwischenkriegszeit vom Expressionismus und der neuen Sachlichkeit bestimmt.
ENDE
Der 21. Beitrag 2023
Tier – Mensch – Maschine (Teil I)
Vom Humanismus zum Transhumanismus
zum Posthumanismus
Im Juli 1999 fand auf dem Schloss Elmau in Oberbayern ein internationales Symposion statt zur Philosophie am Ende des Jahrhunderts, in Zusammenarbeit mit dem van Leer Institut und dem Franz-Rosenzweig-Center, Jerusalem.
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hielt dazu den Vortrag mit dem Titel: "Jenseits des Seins – Exodus from Being, Philosophie nach Heidegger".
Im September und Oktober 1999 gab es in Deutschland im Anschluss dazu eine sehr aufgeregte Debatte über diesen Vortrag. Vor allem Fragen zur Gentechnologie wurden dabei in den Vordergrund gestellt. Das aber verkürzte den Ansatz von Sloterdijk erheblich. Wobei der deutsche Rauner und Dunkelmetaphoriker Sloterdijk natürlich nicht ganz unschuldig ist. Man kann sich auch klarer ausdrücken und seinen geschätzten Lesern mehr entgegen kommen, ohne automatisch an Komplexität einzubüßen.
Im Kern stellt PS (Kürzel für Peter Sloterdijk) die Frage, wie der Humanismus im Zeitalter der
Technologien noch zu retten ist, oder ob er nicht sogar selbst programmatisch seinen eigenen Abgesang mit verschuldete.
„Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache
doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben?“ (Regeln für den Menschenpark, SV Sonderdruck 1999).
Es geht also im weitesten Sinne um die Bestimmung des Menschen in Abgrenzung zu anderen Lebewesen. Und in Abgrenzung zur Technologie.
In seinem Essay „Wiedersehen mit der schönen neuen Welt“ formulierte es Aldous Huxley 1959 so:
Wie können wir, in einem Zeitalter sich beschleunigender Übervölkerung, sich beschleunigender Überorganisierung und immer wirkungsvollerer Wege der Massenkommunikation, wie können wir da die Integrität des menschlichen Individuums bewahren und seinen Wert immer wieder geltend machen?
Schauen wir uns die Debatte um den Menschenpark einmal genauer an.
Darin setzt sich PS mit dem Humanismus-Problem auseinander. Grundsätzlich ist der Humanismus ex lettre zu verstehen. Alle Menschen sind befreundet und so steht der Brief an einen Freund im Vordergrund, als Grundgedanke der Humanitas. In den Nachkriegsjahren antwortete der Philosoph Martin Heidegger in einem Brief dem französischen Philosophen Jean Beaufret, mit dem er befreundet war. Das war im Jahr 1947. Beaufret hatte Heidegger drei Fragen gestellt: erstens, wie dem Wort „Humanismus“ wieder ein Sinn gegeben werden könne, zweitens, wie es um das Verhältnis von Ontologie und Ethik stehe, und letztlich, was das Element des „Abenteuers“ in der Philosophie ausmache.
Also zu erstens: Nach dem Massaker des WKII muss man sich ernsthaft fragen, wie sinnvoll das Projekt Mensch eigentlich ist.
Zweitens: Inwieweit können wir überhaupt frei entscheiden, was sein soll? Jede Ethik führt uns am Ende immer in eine Sackgasse.
Etwas ist schlecht oder gut. Töten ist nach Paragraph 211 StGB verboten. Darauf folgt der Schluss, dass Töten schlecht sei. Aber Töten ist nach dem Kriegsgesetz erlaubt. Daraus folgt der Schluss:
Töten ist gut. Daraus wird ersichtlich, dass ein Gesetz, ein Gebot, eine Maxime kein zureichendes Urteil zulässt.
Drittens: Was – bitteschön – macht das Abenteuer des Denkens aus, wenn es entweder müßig ist (weil es nichts bewirkt), oder in die Schlachterei führt – wenn es denn wirkt?
Heidegger antwortet darauf, dass der Mensch göttlich sei und er das, was er erkenne aus dem schöpft, was ohnehin ist. Der Mensch ist daher kein animal rationale. Fortschritt sieht Heidegger daher nicht. Er kritisiert die Sicht auf den Menschen durch den Humanismus. Der Mensch ist nach Heidegger göttlicher Natur und nicht tierischer. Daher ist der Humanismus in seinem Fortschrittsgedanken zu kritisieren. Die Technik denkt nicht. Das Abenteuer des Denkens ist damit – in meinen Worten - als etwas Spirituelles zu sehen, und somit eine Entdeckungsreise des Bewusstseins. Die Landkarte unseres Seins ist bereits gegeben. „Wie Fische im Wasser, so leben wir in Sprache“, schrieb Aldous Huxley an seinen Bruder Julian (1940) und von Heidegger stammt der Spruch „Die Welt ist ein Haus aus Sprache“. Der Mensch deutet und bedeutet diese Welt wie kein Tier und er verändert diese Welt wie kein Tier. Und dies macht er mit Sprache (im weitesten Sinne, denn auch die Mathematik als Grundlage der Technik ist eine Sprache).
Nun, Sloterdijk antwortet über fünfzig Jahre später auf den Brief von Heidegger. Und dieser Text hat erneut den Roman von Aldous Huxley in den Diskurs geschleudert. Weil Huxley genau diese Probleme in seinem Roman (brave new world) bearbeitet hat. Die Menschen entstehen dort am Fließband, haben keinerlei Mitspracherecht in welcher der fünf Kasten sie ihre Zukunft verbringen werden. Sie werden von dem Weltstaat und ihren Vertreter zwangsbeglückt. Das ist natürlich unter anderem die Gentechnologie heute, die Menschen noch vor ihrer Geburt manipulieren kann. Aber weit mehr steckt in dem Wort Erziehung auch die Züchtung, das Züchtigen.
In Sloterdijks Antwort auf Heidegger geht es im Groben darum, dass der Humanismus unter Verdacht geraten ist. Als Züchtungs- und Erziehungsprogramm ist der Humanismus vielleicht nicht so harmlos wie er tut und in die Enthemmtheit der Moderne verstrickter, als er zugibt.
Daher greift PS für den ersten Angriff auf den Humanismus zurück auf die Frankfurter Schule von Adorno. Zur Disposition steht die Kulturindustrie. Die kommerzielle Vermarktung von Kultur ist ein Massenbetrug.
Die Diktatur Hitlers unterschied sich in einem grundsätzlichen Punkt von allen geschichtlichen Vorgängern. Sie war die erste Diktatur, die sich zur Beherrschung des eigenen Volkes der technischen Mittel in vollkommener Weise bediente. Durch die Mittel der Technik, wie Rundfunk und Lautsprecher, wurde achtzig Millionen Menschen, das selbstständige Denken genommen; sie konnten dadurch dem Willen eines Einzelnen hörig gemacht werden. Der Alptraum vieler Menschen, dass einmal die Völker durch die Technik beherrscht werden könnten, er war im autoritären System Hitlers nahezu verwirklicht.
So äußerte sich Albert Speer (Architekt und Reichsminister unter Hitler) bei den Nürnberger Prozessen.
Sloterdijk erwähnt hier vor allem die Spiele der Römer als Urgrund, die später in den Gladiatoren- und Sandalenfilmen für Furore sorgten, und die PS als stilprägend für die modernen Chain Saw Massacre Movies sieht.
Humanismus achtet im Grunde darauf, dass der Mensch in seiner Zähmung der Triebe (Gewalt) die rechte Lektüre dazu wählt. Doch in der Kulturindustrie scheint das weitestgehend entgleist zu sein. Die Dialoge in "Reservoir Dogs" (1992 von Quentin Tarantino) waren praktisch mit allen Schimpfworten gespickt, die die englische Sprache zu bieten hat. "Fucking" und "fuck" tauchen zusammen mehr als 200-mal auf - gefolgt von "shit", "ass", "dick" und "bitch". Abgesehen von der Anzahl der Toten. Am Ende lebt keiner mehr. Die Faszination dafür hat Literatur und Text stark verdrängt. Moderne Technologie marginalisiert Sprache zusätzlich. Solche Filme eignen sich besser zur kommerziellen Vermarktung als schöngeistige Lyrik.
Ein weiterer Angriffspunkt nach PS ist die Kritik der Aufklärung als doppelgesichtig, oder wie Karl Marx einmal meinte, Geschichte zeigte sich erst als Tragödie und wiederhole sich dann als Farce. In der Dialektik der Aufklärung arbeiten sich Adorno und Horkheimer am Mythos von Odysseus ab. Der an den Mast gebundene und damit sich selbst zähmende Odysseus wird zum Sinnbild einer Aufklärung, die nur dann funktioniert, wenn der Mensch sich selbst beschränkt. Also seine Triebe unter Kontrolle zu bringen bedeutet „erlaubt ist, was sich ziemt“ und nicht „erlaubt ist was gefällt“ (Torquato Tasso, Goethe). Auch Foucault untersuchte dies in seinem Text „Sexualität und Wahrheit“ und kam auf den Begriff der Biomacht in der die Staaten Kontrolle über den Körper übernehmen, durch Exerzitien in Militär und Schule.
Weitere körperliche Eingriffe kann man in der Zukunft erwarten durch gezieltes Enhancement, wie zum Beispiel dem Neuro-Enhancement, das ja auch Elon Musk propagiert. Oder eben durch Gen-Technologie – ein regelrechtes Züchtungsprogramm. Und hier kann es in vielerlei Hinsicht zu erheblichen sozialen Verwerfungen kommen. Wer bekommt den neuesten Neuro-Move? Wer nicht? Nur die Reichen? Wer darf weiter leben, wer nicht? In den USA beträgt der Unterschied zwischen Arm und Reich inzwischen 20 Lebensjahre und die Tendenz ist steigend.
In dem Sammelband Die Zukunft der menschlichen Natur nimmt Jürgen Habermas (Philosoph der Frankfurter Schule) zu Fragen der Eugenik Stellung in direkter Reaktion auf die Regeln des Menschenparks von PS.
Eine grundsätzliche Problematik beim Eingriff in das menschliche Erbgut stellt für Habermas die Tatsache dar, dass die Person, die eine Entscheidung über die „‚natürliche Ausstattung‘ einer anderen Person trifft“, ihr gegenüber die Macht besitzt, unwiderruflich bestimmte Eigenschaften, ohne den Konsens des Betroffenen zu bestimmen.
Negative Eugenik: rein präventive Maßnahmen gegen zukünftige Krankheiten. Positive Eugenik: ein Kind mit nützlichen und wünschenswerten Eigenschaften ausstatten.
Wenn der Leib in der pränatalen Phase des Individuums von den Eltern manipuliert wird, bedeutet dies, dass über
ihn verfügt wird. Das macht aber ein „Selbstseinkönnen“ des Individuums unmöglich.
Ich frage mich allerdings andersherum, in weit hatte ich Verfügungsgewalt darüber, dass nicht gentechnologisch eingegriffen wird und ich mein Leben mit schweren Handicaps bewältigen muss, nur
weil meine Eltern liberal waren?
Im erweiterten Sinn ist die Eugenik nur ein Teilgebiet. Ist in einer Massenkultur mit Schulpflicht, Drogengesetzen, Waffengesetzen überhaupt Selbstbestimmtheit möglich? Worüber darf ich selbst bestimmen? Und wer bestimmt dann das?
PS greift hier auf Platon zurück und erläutert dazu das Weber-Gleichnis aus Platons Politikon, in der die Staatskunst eine Art Webtechnik für Menschen ist. So wird dank der Experten jedem seine Rolle exakt zugewiesen, und ein Staat funktioniert nur, wenn jeder dann auch in seiner Rolle bleibt. Die von Platon erwähnten Tugenden werden so zu einem autoritären Vollzugsprogramm. Wir sind darin Schafe, eingehegt und umzäunt von dem, was man Zivilisation nennt. Wir bleiben alle brav in unseren vorgeschriebenen Reservaten.
Dazu zitiert PS aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, wo es ja um den Übermenschen geht:
„Hinter dem heiteren Horizont der schulischen Menschenzähmung findet sich der dunkle Horizont der Menschenzüchtung.“
Der englische Frühaufklärer und Künstler William Blake meinte in diesem Sinne einmal: "Gefängnisse werden aus den Steinen der Gesetze errichtet, Bordelle aus den Ziegeln der Religion." Die Hochzeit von Himmel und Hölle – William Blake.(1757 bis 1827, Naturmystiker, Künstler, Frühhippie).
Dahinter verbirgt sich auch die Richtung, die von Nietzsche vorgegeben wurde, und von den französischen Strukturalisten wie z.B. Michael Foucault weitergeführt wurde. Einhegung, Umzäunung, Behausung. Der Mensch ist ein Tier, das seinesgleichen züchtet.
Anstoß erregte dann vor allem die Frage von Sloterdijk, inwieweit biotechnologische Mittel zur gattungsweiten Geburtenkontrolle zulässig sind.
Und hier ist der entscheidende Konnex mit Huxley deutlich zu sehen. Das bezieht sich natürlich stark auf die Schrift von Aldous Huxley, in dessen schönen, neuen Welt ja diese Praxis als anthropotechnische Routine bereits vollzogen wird. Und heute ist dies als human enhancement in die Debatte zurückgekehrt. Heutzutage ist weit mehr möglich als noch vor 50 oder 60 Jahren. Denken Sie an die Probleme durch PRID (präimplantative Diagnostik). Angenommen, sie werden Mutter. Ihnen stehen drei befruchtete Eier zur Verfügung. Eines ist perfekt, eines mittelmäßig und das dritte könnte ein behindertes Kind bergen. Wie würden Sie sich entscheiden? Und die Frage, welche ethischen Folgewirkungen die Verbesserungen bzw. Veränderungen am Menschen (Genetik) haben werden, ist dabei noch gar nicht absehbar.
ENDE TEIL I
Tier – Mensch – Maschine (Teil II)
Künstliche Intelligenz
Einer der ersten Schriftsteller, der sich mit KI im Besonderen auseinandersetzte, war sicher William Gibson. In seinem ersten Band seiner Neuromancier-Trilogie (erschienen 1984!) ist die Technologie schon so weit fortgeschritten, dass man ein breites Angebot an Neuro-Enhancement zur Verfügung hat. Der Plot seines Romans in knapper Darstellung:
Case reist nach Chiba (Japan), um sein Nervensystem reparieren zu lassen. Dieses wurde durch ein Mykotoxin so beschädigt, dass er sich nicht mehr in den Cyberspace einloggen kann. Case ist drogensüchtig und hat Todessehnsucht. Eines Tages begegnet er Armitage der sein Nervensystem wieder instand setzen lässt, wenn er einen Auftrag annimmt. Case nimmt an und die Operation an seinem Nervensystem ist erfolgreich.
Armitage, ist in Wahrheit die künstliche Intelligenz (KI) Wintermute.
Wintermutes Ziel ist es, sich mit seinem Gegenstück, der KI Neuromancer zu vereinen. Nur der Zusammenschluss der beiden Teilsysteme in Form einer Super-KI kann alle Schranken aufheben.
Am Ende des Romans schafft es Wintermute, sich mit Neuromancer zu vereinigen und eine digitale Lebensform zu bilden, welche in der Matrix aufgeht. Sie kontaktiert Case ein letztes Mal und
berichtet, dass sie eine andere KI im Sternensystem Centauri entdeckt hat.
Hier hat also die Singularität längst stattgefunden und KI tritt selbstbewusst in Erscheinung. Heute hört sich das noch anders an.
Bernhard: Hallo, wie gehts?
ChatGPT: Hallo! Mir geht es gut, vielen Dank für die Nachfrage. Als künstliche Intelligenz habe ich zwar keine Gefühle im eigentlichen Sinne, aber ich bin bereit, Ihnen bei jeder Frage oder Herausforderung zu helfen, bei der ich nützlich sein kann. Was kann ich für Sie tun?
Doch Fragen nach dem Urheberrecht der Erzeugnisse von KI tauchen zunehmend auf, auch Fragen der Zuständigkeit bei
zum Beispiel selbstfahrenden Autos. Geschieht doch ein Unfall. Wer ist schuld? Der Hersteller? Der Programmierer? Der Besitzer des Automobils?
Wissen verändert auch den Charakter und das Bewusstsein von Menschen. Die Informationsflut macht uns anfällig. Einerseits anfällig für Sprach- und Bildmanipulationen durch Deep-Fakes,
andererseits anfällig für eine Wissensverweigerung und Ignoranz. Um die Flut der Informationen autark bewältigen zu können, benötigen wir ein ausgeklügeltes Bildungsprogramm, das uns wiederum zu
eingehegten, gewebten Menschen macht. Die Expertokratie bestimmt längst die Politiken moderner Gesellschaften. Und wenn erst einmal eine KI die Führung übernimmt (was man durchaus schon erkennen
kann, da die meisten technischen und globalisierten Abläufe unserer modernen Welt ohne KI und ihre Algorithmen nicht mehr funktionieren würden – ein Blackout wäre eine maximale Katastrophe), was
dann?
KI verursacht tiefgreifende Einschnitte, die Huxleys Dystopie viel aktueller machen, als Orwells Schreckensherrschaft 1984. Denn bei Orwell haben wir einen Überwachungsstaat und eine durch Manipulation und Fake-News sowie durch Sprachverfälschung regierende Elite. Der Großteil der Menschen in diesem Staat sind Prolos, besitzlose Sklaven. Bei Huxley sind die Menschen durchaus zufrieden mit der Manipulation und glücklich. Ihre Bedürfnisse werden zufriedenstellend gedeckt. Und die Klasse der Alphas entspricht der Klasse der Experten heute.
Transhumanismus-Posthumanismus
Der Vorsitzende von Cyborg e.V. Enno Park erkrankte im Laufe seines Lebens und verlor 80 Prozent seiner Hörfähigkeit. Zwanzig Jahre lang war er fast gehörlos. Dann entschied er sich für ein Cochlea-Implantat, das mit seinen Nervenzellen fest verankert ist. Enno Park kann nun die Welt lauter und leiser stellen, je nach Bedarf. Aber er weiß nicht mehr, ob die U-Bahn wirklich laut ist. In Deutschland gibt es 30.000 Träger eines solchen Implantats. Es haben sich zunehmend von den von Geburt an Gehörlosen Proteste entwickelt, da dieses Implantat eine ganze Kultur auslöschen könnte, die mit der Gebärdensprache zusammenhängt. Denn die Kultur der Gehörlosen ist in der Tat eine eigene Kultur und es macht einen Unterschied, ob man von Geburt an gehörlos ist oder diese erst durch Krankheit erwirbt. Der von Geburt an Gehörlose empfindet dies gar nicht als Mangel, er ist so. Es wäre eine Form des Rassismus und der Intoleranz, würde man behaupten, er sei behindert. Ein Werturteil, das uns nicht zusteht. Anders ist es bei jemand, der im Laufe seines Lebens sein Gehör verliert, für ihn ist es ein Schmerz, ein Verlust. Von daher müssen wir in unserer Gesellschaft aushalten, wenn jemand kein Implantat haben will und wir brauchen eine Gesellschaft, die beiden Lebensformen eine Gelegenheit zu sein ermöglicht. Enno Park bringt dafür ein schönes Beispiel. So kann man heute weitestgehend verzichten auf Fahrpläne, die auf Papier gedruckt sind. Es gibt Internet und Apps. Doch was geschieht, wenn das Internet mal nicht funktioniert? Oder wenn jemand nicht ständig mit seinem Smartphone herumlaufen möchte? Es macht unsere Gesellschaft auch resilienter, wenn wir mehrere Wege gehen und die analoge Welt beibehalten.
Bald ist man so weit, sogar Menschen ohne Bewusstsein zu züchten, die nur dazu dienen, als Lager für Organe zu dienen. Was wir mit den Tieren machen, ist genau das Gleiche.
Wie weit dürfen wir gehen, um den Menschen zu beglücken? Wie viel Freiheit, wie viel Zwang? Und noch weiter: Es gibt einen Essay von Heinrich von Kleist aus dem Jahr 1810, „über das Marionettentheater“, und dieser Essay hat die Aufklärung ziemlich erschüttert. Hier spricht Kleist davon, dass eine Puppe in ihrer Grazie unerreichbar ist für einen Menschen. Im Grunde könnten wir nur so perfekt wie eine Puppe sein, wenn wir auf unser Bewusstsein verzichten würden, auf unseren Willen „selbst zu denken“. Einfach zu erklären am Beispiel des Gehens. Wenn Sie darüber nachdenken, wie Sie das Gehen machen, dann werden Sie naturgemäß stolpern.
Der Posthumanismus überwindet den Menschen. Der Mensch wird zu einer Kreatur, die im Wasser atmen, im Weltraum ohne Schutzanzug überleben, mit Implantaten Echolot wahrnehmen kann. Oder wir stellen eine Verbindung mit der KI zur hyperhumanistischen Schwarmintelligenz her; im Sinne der Borg (Star Trek / next Generation), einer Kollektiv-Spezies, die allen anderen vollständig überlegen ist und jedes Individuum assimiliert und damit auslöscht, in den Gesamtbau eingliedert und zu einem perfekten System macht.
Einerseits gäbe es durch technische Erweiterungen übernatürliche Wesen, die
dann die anderen unterdrücken und beherrschen, die zu Göttern werden, andererseits wäre ein Posthumanismus denkbar, der alle ins Boot holt und zu erweiterten Wesen macht. Das Problem bleibt
bestehen. Entweder wir leben in einer totalitären Form oder in Ungleichheiten. Wer den Fortschritt ablehnt, bleibt zurück, fällt aus seiner Rolle und wird entweder zwangsbeglückt, oder
ausgelöscht als Individuum, marginalisiert oder in ein überwachtes Reservat verlegt. Eine Gesellschaft, die es Menschen ermöglicht ohne Smart-Phone, ohne Computer, ohne Fortschritt zu leben? Wie
die Amischen (Glaubensgemeinschaft, die ohne Technologie nach alten biblischen Regeln leben, ca. 300.000 Menschen in den USA immerhin)?
Hier kann man wirklich nur noch Loriot zitieren: Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.
ENDE
Der Lehrer des Bösen
Kaum begann ich es zu lesen, so erkannte ich, dass es – obwohl es den Namen und Stil eines Menschen vorweist – doch von der Hand des Teufels geschrieben ist. Reginald Pole.
Das Buch von dem der englische Kardinal und Bischof von Canterbury Reginald Pole (1500-1558) hier spricht, trägt den berühmten Namen „Il Príncipe“, zu Deutsch „Der Fürst“ und wurde im Jahr 1513 von dem Florentiner Kanzleibeamten Niccolò Machiavelli verfasst.
Die Äußerung von Reginald Pole leitete eine grundsätzliche Ablehnung dieses Buches ein, das dann in der Folge von der Kirche im Jahr 1559 auf den Index des Librorum Prohibitorum gesetzt wurde,
einer Liste von Büchern, die von der Kirche als schädlich betrachtet wurden. Diese Liste wurde erst 1966 von Papst Paul VI. aufgehoben. Bis heute gilt das Werk von Machiavelli als Inbegriff einer
amoralischen Haltung. Angeblich soll sogar Adolf Hitler ein begeisterter Leser gewesen sein. Aber es gibt dafür keine Belege. Tatsache ist, dass dieses Werk im Wesentlichen die später folgenden
Naturrechtslehrer (Jean Bodin, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf) als Negativ-Beispiel ihrer Staatsrechtslehren diente.
Was aber steht nun drin, in diesem „bösen Buch“?
Zunächst möchte ich den Autor Machiavelli in seinen historischen Kontext stellen. Er kam 1469 in Florenz als Sohn einer Familie aus Kanzleibeamten zur Welt. Sein Vater war nicht besonders reich, aber er hatte eine große Bibliothek und so konnte Machiavelli früh auf Werke von Aristoteles oder Cicero zurückgreifen. Er trat 1492 in die Staatskanzlei ein, wurde also ein Vollblutpolitiker. Es war das Jahr der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Schon zwei Jahre später kam es zu den italienischen Kriegen, die bis 1529 dauerten und erst im Frieden von Barcelona endeten. Machiavelli lebte also in sehr unsicheren Zeiten und erlebte den Friedensschluss nicht mehr, da er 1527 starb. Aber er erlebte noch die Sacco di Roma, wo ein führerloses Söldnerheer Tausende von Nonnen und Priester in Rom abschlachtete und die Stadt Rom plünderte. Manche Gelehrte setzen hier den Beginn der Neuzeit.
Machiavelli erlebte ständig wechselnde Allianzen, mal kämpften der Papst Alexander VI und Kaiser Maximilian der I. gemeinsam mit Spanien, Mailand und Venedig gegen Frankreich. Dann wieder kämpften der Papst Julius II. mit dem Kaiser, Spanien, England und Frankreich gegen Venedig. Dann wieder kämpften der Papst Clemens VII. gemeinsam mit Frankreich, Mailand und Venedig gegen Kaiser Karl V. (HRR). Die italienischen Stadtstaaten waren hier immer wieder unterschiedlichen Regimen ausgesetzt. Machiavelli erlebte in Florenz die Machtergreifung durch den Dominikaner Girolamo Savonarola, einem Bußprediger, der für vier Jahre Florenz (1494-98) zu einem heiligen Kirchenstaat machte, Bilder verbrennen ließ und Schriften im so genannten Fegefeuer der Eitelkeiten vernichtete.
Machiavelli selbst erlebte auch Savonarolas Sturz. Savonarola wurde von einer aufgebrachten Menge gefoltert und schließlich erhängt und verbrannt
genau an dem Platz, Piazza della Signora, wo er zuvor sein Fegefeuer der Eitelkeiten veranstaltet hatte.
Da Machiavelli weder gegenüber Savonarola noch gegenüber den verhassten Medici Partei ergriff, galt er in der auf Savonarola folgenden Republik als unverdächtig und wurde Staatssekretär, erwarb also ein hohes politisches Amt, in dessen Auftrag er den Papst, den deutschen Kaiser oder auch den französischen König besuchte.
Doch die Rückkehr der Medici im Jahr 1512 brachte Machiavelli wieder in Ungnade. Er wurde entlassen aus seiner Position, des Verrats beschuldigt, eingesperrt, gefoltert und danach mangels
Beweisen frei gesetzt und aus der Stadt gejagt. Zurückgezogen lebte Machiavelli auf seinem Landsitz in Sant' Andrea in Percussina, einem Ort in der Nähe von San Casciano in Val di Pesa, südlich
von Florenz, Italien. Der genaue Ort seines Wohnsitzes war das Landhaus, das heute als Villa Machiavelli bekannt ist. Und dort – politisch kalt gestellt – langweilte sich der Vollblutpolitiker
enorm und verfasste seine berühmte Schrift „Il Príncipe“ aber auch sein vier Mal dickeres Hauptwerk „Discorsi.“
Unklar ist, ob Machiavelli seine Darstellung eines skrupellosen Machtmenschen tatsächlich ernst gemeint bzw. als vorbildhaft verstanden hat, da er in anderen Schriften eher eine republikanische Einstellung vertritt und im Príncipe selbst die traditionelle Unterscheidung von Gut und Böse nicht aufgibt. Im 17. Jahrhundert wurde Il Príncipe jedoch in der Regel dem Buchstaben nach genommen. Der Begriff Machiavellismus, der seit ungefähr 1600 im Gebrauch ist, steht daher bis heute für eine rein zweckorientierte Machtpolitik, die keine ethischen oder religiösen Rücksichten nimmt. Tatsächlich hat Machiavelli seine Vorstellung eines skrupellosen Herrschers im programmatischen Verzicht auf jede religiöse Fundierung entwickelt: Es geht ihm ausschließlich um die Frage, wie man die höchste Macht im Staat erlangt und sich dann in dieser Position erhält.
Hinter dem Bild des Fürsten, das Machiavelli entwirft, steht als zeitgenössisches Vorbild Cesare Borgia, ein Sohn von Papst Alexander VI. Borgia, der schon zu Lebzeiten als rücksichtsloser Gewalttäter galt:
Wenn ich nun alle Taten des Herzogs zusammenfasse, so wüßte ich ihm keinen Tadel auszusprechen; ganz im Gegenteil scheint es mir geboten, ihn − wie ich es getan habe – all jenen als Vorbild hinzustellen, die durch Glück und mit fremden Waffen zur Herrschaft aufgestiegen sind. (Der Fürst. S. 61/63.)
Machiavellis grundlegende Annahme geht davon aus, dass die Politik von der Religion und der Moral zu trennen ist, mit dem Ziel der zweckorientierten Politik. Das nannte Machiavelli die Staatsräson (status rationale). Die Staatsräson muss im Notfall gegen die Moral durchgesetzt werden.
Denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind.
Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit.
Die Rückkehr dieses Wortes Staatsräson in die aktuelle Politik von 2023 (Angela Merkel griff es auf, Olaf Scholz und Robert Habeck wiederholten es jüngst) stammt also von Machiavelli und kennzeichnet absolutistische, feudalistische Machtpolitik. Machiavelli hält sich strikt an das Prinzip der Fundierung politischer Gesetze auf der Empirie und stützt seine Argumente daher immer auf historische Exempel: Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. (Der Fürst. S. 119.)
In der Epoche von Machiavelli war diese Empirie als absolut modern zu betrachten, ja sogar als eine Vorreiterposition. Erst Francis Bacon (1561-1626) begründete die Empirie als Wissenschaft. Während die Naturrechtslehrer, die alle nach ihm kamen und ihn schwer kritisierten, sich alle auf Rene Descartes (1596-1660) beriefen, der Lehre des reinen Denkens (Ich denke, also bin ich) und ihre Staatsrechtstheorien more geometrico aufbauten und nach streng logischen Gesichtspunkten abstrahierten, ohne historische Beispiele oder Belege auch nur zu erwähnen.
Die Tugenden eines Fürsten
Machiavelli ordnet diese Tugenden nach der Notwendigkeit, dem Glück, der günstigen Gelegenheit und der Tüchtigkeit. Das klingt durchaus nach dem in dieser Epoche allgemein gültigen Vorbild der Lehren des Aristoteles. Allerdings bewertet Machiavelli diese Tugenden nicht nach ethischen Maßstäben, sondern des Erfolgs und der Macht des Fürsten.
So gilt es allgemein als Tugend, wenn der Herrscher freigiebig ist. Nach Aristoteles ist die Freigiebigkeit ein rechtes Maß zwischen Geiz und Verschwendung.
Machiavelli meint nun, dass der Fürst mit fremden Eigentum durchaus freigiebig sein sollte. Also mit dem Reichtum aus eroberten Gebieten kann man
die Untertanen günstig stimmen. Jedoch sollte man nicht mit eigenem Eigentum oder dem der Untertanen freigiebig sein. Die Untertanen, so Machiavelli, nehmen es mehr übel, wenn man ihnen das Erbe
nimmt, als wenn man ihre Väter tötet.
Der Fürst muss es vermeiden, gehasst oder verachtet zu werden. Man wird verachtet, wenn man schwach erscheint, weibisch oder wankelmütig. Man wird
gehasst, wenn man als Herrscher eigennützig erscheint.
Liebe und Furcht sind beide anzustreben. Doch ist die Liebe abhängig von den Untertanen, die doch sehr schwankend. Untertanen sind in ihrer
Zuneigung schwer einzuschätzen. Dagegen ist die Furcht vorzuziehen, denn die Furcht der Untertanen geht vom Herrscher selbst aus, während die Liebe von den Untertanen ausgeht. Daher ist Furcht
der Liebe vorzuziehen.
Die Grausamkeit eines Fürsten ist gut, wenn man schnell und hart zuschlägt und anschließend versöhnlich ist, aber schlecht, wenn man nur zögerlich und gering anfängt zu strafen und dann die Strafe steigert, weil so die starken Gegner übrig bleiben und sich rächen können. Man muss sich daher merken, dass man die Menschen entweder mit Freundlichkeit behandeln oder unschädlich machen muss (der Fürst).
Die Milde darf nie als Schwäche ausgelegt werden. Und Grausamkeit nicht zu Hass führen. Daher sollte man Grausamkeiten am besten durch Stellvertreter ausführen lassen.
Ehrlichkeit ist nicht unbedingt sinnvoll, zumal die anderen auch nicht ehrlich sind. Es ist aber von Vorteil, ehrlich zu scheinen. In allen Tugenden ist das bei Machiavelli so: Tugenden sind nur sinnvoll als Schein. Der Eindruck man sei tugendhaft führt weiter, aber die Anwendung von Tugend führt letztlich zu gar nichts. Der Tugendhafte hat – das kennen wir – oft das Nachsehen, weil er im Wettbewerb zum Verlierer wird.
Jemand, der es darauf anlegt, in allen Dingen moralisch gut zu handeln, muss unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zugrunde gehen. Daher muss ein Fürst, der sich behaupten will, sich auch darauf verstehen, nach Bedarf nicht gut zu handeln, und dies tun oder lassen, so wie es die Notwendigkeit erfordert. (Der Fürst)
Die normative Leitlinie bei Machiavelli ist damit nicht die Moral, sondern der Machterhalt. Lob verdient, was zu Erfolg führt, wie Zielstrebigkeit, List, Geschick, Rücksichtslosigkeit etc.. Tadel verdient was zu Misserfolg führt, wie zum Beispiel Selbstüberschätzung, Idealismus, Unklugheit, Wankelmütigkeit.
Der Fürst darf sich dabei nie auf das Glück (Fortuna) verlassen, sondern muss immer auf seine Tatkraft, seine Tüchtigkeit, seine Tugend (Virtu) achten. Doch das sind keine moralischen Tugenden, sondern die Fähigkeit, das Glück zu bestimmen, das Glück zu erzwingen, wenn es nicht von alleine kommt. Für Machiavelli geht es hier vor allem um das Kriegsgeschick. Hauptaufgabe eines Politikers ist bei Machiavelli ohnehin der Krieg. Daher darf man sich nicht auf fremde Hilfstruppen verlassen, also auf das Glück, sondern braucht eigene Truppen. Statt Söldner eine eigene Miliz.
Das ist auch der entscheidende Unterschied zwischen Moses und Savonarola. Moses war bewaffnet und konnte sein Volk zwingen ihm weiter zu folgen. Savonarola dagegen war unbewaffnet und verließ sich auf sein rednerisches Können, auf sein Charisma. Doch das ist nur Fortuna und daher scheiterte Savonarola.
Vorbild für Machiavelli war – wie schon erwähnt - Cesare Borgia, ein brutaler und skrupelloser Machtmensch. Er hatte eigene Truppen und eroberte Ländereien für den Papst. Zwar starb Cesare Borgia
bereits mit 31 Jahren und scheiterte. Aber das verzeiht ihm Machiavelli, denn das war einfach nur äußeres Pech und nicht seine Schuld. Cesare Borgia hatte – nach Machiavelli – alles richtig
gemacht.
Il Príncipe erschien posthum im Jahr 1532 und erregte sehr bald den Hass der Rezipienten. Da es
in der Form der Fürstenspiegel verfasst wurde, Ratgeber die den Herrscher zu Moralität auffordern, zu Milde, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, war die darin propagierte Amoral zum reinen
Machterhalt, ein Affront, ja ist ein Affront bis heute.
So kam das Buch nicht nur auf den Index der katholischen Kirche, sondern es wurde auch verantwortlich gemacht für die Ermordung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht (1572). Daher mögen ihn
auch die Protestanten nicht.
Die meisten Rezipienten lehnen Machiavelli bis heute ab, sogar Friedrich der Große schrieb 1740 einen Anti Machiavelli. Il Príncipe wurde zum Inbegriff der amoralischen Haltung und galt als pure Anweisung zu Machtgewinn und Machterhalt.
Und doch gibt es auch den einen oder anderen Befürworter. Einige Rezipienten verspürten bei der Lektüre einen Reiz des Bösen. So etwas gibt es, das ist eher ein psychischer Affekt, aber kein Argument. Man kann mit diesem Reiz am Bösen Machiavelli sexy finden. Das macht den Text selbst nicht besser, kennzeichnet eher die Rezipienten.
Eine andere, durchaus verbreitetere Rezeption kommt von Lesern, die von der Schlechtigkeit der Menschen überzeugt sind und daher eine realpolitische Haltung als sinnvoller erachten als einen Idealismus. Das ist natürlich kein Argument für eigene Gewissenlosigkeit und abgesehen davon ist das ein Klischee-Denken. Menschen sind nicht nur schlecht, so wenig wie sie nur gut sind. Aber es ist ein Epochen-Merkmal gerade der Barock-Ära. Das kennen wir auch bei dem Leviathan von Thomas Hobbes. Der Mensch ist des Menschen Wolf (homo homini lupus) verweist auf ein problematisches Menschenbild. Aber Hobbes rechtfertigt damit seinen Absolutismus-Begriff.
Andere Leser wiederum sahen im Il Príncipe von Machiavelli gar keinen Ratgeber, sondern eine Analyse der politischen Realität. Machiavelli beschreibe daher nicht etwa, wie Politiker sein sollen,
sondern wie sie de facto sind. Daher sehen manche Machiavelli geradezu als einen Begründer politischer Empirie. Denn er deckt die Taktiken und Methoden der Politik auf, wäre sozusagen der Galilei
der Politikwissenschaft. Dagegen spricht schon, dass in dem Buch von Machiavelli direkte Ratschläge gegeben werden. Der ganze Aufbau deckt sich eigentlich nicht mit dieser Lesart.
Man könnte Il Príncipe auch als letztendlich moralisch begründet lesen. Denn der Machterhalt eines Fürsten verhindert nur Schlimmeres. Wie oben geschildert, erlebte Machiavelli am eigenen Leib die Unsicherheit wechselnder Machtverhältnisse. Daher wäre eine stabile Macht zu bevorzugen, auch um den Preis der Moral. Dennoch stellt sich auch hier die Frage, ob Raub, Mord und Gewissenlosigkeit zu einer Besserung führt oder ob hier ein Machtwechsel eher zu bevorzugen wäre.
Es gibt zuletzt noch Interpreten, die den Fürsten als eine Art Satire bezeichnen. Eine Art Antiratgeber. Dem widerspricht der ganze Text vollends. Denn Machiavelli bleibt stets ernst und meint es auch ernst mit seinen amoralischen Ratschlägen. Eine satirische Lesart lässt sich nicht intendieren, wäre tatsächlich nur von außen hineingetragen worden.
Dass es von Machiavelli ein deutlich umfangreicheres Hauptwerk gibt, wo es ihm weniger um die Fürsten geht, sondern die Republik im Vordergrund steht, bedeutet nicht, dass Machiavelli hier eine moralische Konnotation aufgreift. Vielmehr gilt eine Republik (in Discorsi) vorteilhaft, wenn soziale Gleichheit herrscht und das Gemeinwohl gegenüber dem Individuum durchzusetzen hat. Bei großer sozialer Ungleichheit wäre das Fürstentum wieder vorzuziehen, weil es sich einfach unter ungleichen Verhältnissen besser durchsetzen kann und sogar mit Gewalt Gleichheit (Gemeinwohl) durchsetzen könne, wozu dann eine Republik nicht fähig wäre.
Weil Machiavelli die Politik als reines Machtspiel begreift und keinerlei religiöse, moralische oder juristische Normen postuliert, ist die Macht seines Fürsten stets prekär: Es herrscht hier allein das Recht des Stärkeren bzw. Klügeren, so dass die staatliche Ordnung stets gefährdet ist. Späteren Absolutismus-Konzeptionen, die sich immer als Machiavelli-kritisch präsentieren, geht es daher – im Interesse der innerstaatlichen Friedenserhaltung bzw. der Vermeidung des Bürgerkriegs – um die Stabilisierung der fürstlichen Macht. Aus diesem Grund kommen bei Bodin und Hobbes religiöse bzw. juristische Argumente neu zur Geltung. Ab hier entsteht der aufgeklärte Absolutismus mit Staats- und Völkertheorien, die bis heute tief in der DNA des modernen Völkerrechts implementiert sind. Und eine Staatsrechtstheorie ex negativo ist keine Theorie, sondern lediglich ein Widerspruch. An Machiavelli kann man sich also bis heute die Zähne ausbeißen.
ENDE
Der letzte Beitrag für das Jahr 2023
Lehre von der Topik
Der Zweck dieser Abhandlung ist die Auffindung des Verfahrens, vermittelst dessen man in Bezug auf jeden aufgestellten Streitsatz Schlüsse aus glaubhaften Ansätzen zu Stande bringen kann, und vermittelst dessen, wenn man selbst einen Satz vertheidiget, nicht in Widersprüche sich verwickelt.
So beginnt das 1. Buch der Topik von Aristoteles, dem Erfinder dieser Lehre.
Begrifflich übersetzt sich Topos als der Ort, die Stelle, die Gegend, in der man sich befindet. Unter Betrachtung seiner Anwendung übersetzt sich der Begriff als Thema, als Gegenstand der Rede. Die Topik galt früh in der Rhetorik als eine Art Muster, teils als Erinnerungshilfe oder als Argumentationsschema. Im Laufe der Geschichte wurde der Begriff immer mehr erweitert und verschwamm in seiner Schärfe. Topos wurde zu einer Art Formel, einem Archetyp, Motivraster.
Zur Topik gehören auch Begrüßungsrituale, gemeinsam geteilte Weltbilder. Die Erwähnung der Hinrichtung der Rosenbergs in Sylvia Plaths Roman „Die Glasglocke“ zum Beispiel, eröffnet einen Topos, ebenso ihre Orientierungslosigkeit, der schwüle Sommer. Das alles sind topische Markierungen, die dadurch Motiv und Sound protendieren.
Der Urvater dieser Lehre war – wie erwähnt -– Aristoteles, ein Philosoph, der vor 2500 Jahren sein Unwesen trieb. Seine Topik ist, wie seine Logik grundlegend gewesen.
Und er fand eine ganze Menge topischer Muster.
Die Topik der Affekte (Affektlehre versus Emotion), der Gegensätze, der Unter-Übertreibung (adgravo, Satire), des „mehr oder minder“, Topos der Mehrdeutigkeit, Topos der zeitlichen Umstände und
so weiter. Da man immer wieder neue Topoi finden kann, ist das eine poetische Liste mit offenem Ausgang. So habe ich eine ganze Sammlung mit Geschichten über das U- und S-Bahnfahren. Ein Topos
des Untergrunds.
Im Barock wurde die Topik in mehrere große Bereiche unterteilt, einmal die Topoi der Rhetorik, der Dichtung und der Homiletik, in Topoi der Jurisprudenz, der Wissenschaft, der Musik, der Künste.
Zur Dichtung fand man Topoi wie den Furor poeticus, das Arkadien (Schäferidylle) den Poeta doctus (drei Stilebenen), das Fürsten- und Herrscherlob, Italien-Griechenland-Sehnsucht, Genie-Topos, Theatrum Mundi (Welttheater als Metapher für Eitelkeit und Nichtigkeit des Daseins, Lehre vom vierfachen Sinn), die Musenanrufung oder die Allegorie.
„Nur so kann geschrieben werden“ proklamierte Franz Kafka apodiktisch, nachdem ihm die Niederschrift seiner Erzählung
„Das Urteil“ in einer einzigen Nacht gelungen war: „nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele." Das wäre hier typisch für den Furor poeticus. Ein Beispiel für den Poeta doctus wäre dagegen Musil, der statt einer Nacht zwanzig Jahre an seinem Mann ohne Eigenschaften bastelte. Ein schönes Beispiel für den Topos des Genies haben wir im Theaterprolog von Goethes Faust vorliegen. Der Theaterdirektor ist ein nüchterner Betrachter der Realität und sein Anliegen ist (ähnlich dem Anliegen eines Verlegers), ein volles Haus. Darum sagt er:
Bedenkt, ihr habet weiches Holz zu spalten, und seht nur hin, für wen ihr schreibt! Wenn diese Langeweile treibt, kommt jener satt vom übertischten Mahle, und, was das allerschlimmste bleibt, gar mancher kommt vom Lesen der Journale. Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten, und Neugier nur beflügelt jeden Schritt; die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten und spielen ohne Gage mit.
Kurz, was uns Poeten so viel Schweiß kostet, wird vom Publikum wie ein Wurstbrot verputzt. Das wurmt den hohen Dichter und er antwortet genialisch:
Geh hin und such dir einen andern Knecht! Der Dichter sollte wohl das höchste
Recht, das Menschenrecht, das ihm Natur vergönnt, um deinetwillen freventlich verscherzen! Wodurch bewegt er alle Herzen? Wodurch besiegt er jedes Element? Ist es der Einklang nicht? der aus dem
Busen dringt, und in sein Herz die Welt zurücke schlingt. Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge, gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt, wenn aller Wesen unharmon’sche Menge Verdrießlich
durcheinander klingt; wer theilt die fließend immer gleiche Reihe belebend ab, daß sie sich rythmisch regt? Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe? Wo es in herrlichen Accorden schlägt, wer
läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen? Das Abendroth im ernsten Sinne glühn? Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüten auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art? Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?
Des Menschen Kraft im Dichter offenbart.
Das ist Sturm und Drang vom Feinsten. Und der Genie-Kult kommt ja aus dieser Epoche des Sturm und Drang.
Heute ist das entschieden komplexer. Umberto Eco hat sich in seinem linguistischen Hauptwerk Lector in fabula ausführlich mit Topic beschäftigt. Er schreibt: Da jede Proposition jede weitere Proposition enthält, könnte ein Text durch fortgesetzte Interpretation und semantische Hervorhebung jeden anderen Text hervorbringen (was dann innerhalb der intertextuellen Zirkulation geschieht: Die Geschichte der Literatur ist dafür der Beweis). Im weiteren Verlauf fragt sich Eco, wie ein Text, der potenziell so offen ist, eine Interpretation erschaffen kann, die gemäß seiner Strategie darin angelegt wurde.
Wenn wir uns die Erzählung „Ein Landarzt“ von Franz Kafka anschauen, dann ergibt sich der Topos des Unaussprechlichen. „Bilder, die in ihrer paradoxen Form das Unaussprechliche aussprachen, ohne es zu verraten“, definiert das Heinz Politzer in seiner Kafka-Monografie. Das ist ein alter rhetorischer Topos (imperitus sermone / unerfahrene Rede). Der Affekt ist Bescheidenheit und das Thema zu groß für den Erzähler. Ich war in großer Verlegenheit. Die Geschichte zeigt einen hilflosen Arzt, der nicht einmal über Pferde verfügt, die ihn zum leidenden Patienten bringen. Er gerät in die Abhängigkeit, er kann seinen Patienten auch nicht heilen. Es ist nur ein Arzt. Und kann er nicht heilen, tötet ihn. Er wird entkleidet und entkommt nackt. Parabelhaft, allegorischer Stil.
Ganz anders wäre das bei Stiller von Max Frisch zu betrachten. Hier haben wir im Grunde einen Auftragstopos. Ich bin nicht Stiller! Der Roman von Frisch ist ein Bericht, ein Protokoll. Auf seinem amerikanischen Pass steht der Name James Larkin White, doch man behauptet, er sei der verschollene Maler Anatol Ludwig Stiller. Der Justizroman aus dem Jahr 1954 verweist natürlich klar auf die Nachkriegssituation. Im Text selbst scheint das aber nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Was man Stiller eigentlich vorwirft, bleibt im Nebel. Der Auftrag für White ist es, zu beweisen, dass er nicht Stiller ist.
Ein weiterer Topos wäre der Begründungstopos. Wissen verpflichtet zur Mitteilung. Dieses Erlebnis kann ich nicht verschweigen. Das sind oft die Chroniken. Beispielsweise die Pest von Camus oder Michael Kohlhaas von Kleist.
An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. –
In dieser Eröffnung finden wir auch den Gegensatz als Topos, wir haben eine zeitliche und räumliche Zuordnung und zum Ende des Satzes eine einfache Ellipse in Form des Gedankenstrichs. Dann kommt eine Vorblende: Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr, für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Aber dann schweifte er in seiner Tugend der Rechtschaffenheit aus und das machte ihn zum Räuber und Mörder.
Und dann kommt die Erzählung: Er ritt einst, mit einer Koppel junger Pferde …, diese Pferde spielen ja dann im weiteren Verlauf ihre für Kohlhaas verhängnisvolle Rolle.
Ich hoffe, ich habe jetzt so einigermaßen klarmachen können, was es mit Topik auf sich hat. In einer heterogenen und offenen Gesellschaft wie der unseren können wir daher nahezu unendlich viele topische Räume entwickeln. In der neueren Philosophie (etwa seit den 1980er Jahren) wurde der Begriff des Spatial-Turn (spatium = Raum) eingeführt, der den geografischen Raum wieder als kulturelle Größe wahrnahm (Jörg Döring und Tristan Thielmann, Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften). Es stand somit nicht mehr nur die Zeit im Zentrum einer kulturellen Betrachtung, wie in den typischen Klassifikationen (das Barock-ZA, die Moderne, die Postmoderne, das Mittelalter), sondern soziale Beziehungen und das Handeln einzelner Menschen, die sich weniger zeitlich, vielmehr geografisch verorten und erkennen lassen. Das hat der Idee der Topik natürlich einen weiteren Schub verpasst. Die Topik der Ferne oder der Nähe, die Topik der Isolation oder der Gemeinschaft, die Topik der Natur oder der Industrie, Wald versus Häuser, Topik von innen und außen, Topik des Wohnens, Topik der Bewegung und vieles mehr.
So ist der Mensch ein Spiegelbild seines Eingefügt seins mitsamt seiner Artefakte in die Gesamtheit alles Seienden (Valena Tomás – Beziehungen). Die Gefahr einer Beliebigkeit des Topik-Begriffes liegt hier natürlich nahe. Dennoch ist eine Erweiterung gegenüber dem Erfinder Aristoteles sinnvoll und schafft uns mehr Spielraum in der Definition.
Ende der Beiträge des Jahres 2023
Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
www.pierremontagnard.com
Jaume Borrell 11, 2/2
08350 Arenys de Mar, Catalunya, Barcelona, España
Tel: ++34 688 357 418 (WhatsApp)
E-Mail: info@pierremontagnard.com