GEDANKEN AKROBATIK

 

Beiträge aus dem Jahr 2022

 

 

 

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  Beiträgen aus dem Jahr 2022

  

 

 

(Urheberrechte & Copyrights aller Beiträge © by Bernhard Horwatitsch)

 

 

 

 

 

 

Der letzte Beitrag 2022

 

 

Von guten Mächten still und treu ergeben

 

 

Streifschuss vom 28. Dezember 2022

Anlass: In wenigen Tagen feiert eine kleine Minderheit das kommende, neue Jahr.

 

Weihnachten ist vorbei, das alte Jahr noch nicht. Zwischen den Jahren nennt man diese Periode. Etwas Neues anzufangen lohnt sich grade gar nicht. Nächstes Wochenende starten alle durch. Alle? Nie und nimmer. 1,5 Milliarden Chinesen feiern das Jahr 2023 am 21. Januar. Das Jahr des Wasser-Hasen beginnt am 22. Januar 2023. Etwa 15 Millionen Juden feiern das Jahr  5784 am 17. September 2023. Fast zwei Milliarden Muslime feiern das Jahr 1445 am 19. Juli 2023. Und etwa 35 Millionen Kurden feiern am 21. März ihr neues Jahr. Und sicher habe ich noch einige vergessen. Bei den Mapuche-Indianern beginnt das neue Jahr am 24. Juni. Das sind eine gute halbe Million Menschen, die sich über Chile und Argentinien verteilen. Ach, ist der Westen nicht woke? Jedes Jahr am 31. Dezember feiert der arrogante woke Wessi total PC für alle einfach mit. Das ganze Gerede lässt sich also mit einem kurzen Federstrich dekonstruieren. Die Aymara feiern ihr Willkakuti, ihr Neujahrsfest am 21. Juni 5530, denn die Aymara fingen bereits bei der Wintersonnenwende 3507 vor Christus mit dem Zählen an. Das sind auch noch ein paar Millionen Bolivianer, Peruaner und Chilenen. Die Römer feierten Jahrhunderte lang das neue Jahr nach dem zehnten Monat, doch im Zuge der gracchischen Reformen unter Tiberius und Gracchus wurde diese Volkssitte 153 vor Christus auf den 01. Januar festgesetzt. Das ging dann wieder unter. Traditionell feierten die Christen ihren Jahreswechsel an Ostern. Es war Charlie, der König von Frankreich, genannt Karl IX.  (zuständig für das Massaker an Hugenotten in der sogenannten Bartholomäusnacht) der den Jahreswechsel vereinheitlichte und willkürlich auf den 01. Januar festsetzte.

 

Dadurch endete das Jahr 1566 (Edikt), das am 14. April begann, bereits nach acht Monaten am 31. Dezember. So wurden September, Oktober, November und Dezember, denen man im Namen noch die Zahlen 7, 8, 9 und zehn anmerkt, zu 9, 10, 11 und 12, was widersinnig ist. Zwei Milliarden Christen böllern am kommenden Wochenende und wissen nicht einmal warum. Klar, wer an einen Gott glaubt, der sich in einer Oblate reinkarniert hat, der ist natürlich total sicher, dass in ein paar Tagen für alle das neue Jahr beginnt.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der 21. Beitrag 2022

 

 

Von der komplizierten Normativität der Kunst

 

„Derjenige Geschmack ist gut, der mit den Regeln übereinkommt, die von der Vernunft, in einer Art von Sachen, all bereit festgesetzt worden.“ 

 

 

In meinen kreativen Schreibkursen habe ich inzwischen eine Art Mantra entwickelt. Immer wieder betone ich, dass das Koordinatensystem richtig oder falsch in der Kunst ohne Bedeutung ist. Manchmal erregt das den Widerstand der Teilnehmer, die sehr darauf gieren, von mir Regeln zu bekommen, die sie dann eben „regelmäßig“ anwenden könnten. Mein Kompromiss ist, dass ich ihnen solche Regeln als technische Optionen gebe. Natürlich hat die Kunst Regeln. Aber diese Regeln sind ihr gar nicht immanent. Die ersten Auftraggeber des Künstlers waren Priester und Könige. Tempel und Hof forderten keine Originalität und fürchteten jede Neuerung und Abweichung vom Herkömmlichen. Könige erhofften sich von der Kunst den Kult, um ihre Person zu stabilisieren, ihre Macht repräsentativ darzustellen. Die Priester benötigten Rituale, Totenkult und transzendente Gottesdarstellungen, die sich verstetigen und so die Macht der Priester stabilisierten. So wurden Regeln geschaffen und als unantastbar überliefert. Wer von diesen Regeln abwich, musste scheitern. Es war entweder Dilettantismus oder Blasphemie. Vielleicht hat es eine Kunst zu rein ästhetischen Zwecken nie gegeben. Vielleicht ist autonome Kunst als Selbstzweck nur ein romantischer Traum. Doch so wie individuelle Träume auf das seelische Binnenwerk des träumenden Individuums verweisen, verweist auch der kollektive Traum einer ästhetisch motivierten und als Selbstzweck entstehenden Kunst auf das seelische Binnenwerk einer Gesellschaft.  Die zunehmende Individualisierung in unseren gesellschaftlichen Strukturen hat diesen Traum insofern befeuert, als der einzelne Künstler sich stärker mit seinem Werk identifizierte, als es das bloße Handwerk zulässt. Die Säkularisierung und Abschaffung der Höfe fanden allerdings nur äußerlich statt. Heute spricht man vom freien Markt als Chimäre. Er existiert nicht, hat nie existiert. Waren die Tempel-Werkstätten traditionell die besseren Schulen, so etablierten sich die höfischen Manufakturen als Geschmacksdiktaturen. Der Markt, privater Luxus und allgemeiner Geschmack werden vom Kunstverständnis einer Elite präjudiziert. Das ist bis heute der Fall. Es gibt keine Tempel, keine Höfe mehr. Aber in den Köpfen existieren sie weiter. Zu lange gab es eben Tempel und Höfe. Eine autonome und freie Kunst, eine Kunst, die machen kann, was sie will, ist mindestens so erschreckend, wie eine Gesellschaft die machen darf was sie will. Die Angst vor der Freiheit ist daher nicht nur eine politische Angst, sondern auch eine ästhetische Angst. Selbst für Künstler ist es schwer auszuhalten und erzeugt immer eine innere Spannung. Die Sehnsucht nach einem Auftraggeber auf der einen Seite ist ein Versprechen für Sicherheit und Stabilität. Die Sehnsucht nach der eigenen Verwirklichung, tatsächlich nur das zu schaffen, was in einem aufgeht, ist ein Versprechen der Lust. Erlaubt ist, was gefällt? Erlaubt ist, was sich ziemt. Regeln geben uns daher Orientierung und Stabilität. Sie ohne Not zu brechen? Wozu? Doch sind die Regeln aufgestülpt, nicht wirklich gewollt, lediglich Vorgaben einer dominanten außer künstlerischen Sicht. Kunst lebt in diesem Spannungsverhältnis und wird so herausgefordert, Regelbrüche zu legalisieren. Das ist ein Widerspruch in sich. Denn so kann man keine Regel brechen, ohne eine neue zu schaffen. Eine der bedeutendsten Energien der Kunst bleibt auf der Strecke. Chaos wird mit Willkür verwechselt. Doch Chaos eröffnet uns neue Perspektiven.

 

Heutiges Kunstverständnis unterstellt der Kunst Originalität. Auch das erzeugt beim Künstler ein Spannungsverhältnis. Denn es ist paradox. Sobald diese Originalität ein Maß erreicht, von dem man erst sagen kann, es sei originell, könnte das niemand wissen. Denn das Kunstverständnis orientiert sich an Regeln. Originalität ist so schlicht unmöglich. Denn man kann nicht ein bisschen originell sein. Genau das aber fordert das moderne Kunstverständnis. Corporate Design ist nicht gleichbedeutend mit der Anagnorisis. Denn im Wiedererkennen geht es um eine peripatetische Wirkung. Corporate Design erzeugt keine Wirkung, sondern Gewöhnung. Das aristotelische Motiv der Wiedererkennung (Anagnorisis) erzeugt eine Katharsis. Und Katharsis löst und erlöst uns. Vielleicht ist die Kunst daher so begehrt gewesen bei den Priestern und wurde von der Religion so nachhaltig instrumentalisiert. Auch den Königen muss dieser Gedanke gefallen haben. Aber Priester und Könige haben ihn gar nicht verstanden. Die transzendente Wirkung der Katharsis ist keine Regel, die man durchführen kann. Was in uns Kunstkonsumenten Furcht, Mitleid, Angst, Freude, Erhabenheit, Erschütterung auslöst, ist nicht durch Regeln zu schaffen, sondern durch das genaue Gegenteil. Der Durchbruch einer Regung gelingt nicht ohne Widerstand. Eine weitere Paradoxie einer Kunst, die sich der Dominanz von Regeln ausgesetzt sieht, Regeln, die sie einhalten muss, um überhaupt ihren Weg aus der Werkstatt zum Bazar finden zu können, und andererseits auf dem Bazar nur dann für Aufsehen sorgt, wenn etwas mit dieser Kunst nicht mehr stimmt. Wer seine Stimme derart erhebt, kann ja wird für Verstimmung sorgen. Genau diese Spannung macht die Kunst aus, ja liegt schon in ihren prähistorischen Wurzeln, als erste Tiergestalten des Paläolithikums so echt erschienen und da waren, dass die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt verschwamm. Bis heute ist die Auseinandersetzung, diesen beinahe immer gleichen Inhalt in neue schockierende Formen zu bringen und zugleich dem Inhalt diese Form zu untermischen, die Herausforderung der Kunst. Weder Schönheit noch Selbstzweck bestimmen die Kunst als autonomes Gewahr Werdens des Seins, auch nicht Regelhaftigkeit und Stabilität im Ausdruck, sondern das Wunder des Lebens, das das immer Gleiche schafft und jedes Mal neu ist. Die ästhetische Dimension der Kunst ist nicht politisch. Sie ist im weitesten Sinne transzendent. Ihre spirituelle Kraft wird in der Natur am wirkungsvollsten immer wieder offenbar. Im Laufe der Jahrtausende schufen wir uns eine zweite Haut, eine zweite Natur, einen Habitus aus unserem Vermögen uns in die Natur zu mischen.

 

Dieses Alleinstellungsmerkmal des Menschen zeigt sich in seiner Wucht, die Formen und die Formeln des Lebens zu deuten und zu überformen. Die schöpferische Macht des Menschen erschafft Regeln, ja, aber immer auch ihr Gegenteil. Kunst ist daher nur sich selbst unterworfen und hat sich gegen die Herren aufzulehnen. Das haben die Priester und Könige bis heute nicht verstanden.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der 20. Beitrag 2022

 

 

 

Der post paläolithische Mensch im 21. Jahrhundert

 

Ein Schuss in die Steinzeit!

 

Anlass: Fundstelle

 

Wir wissen, dass sie (die Menschen im Paläolithikum) die Kunst von primitiven Jägern war, die auf einer unproduktiven, parasitischen Wirtschaftsstufe standen, ihre Lebensmittel sammelten oder erbeuteten, nicht erzeugten; allem Anschein nach in lockeren, kaum gegliederten Gesellschaftsformen, in kleinen isolieren Horden, im Stadium eines primitiven Individualismus lebten, vermutlich an keine Götter, kein Jenseits und kein Dasein nach dem Tode glaubten. Als ich das in der Kunstgeschichte von Arnold Hauser las, war ich für einen Moment, einen sogar etwas längeren Moment etwas verunsichert.  Denn gar nicht wenige Menschen leben auch heute so. Und zwar hier, in meiner Nachbarschaft. Wie viele Menschen produzieren tatsächlich nichts, oder nichts, von dem sie genauer wissen, was sie da täglich tun, um zu leben. Wenn ich in den Discounter gehe, sehe ich lockere, kaum gegliederte  Gesellschaftsformen. Menschen, die auf parasitische Weise ihre Lebensmittel einsammeln. Die weder an einen noch mehrere Götter glauben. Die das Jenseits vollständig dem Diesseits opferten und nachdem sie bezahlt haben (die ihnen kaum bewusste Komplexität des erwirtschafteten Geldes dokumentiert ihren primitiven Individualismus), kehren diese primitiven Jäger mit ihren gesammelten oder erbeuteten Lebensmitteln in ihre kleinen, isolierten Horden-Unterkünfte zurück. Würden nun – wie es ja manche fürchten – die großen Volkswirtschaften zusammenbrechen – ich weiß nicht, aber würde sich dieser heutige Mensch wirklich unterscheiden von den Menschen, die vor über 50.000 Jahren im Paläolithikum lebten? Wer – und jetzt mal ganz ehrlich – wer von uns kann ganz allein und ohne stromabhängige Technik einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, ein Auto, ein Haus bauen? Es gibt noch ein paar – die Glücklichen – Handwerker, die tatsächlich selbst was können. Aber sie sind – wie Kinder, selten. Ich? Ich kann fast nichts. Was sollte ich in einer Welt ohne Volkswirtschaft mit diesem Alphabet groß anfangen? Ich müsste Priester werden. Aber die Leute glauben nicht mehr an diesen Unfug. Der ganze Zauber unserer modernen Welt erscheint mir dann tatsächlich als reinster Popanz. Verstehen Sie, warum mich diese Zeilen von Herrn Hauser (die ja auch schon bald 100 Jahre alt sind) so irritierten? Was haben wir wirklich drauf, wer sind wir heute wirklich? Unseren primitiven Individualismus leben wir vor allem dadurch aus, dass wir Lebensmittel sammeln, erbeuten. Und ich denke, dass der Mensch vor 50.000 Jahren ebenso friedlich koexistierte, wie der moderne Konsummensch, solange eben genug Lebensmittel für alle zu sammeln, zu erbeuten sind. Und dass der Mensch im Paläolithikum bereits die impressionistische Kunst vorweggenommen hat, die dann mit dem Aufkommen der Jungsteinzeit und der Magie verloren ging, das lässt auch tief blicken. Hinzu kommt, dass ich den Eindruck habe, dass durch die Digitalisierung die – einige Jahrhunderte gewohnte – Stabilität der Begriffe durch die Unmittelbarkeit der sinnlichen Eindrücke ersetzt wurde. Wir haben uns also jetzt wieder zurückentwickelt; oder uns verbessert, wenn man dem Alten den Vorzug geben möchte, gegenüber dem Neuen. Der Dualismus des Sichtbaren und des Unsichtbaren wurde weg-digitalisiert. Heute ist alles sichtbar. Das Rationale wurde sensorisch. Unsere moderne Welt ist eine große, eindrucksvolle Höhle von Lascaux.

 

 

ENDE 

 

 

 

 

 

 

Der 19. Beitrag 2022

 

                                                       Affengeil

Streifschuss

vom 23. 09. 2022

 

Anlass: Stellt euch mal vor …

 

Affengeil

 

Heute bin ich aufgewacht und es war nichts, nichts in meinem Kopf. Diese Leere war gar nicht so schlimm, wie es klingt. Doch wenig brauchte es, um diese Leere aufzulösen. Der wohlige Zustand der Vorstellungslosigkeit kann nur kurzgehalten werden, nur Momente. Die Penetranz dieser Welt ist sofort da. Durchdringend, scharf, beißend. Jeden Morgen vergewaltigt mich diese Welt, zwingt mich teilzunehmen. Da ich diese Welt nicht anklagen kann, ohne mich dabei lächerlich zu machen, da ich diese Welt nicht loswerde, ohne gleichzeitig mich loszuwerden, bleibe ich ihr weiter ausgesetzt. Sie penetriert mich mit atmen müssen, trinken müssen, essen müssen, verdauen müssen, bewegen müssen, bis hin zum regelrechten arbeiten müssen. Zeugs einkaufen müssen, und um das ganz Zeugs zu verstauen, zwingt mich die Welt zum Wohnen müssen, in dieser Wohnung dann für Ordnung sorgen müssen und das immer und immer wieder.

 

Diese Welt macht meine Wohnung immer wieder schmutzig, das eingekaufte Zeugs verschwindet und ich muss wieder Zeugs einkaufen, dafür muss ich immer wieder arbeiten gehen, dazu muss ich essen, um Energie zu haben, trinken, atmen, abends erschöpft einschlafen, und am Morgen erwacht man und spürt ganz kurz die Vorstellungslosigkeit postsomnal verklebter Schlafaugen. Doch kaum löst sich der klebrige Schlaf von den Äuglein, kommt schon die Welt und penetriert mich. Die Welt ist ein geiler Affe. Die Zivilisation hat diesem nackten Affen ein paar stilvolle Kleider umgestülpt, ihn ein parfümiert und ein paar Manieren beigebracht. Aber die Welt bleibt ein geiler Affe. Und es fühlt sich nur geringfügig erträglicher an, täglich vergewaltigt und missbraucht zu werden, wenn der Täter nach Parfüm riecht und höflich danke sagt nach der widerwärtigen Tat.

 

Ja, zugegeben. Es ist hier nicht alles schlecht. Das wäre noch schöner. Aber unsere Sterblichkeit ist doch ein schlagender Beweis dafür, dass niemand es hier ewig aushält. Ich kenne jedenfalls niemanden, der schon ewig da ist. Und viele Hochbetagte sind dann auch froh, wenn es endlich vorbei ist und die Vorstellungslosigkeit nicht nur Momente dauert. Die Vorstellungslosigkeit ist ja auch der Zustand, mit dem wir auf die Welt kommen. Wir brauchen dann zwei bis drei Jahre, um das Vorstellen zu lernen. In dieser Zeit sind wir vollständig unselbständig und die Welt lässt uns erst mal in Ruhe. Doch kaum können wir uns was vorstellen, werden wir auch schon penetriert. Anfangs spielerisch, dann kommt die Schule und der Spaß wird mit Noten, Zucht und Ordnung eingeschränkt. Dann kommen die Zukunftsängste und schon arbeiten wir brav.

 

Nichts davon ist freiwillig. Alles ist der Vorstellung geschuldet. Und glaubt man an das ganze Kirchenzeugs, könnte das ja noch weiter gehen, nach dem Tod. Das will ich mir nicht vorstellen, nein. Gott sei Dank haben wir Religionsfreiheit. Denn irgendwo und irgendwann muss auch mal Schluss sein.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 18. Beitrag 2022

Geschmack ist auch mal abgeschmackt

 

Wasserwaage und Perpendikel

 

Die Meipolo-Rose – heißt es bei Wikipedia – gilt als Inbegriff der Schönheit. Doch schon Cicero meinte, dass die Schönheit zwei Seiten habe, die Anmut und die Würde. So entdeckte ich die Schönheit oft an unbekannten Orten und war manchmal mit meiner Rührung darüber ganz allein. Goethe suchte in Italien nach der Schönheit, die er in Weimar nicht fand. Offenbar war Charlotte von Stein daraufhin schon ein wenig gekränkt.

 

Der alte Neptunist Goethe nahm im Unterschied zu vielen anderen deutschen Dichtern und Denkern die zusätzlichen Strapazen auf sich, nach Sizilien zu reisen, das vielen damals nicht mehr zu Europa gehörte. Winkelmann zum Beispiel schickte nur seinen Schüler vor, um dieses einst von den Griechen besetzte Gebiet zu erkunden. Goethe also et arcadia ego. Doch er entdeckte dort nicht nur sein Arkadien. Vielmehr war er entsetzt, als er vor der barocken Villa Palagonia in Bagheria (15 km entfernt von Palermo) stand. 1715 erbaut von dem Dominikaner Napoli als Auftragsarbeit für den Fürsten von Palagonia, stapelten sich auf der schiefen Außenmauer Chimären, Wesen mit menschlichen Körpern und Hahnen- oder Pferdeköpfen, alles barock, windschief und manieriert gestaltet und zugleich aus witterungsanfälligem Sandstein. Heute gibt es viele dieser Figuren gar nicht mehr oder es fehlen die Köpfe.  Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, dass die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der andern Seite hinhängen, sodass das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird. So beschrieb es Goethe 30 Jahre später in seinem Buch über Italien. Alles, was gerade ist und symmetrisch, hält länger und gilt auch als schön. Das schiefe und krumme dagegen ist hässlich und geht leichter kaputt. Goethe verachtete Tod und Vergänglichkeit, weil es unangenehm und geschmacklos ist.  Ein Stück Faschismus steckt also schon drin im Klassizismus. Denn es waren nicht die alten Griechen, die schöne, schlanke Säulen bauten, sondern die faschistischen Römer. Die alten Säulen der Griechen waren wuchtig und erinnerten eher an einen Schweinestall, so wie die in den Sumpf gepfählten Säulen des Poseidon Tempels in Salerno (Paestum). Aber was soll’s. Goethe verwechselte auch die dorische Säule mit der corinthischen Säule. Von allen vier Seiten steigt man auf breiten Treppen hinan und gelangt jedes Mal in eine Vorhalle, die von sechs korinthischen Säulen gebildet wird, schrieb er über die Villa Almerico (La Rotonda). Tatsächlich sind es dorische Säulen. Schönheit ist relativ zum Betrachter und meist ruht sie auf einer ausgeprägten Sinnestäuschung. Hormone und Illusionen, Alkohol und Geilheit, Täuschungen und falsche Vorstellungen prägten und prägen unsere Schönheitsideale mehr als die Wahrheit. Die Wahrheit ist – nun sie ist – ja wo ist sie nur?

 

Schönheit lässt sich erkennen – ja sicher – aber sie ist nicht neutral. Und die Partei der Schönheit ist nicht immer die bessere Wahl. So manches Abgeschmackte entpuppt sich dann als Inbegriff von Ästhetik. In diesem Sinne besitze ich keine Wasserwaage und bin dennoch menschlich.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 17. Beitrag 2022

 

                    Krummes Holz

 

Streifschuss vom 01. Oktober 2022

 

Anlass:

sparrig verzweigt, stark gebogen, hakenförmig, Krüppelwuchs beziehungsweise Krüppelform.

 

Nein, ich bin kein Humanist. Nicht einmal Demokrat. Ich bin auch kein Satanist oder Monarchist. Ich habe in nun beinahe 60 Lebensjahren so meine Erfahrungen gesammelt und bin die restliche Lebenszeit damit beschäftigt, einen halbwegs passenden Meinungsschuh daraus zu basteln, irgendwas aus all dem zu zimmern, was halbwegs bewohnbar ist. Und nur weil ich hier in dieser Welt lebe, in ihr geboren und erzogen wurde, akzeptiere ich die gängige Anschauung, dass die Demokratie die bestmögliche Staatsform wäre. Und ich akzeptiere weitestgehend die Grundlagen des Humanismus, die Würde des Menschen zu achten, ein gewaltfreies Leben anzustreben, in der jeder seine Meinung frei äußern darf. Aber ich bin weder Demokrat noch Humanist. Ich bin nun alt (betagt sagt man heute), also grau und mit leicht überschrittenem Verfallsdatum naturgemäß angesäuert. Alte weiße Männer sehen die Welt wie sie ist, bzw. halten sie dafür, sind geneigter (krummer) geworden, die Welt für das zu halten, was sie ihrer Ansicht nach sei. Das ist typisch für einen Geist, der schon müde wird, aber diesen Zustand noch nicht mitbekommen hat, sich also für wacher hält, als er ist. Auch einer der berühmtesten Sätze der letzten Jahrhunderte (aus dem Jahr 1784) stammt von einem Mann in diesem Alter, von dem 1724 geborenen Immanuel Kant, der ihn in einer kleinen Nebenschrift mit dem Titel „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aufschrieb. Das ist ein Text mit neun längeren Sätzen – also kein allzu langer Text – in dem sich der preußische Sohn eines Sattlers mit der Vorstellung beschäftigt, dass die menschlichen Naturanlagen einem bestimmten Zweck dienten und entwickelt werden sollten. Nach Immanuel Kant eigne sich dazu die republikanische Staatsform am besten. Dazu bedarf es auch einer Geschichtswissenschaft, die sozusagen die Fortschritte dokumentiert, die der Mensch beim Ausbau seiner Naturanlagen mache.  Alle Kultur und Kunst, die schönste gesellschaftliche Ordnung, schreibt Kant im fünften Satz, sind Früchte der Ungeselligkeit. Durch unsere Disziplin haben wir der Natur diese Kunst ab gedrungen (entrissen). Doch ohne äußeren Zwang würden wir nach unserem Wohlgefallen in wilder Freiheit leben und folglich nicht lange überleben. Im sechsten Satz schreibt er: Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Das ist konsequent. Denn Disziplin bedarf der strengen Zucht. Doch Kant erkennt den Widerspruch sofort und folgert daraus die Schwierigkeit, dass das höchste Oberhaupt der Menschen einerseits gerecht sein sollte, aber dennoch ein Mensch ist. Das ist die schöne Idee der Monarchie, dass das Oberhaupt von Staat und Kirche durch seine Gott-Nähe der menschlichen Neigung zur Faulheit und wilder Freiheit entrückt ist. Aber Kant ist überzeugter Republikaner. Es besteht also ein eklatanter Widerspruch darin, dass  wir Menschen nicht ohne Führung leben können, aber der Anführer auch nur ein Mensch ist, der eigentlich geführt werden müsste. Diesen Widerspruch kann Kant nicht auflösen und daraus folgt jetzt dieser berühmte und gern zitierte Satz Kants:

 

   Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden.


Kant hat also keine sehr hohe Meinung vom einzelnen Menschen, vom Individuum. Immerhin sind wir – laut Kant 
  in der Lage von der Welt, in der wir leben, uns einen richtigen Begriff zu machen (durch die Wissenschaft).  Dies, etwas Erfahrenheit in der Welt und etwas guter Wille, reichen nach Kant wohl aus, um auf lange Sicht eine gerechte und friedfertige Gesellschaft zu schaffen. Dazu aber sollte sich der Mensch frei entfalten können, um seine Naturanlagen so weit als möglich ausbilden zu können.

 

Das sind nun aber schon eine ganze Menge Widersprüche, die Kant da aufgehäuft hat. Denn nicht nur ein gerechtes Oberhaupt ist unter den krummen Hölzern schwer zu finden, auch gute und vernünftige Lehrmeister sind ja Menschen, und folglich krumm.  Und wie lässt sich äußerer Zwang zur Entfaltung meiner Naturanlagen (Beispiel Schulpflicht) mit der freien Entfaltung vereinbaren?  Kant sieht das mit der Freiheit ganz pragmatisch. In der Metaphysik der Sitten schreibt er es so: Das Meer gehört dem Herrn der Küste, so weit von da die Kanonen reichen. Das offene Meer ist frei. Damit ist klar, dass die freie Entfaltung des Menschen unter der Vorstellung Kants nur dann  würdig sich entwickelt, wenn ihr äußerer Zwang entgegen- gesetzt wird. Aus dieser Dualität entsteht Disziplin, die dem äußeren Zwang begegnet. Das ist fein beobachtet und ein Wissen aus der Natur. Aber haben wir denn wirklich nichts Besseres verdient, als eine Gesellschaft nach dem Vorbild der Natur? Wäre das nicht sozialdarwinistisch? Wir sind damit schon nachweislich und trotz Kant viel weiter als Kant.

 

Auch wenn wir gerade wieder einmal Krieg spielen, soweit unsere Kanonen im Sinne Kants reichen und Existenzen damit verspielen: Wir sind besser als die Meinung alter weißer Männer über uns. Wir sind auch besser als meine Meinung über uns. Ich bin – ich wiederhole es gern – weder Demokrat noch Humanist, und doch hat mich diese Gesellschaft dazu gebracht, diese Werte zu schätzen und auch zu vertreten. Bin ich ein Heuchler? Nicht, wenn ich einsehe, wie uneinsichtig ich sein kann. Oder um Viktor Frankl zu zitieren: Man muss sich nicht alles von sich selbst gefallen lassen. Auch nicht die eigenen Meinungen  – möchte ich hinzufügen.


Natürlich sind die Herren die uns führen so krumm wie wir selbst. Das ist Kennzeichen der Demokratie, in der wir die Herren, die uns führen, selbst wählen. Nach der Wahl glauben diese krummen Herren manchmal, sie seien jetzt gerade gezimmert. Das ist das Problem mit der Macht. Ein Leitbild ist die Vorstellung von etwas Besserem. Manchmal verknüpfen wir unser Leitbild mit einem Porträt und orientieren uns an Einzelpersonen. Das macht uns und auch die Herren nicht gerade. Das Wunder besteht darin, dass jeder Einzelne eine Vorstellung über das Bessere hat und Begriffe dafür.

 

Und das sind Ideen. Wir sehen das gerade nicht in der Natur. Die Natur ist mindestens so krumm wie wir, die wir ja aus ihr stammen. Woher kommt denn nur diese Idee des Guten, Besseren, Geraden?  Frieden ist besser als Krieg, aber nicht jeder Frieden. Was ist gerecht? Was ist der Wert des Menschen? Kant sah die Ideen ganz pragmatisch als nützlich an. Sie können auch anders sein. Darin sind wir frei. Ideen gibt es viele. Doch nicht jede Idee ist nützlich, und nicht jede nützliche Idee ist auch zugleich das Bessere, Gerechtere, Geradere.

 

Mein ohnehin schon grauer Bart wurde beim Versuch Ordnung in diese Sachen zu bringen nur noch grauer. Und zugleich quält mich der Gedanke, dass diese Ordnung nicht notwendigerweise besser ist. Oder nützlicher. Zum Ende dieses Textes kann ich immerhin sagen, dass ich für einen Vormittag ungesellig war und mit Disziplin der ungebundenen, wilden Freiheit des Denkens ein wenig Wohlgefallen abgedrungen habe. Nicht mehr ganz so krüppelig, schief und krumm als zuvor. Aber da ich nur ein Mensch bin, noch lange nicht gerade.

 

 

ENDE 

 

 

 

 

 

Der 16. Beitrag 2022

 

 

Filmrolle oder Rollfilm?

Streifschuss:

vom 04. September 22

Anlass: Rolle ist etwas Walzen-förmiges, zu einer Walze (länglich, mit rundem Querschnitt) Zusammen-gerolltes oder – gewickeltes …

 

Filmrolle oder Rollfilm, das ist hier die Frage!

 

Solange ich nicht weiß, was das Ganze soll, wozu sich ereignet, was sich ereignet, kann ich auf diese Welt nur mit einer Art interessierten Neugier blicken, bin dieser Welt damit entfremdet. I would prefer not to, sage ich wie der berühmte Barthleby, allerdings mit einem Schmunzeln und mir meines Statistendaseins bewusst. Aber auch Statisten leiden unter Zahnschmerzen, bekommen Krebs oder eine Fettleber. Wozu denn das?

 

Der Mathematiker Pierre-Simon (Marquis de) Laplace (1749 bis 1827) entwickelte dazu das Gedankenexperiment eines Dämons, der einer Weltformel gleich alles weiß. Dieser Dämon kennt alle Bedingungen, alle Antezedenzien unseres jetzigen Zustandes. Dieser Determinismus-Dämon macht all mein Tun zu einem bloßen Geschehen. Alles, was ich tue oder was ein anderer tut, ist ein Stück eines größeren Ereignisverlaufes, den niemand vollzieht, der vielmehr geschieht. Und selbst wenn der Determinismus von Pierre-Simon nicht vollständig ist, weil unser epistemologisches Wissen nicht ausreicht, ist die Bedrohung meiner Autonomie enorm. Der schottische Philosoph David Hume (1711 bis 1776) war ein Zeitgenosse von Pierre-Simon. Hume prägte den Begriff des Kompatibilismus, eines weichen Determinismus, der geradezu Voraussetzung meiner Handlungen sei. Hume zitiert dazu den alten Philosophen Chrysippos von Soloi, der etwa 200 Jahre v. Chr. in Athen lebte. Der stellte sich einen schlafenden Hund vor, der von einem bösen Menschen an den Karren gespannt wird. Der Hund erwacht, weil der Karren anfängt sich zu bewegen. Nun entscheidet sich der Hund, einen Spaziergang machen. Er folgt dem ihn ziehenden Karren. Hume wollte darin eine hypothetische Freiheit erkannt haben. Ich sehe darin nur einen Hund, der sich etwas vormacht, was es leichter macht. Wir können – so mein Gedanke – eigentlich nichts machen, nur uns etwas vormachen. Ein dem Hund von Chrysippos ähnliches Bild erdachte sich der holländische Glasschleifer Baruch de Spinoza (1632 bis 1677). Ein fliegender Pfeil, der in der Luft sein Bewusstsein erlangt, glaubt nun, er flöge aus freien Stücken. Selbst wenn wir uns die Antezedenzien nur zufällig vorstellen, wir in einer Welt der Wahrscheinlichkeiten oder des Chaos leben, selbst dann sind wir nicht mehr als an einer Karre gebundene Hunde oder abgeschossene Pfeile. Es spielt keine Rolle, ob das zufällig geschah oder die Vorbedingungen von einer höheren Intelligenz geplant wurden. Denn so oder so sind meine und Ihre Handlungen damit ein großer Witz, nicht mehr als ein Schauspiel.

   „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, // Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht // Sein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehr // Vernommen wird; ein Märchen ist's, erzählt // Von einem Blöden, voller Klang und Wut, // Das nichts bedeutet.“ So Macbeth im 5. Akt, 5. Szene als Reaktion auf den Tod der Königin. Diesem Satz von Macbeth widerspricht eigentlich alles, was wir empfinden. Aber denken Sie an das Höhlengleichnis von Platon, die Welt als Schatten, als nur Vorgestelltes. Oder denken Sie an die Strophe 4.427 in Goethes Faust: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Erstaunlich und erschreckend dazu: eine ganz aktuelle Sichtweise der theoretischen Astrophysik. Und das ist jetzt kein Witz! Denn ich habe auch mit Physikern gesprochen. Alle sagten mir, dass diese Theorie große Aussicht hat, unser Universum zu erklären. Die Universität Wien gab 2015 folgende Pressemitteilung heraus: „Auf den ersten Blick scheint jeder Zweifel ausgeschlossen: Das Universum sieht für uns dreidimensional aus. Doch eine der fruchtbarsten Ideen der theoretischen Physik in den letzten beiden Jahrzehnten stellt genau das infrage: Das ‚holographische Prinzip‘ besagt, dass man für die Beschreibung unseres Universums möglicherweise eine Dimension weniger braucht, als es den Anschein hat. Was wir dreidimensional erleben, kann man auch als Abbild von zweidimensionalen Vorgängen auf einem riesigen kosmischen Horizont betrachten.“

 

Unter diesem Aspekt ist das Leben tatsächlich nur ein Schauspiel, eine Projektion von einem fernen Punkt des Universums. Wir sind nur Figuren auf einer Leinwand und die Götter lachen sich schlapp über uns, die wir uns für bedeutend halten. Die spannende Frage ist daher: Wie in aller Herrgotts Namen sind wir auf diese verfluchte Leinwand gekommen? Irgendwer muss uns doch gespielt haben! Solange das nicht geklärt ist …, spiele ich meine Rolle. Auf einem Rollfilm. Egal was ich mache. Das Skript ist bereits fertig. Und irgendwer war mal, der mich spielte so wie ich jetzt bin. I would prefer not to.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 15. Beitrag 2022

 

  Substanzlose Menschenspiele

 

Streifschuss vom 05. Juni 22

 

Anlass: Gedankenspiele

 

Wer an einer Gesellschaft, irgendeiner Gesellschaft überhaupt teilnehmen will, der muss sich dort quasi ins Spiel bringen. Dazu akzeptiert man die in der jeweiligen Gesellschaft aufgestellten Regeln. Lateinisch ludere bedeutet etwa tanzen. Illudere bedeutet umspielen, aber auch spotten. Der von Huizinga geprägte Begriff des Homo ludens bedeutet also im weitesten Sinne nicht nur den spielenden, sich frei an Regeln bindenden Menschen zum Zweck kollektiven Lustgewinns. Es bedeutet auch den auf Festlichkeiten und außergewöhnlichem gerichteten Blick (illucere bedeutet glänzen, und daraus entwickelte sich unser Wort Illusion). So ist der Homo ludens auch der spottendesich täuschende Mensch. Der spuckende Mensch, der beim Sprechen spuckende Mensch ist der erzählende Mensch, in dem genau all diese Attribute sich vereinen. Erzählen erzeugt eine glänzende Illusion. Es ist ein Spiel mit frei gestalteten Regeln, da die Zeichen die man zur Sprache verwendet, in freier Entscheidung festgelegt wurden und keinem Realitätsdruck mehr erliegen. Unsere Kulturen sind spielerische Täuschungen in frei erfundenen Regelwerken. Die Parallelität zwischen unseren Zeichen und der Welt ist aufgelöst, unser Verhalten und unsere Affekte sind nicht mehr eindeutig. Keine Erzählung ist unmittelbar, daher auch nicht wahr. Selbst wahrheitsgetreue Nacherzählungen von Ereignissen sind nicht wahr aufgrund ihres Mangels an Unmittelbarkeit (von Raum und Zeit). Man muss sie glauben, um an ihr Vergnügen zu haben. Und in diesem glauben müssen steckt viel mehr Ernst als Spiel, denn wer die frei erfundenen Regeln nicht glaubt, wird bestraft. In jeder spezifischen Kultur steckt dieses glauben müssen drin. Kultur als im weitesten Sinn frei gewählte Regelhaftigkeit unterscheidet dabei nicht zwischen dem, was ist und dem, was nicht ist. Der Unterschied zwischen einem echten Donner und einem Trommelwirbel wird verwischt. Heute leben die Menschen in weitestgehend zweideutigen Zeichensystemen ohne unmittelbaren Realitätsdruck. Man wird zwar von der Gesellschaft, in der man sich befindet, bestraft, wenn man sich nicht an Regeln hält, aber jeder weiß, dass diese Regeln keine Naturgesetze sind, sondern von Menschen erdacht und komponiert. Kultur erzeugt einen künstlichen Zwang dazu, an etwas glauben zu müssen, das weder wahr noch unwahr ist. Es ist nicht wahr, weil Kulturen im ontologischen Sinn nicht substanziell sind. Ihre Gründe sind immer selbst referenziell. Das Argument Kulturen dienten dem Überleben ist Unfug, sonst hätte ja nie ein Tier überlebt. Gleichzeitig sind Kulturen auch wahr, weil sie über Eigenschaften (Attribute) verfügen. Diese Attribute sind allerdings eine grandiose Selbsttäuschung. Sich an gesellschaftliche Spielregeln halten zu können, bedarf der Fähigkeit zur Unaufrichtigkeit, zumindest zur Mehrdeutigkeit. Tiere können das nicht oder nur sehr geringfügig. Tiere verfügen daher nicht über Kulturen, sondern über ein Repertoire an natürlichem Verhalten. Menschen jedoch verhalten sich in ihrem ganzen Leben meist unaufrichtig und / oder mehrdeutig. Unsere Affekte erleben wir daher als ontologisch indifferente Zustände. Wer sich den Regeln einer Gesellschaft widersetzt, empfindet zum Beispiel Zorn über Ungerechtigkeiten. Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit sind Eigenschaften unserer Kulturen. Träger der Eigenschaften ist der sich darüber täuschende Mensch. In der Natur finden wir weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit. Wenn der Trommelschlag die Illusion von Donner erschafft, so erschaffen die kulturellen Eigenschaften die Illusion von Substanz. Lange Zeit haben Mythen und Religionen den Anschein von Substanz vermittelt. Spinoza nannte Gott noch als wesentliche Substanz. Doch Mythen und Religionen sind bereits sich täuschende Erzählungen. Das Problem gottloser Gesellschaften  wie den westlich kapitalistischen Industrienationen – ist nicht ihre Gottlosigkeit (es gibt keinen Gott), sondern der Mangel an einer wesentlichen Substanz überhaupt die ihren Eigenschaften zugrunde liegt. Regeln wirken, wie lose Bündel, die man zu einem virtuellen Ganzen zusammenfügte und die man jederzeit auch anders anordnen könnte. Daraus erwuchs Geschichte. Die Geschichte ist ein Alptraum, aus dem ich zu erwachen hoffe, sagte einst James Joyce. Unser ganzes Leben ist eine Vermittlung. Die menschliche Geschichte ist nichts weiter als eine permanente Unruhe, in der wir vergeblich um Stabilität ringen. Jedes Naturereignis alarmiert uns über die Illusion unserer substanzlosen Existenz. Selbst einen Gewitterregen könnten wir daher als einen Appell betrachten, einen direkten Appell daran, dass wir nicht frei sind. Die Freiheit, die wir Menschen uns nehmen können, ist bestenfalls die Freiheit zur Illusion. Doch diese Spiele der Menschen zeichnen sich wie jedes Spiel durch einen Anfang und ein Ende aus. Nach dem Spiel ist dann immer vor dem Spiel. Um die Illusion von Freiheit aufrechtzuerhalten, müssen wir nicht nur an die frei gewählten Regeln glauben (so als wären sie substanziell), wir müssen sie auch immer wieder erneuern. Dazu bedarf es der Festlichkeit und des Außergewöhnlichen. Da die frei gewählten Regeln keinem Realitätsdruck unterliegen, würden sie beim geringsten Widerstand zusammenbrechen. Wozu sich an solche substanzlosen Regeln überhaupt halten? Um diesen frei gewählten Regeln also eine gewisse Stabilität zu ermöglichen, bedarf jedes gesellschaftliche, kulturelle Regelwerk der Spannung. Nur Konflikte erzeugen Spannung. Menschliche Gesellschaften und Kulturen sind in sich selbst darauf angelegt in Unsicherheiten zu schweben. Konflikte, Kriege, Streit, wie auch immer man es nennen mag, sind die substanziellsten Eigenschaften jeder Kultur, jeder Gesellschaft, deren Grundlage das Erzählen seiner eigenen Rechtfertigung ist, um die Spannung aufrechtzuerhalten und damit den Anschein von Substanz. So wird durch Festlichkeit (gerne nach einem gewonnenen Krieg) und Außergewöhnlichkeit (kulturelle Alleinstellungsmerkmale als Kriegsgrund) der gemeinsame Glaube an die erfundene Erzählung gestärkt. Eine globale Gesellschaft, in der alle Menschen auf dieser Erde miteinander kooperieren, wäre nur möglich, wenn wir außerirdische Gegner hätten. In gewisser Weise ist der gemeinsame Kampf gegen die Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlage so ein außerirdischer Gegner. Wir sind derart massiv in unseren eigenen Illusionen des Erzählens gefangen, dass wir diesen Mangel an Unmittelbarkeit gar nicht mehr wahrnehmen und nicht mitbekommen, dass wir gerade gegen uns selbst kämpfen. Dabei reicht – wie gesagt – ein Regenschauer, ein echter Donnerhall, eine Blume, die wächst, ohne gepflanzt worden zu sein, aus, um uns klar vor Augen zu führen, dass wir nur in Unmittelbarkeit existieren. Unsere Kulturen sind durch Vermittlung erzeugte Illusionen von einer Freiheit, die wir nicht haben.

  

Um den Bogen zum Anfang dieses Textes zu spannen: Wir verspielen unsere Existenz. Wofür das lateinische Wort perdere steht, das auch vernichten bedeutet, Zugrunderichten. Die substanzlosen (also grundlosen) Eigenschaften von Kulturen und Gesellschaften führen uns geradewegs in den Abgrund. Ich fürchte – ganz pessimistisch – dies ist der Preis für unsere Menschlichkeit.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der 14. Beitrag 2022

 

 

 Kontraktualismus-Theorien

 

Im Selbstverständnis der Moderne büßten die Legitimationsressourcen Tradition, Natur und Gott zunehmend an Kraft ein. Vertragstheorien muss man zwar von den Utopien abgrenzen. Aber aus mehreren Gründen sind sie mit der Utopie stark verwandt. Zumal sie auch die Utopien beeinflussen und die Utopien wiederum die Vertragstheorien. Im Grunde war schon Platons Staat mehr Vertragstheorie als Utopie.

 

Vertragstheorien sind Gedankenexperimente, mal mehr, mal weniger ex lettre. Die Grundidee einer Übereinkunft der Menschen in einer Gesellschaft war in der Stoa aufgekommen als Vorform des Naturrechts im Begriff der Civitas Humana. In der Neuzeit zerstörten die aufkommenden Wissenschaften und Entdeckungen (Kopernikus entdeckt, dass die Planeten um die Sonne kreisen, 100 Jahre später Kepler, dass sie das in Ellipsen tun, Columbus hatte Amerika entdeckt, in 50 Jahren (1628) wird William Harvey den Blutkreislauf entdecken, Buchdruck, 1590 erstes Mikroskop, hundert Jahre später entdeckt Leeuwenhoek die Bakterien usw.) alte Wissenstraditionen, das Bild von der Natur änderte sich zunehmend und die alten Schriften waren nicht mehr gültig. Vor diesem Hintergrund eröffnete sich die Frage, was der Mensch als Einzelner ist. Das Naturrecht kam auf.

 

Althus

Der calvinistische Rechtsgelehrte und Stadtsyndikus (Bürgermeister und Richter) von Emden Johannes Althusius lehrte Anfang des 17. Jahrhunderts, dass der Widerstand gegen ungerechte Herren nicht Aufruhr, sondern Wahrung eigener verletzter Rechte sei. Er benutzte dazu noch die alte epikureische Lehre vom Vertrag, den die Menschen freiwillig zur Gründung eines Staates eingegangen seien.  Bei Epikur war von einer Aufkündigung des Vertrags noch keine Rede. Doch bei Althus wird das möglich, wenn die Obrigkeit ihre Seite des Vertrags nicht erfüllt. Dieses Widerstandsrecht war etwas grundlegend Neues. Er führte das Subsidiaritätsprinzip ein, das bis heute die Sozialethik bestimmt und ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat (zum Beispiel Schutz der Wohnung, der Ehe etc.) legitimiert. Auch bei Bedürftigkeitsfragen ist bis heute dieses Prinzip vorrangig, wie zum Beispiel im Erforderlichkeit-Grundsatz des Betreuungsrechts.

 

Thomas Hobbes

 

Karl II über den Leviathan:  Ich habe noch nie ein Buch gelesen, das so viel Aufruhr, Verrat und Unfruchtbarkeit enthielt.

 

Mit dem englischen Frühaufklärer Thomas Hobbes und seiner berühmten Schrift „Leviathan“ tritt ein Denker auf, der geprägt ist von den Ereignissen des 30-Jährigen Krieges. Sein Pessimismus, dass der „Mensch des Menschen Wolf" (homo homini lupus) ist und frei gelassen gäbe es einen „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes). Im Naturzustand würde Anarchie, Gewalt und Gesetzlosigkeit vorrangig herrschen.  Nach Hobbes ist der Mensch von Natur aus nicht für die Gesellschaft geeignet. Er ist vielmehr eine Menge dissoziierte Individuen. Soziale Ordnung begründet er auf einen faktisch egoistischen Menschen und dessen Recht auf Selbsterhaltung.  Die Natur ist kein ethisch sinnvolles Ganzes mehr, es gibt keine ewige Ordnung, die man vorfindet und in die man sich hineinfindet, der Mensch erfindet sie neu aus seiner menschlichen Vernunft, die auf seine Interessen (Selbsterhalt) verweist. Hobbes schwankt mal darin, es seien einige böse Menschen, die den Maß volleren Menschen den Krieg aufzwängen und darin, alle Menschen seien so. Der Mensch strebt nicht einfach höhere Ziele an, sondern immer weitere Ziele, als sie je ein anderer erreicht hat. Ehrsucht und Eitelkeit sind sein vorrangiger Zweck. Kein summum bonum (wie bei Aristoteles), sondern ein maximum bonum. Man will immer mehr haben als andere. Das Leben ist ein Wettrennen und aufhören zu rennen hieße sterben. Hier schlägt bereits der Markt gegen die Agora durch. War der Mensch bei Aristoteles noch ein geselliges Tier, ein zoon politicon. So sucht er bei Hobbes die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen, sondern um sich kompetitiv in ihr zu messen und seinen Selbsterhalt zu fördern. Das gelingt ihm am besten, wenn er so viel Macht und Besitz aufhäuft wie nur möglich und diese Gier findet kein Ende, denn immer hat einer noch mehr.

 

Daher soll sich der Mensch freiwillig einer Autorität unterstellen. Nur durch Zucht und Zwang akzeptiert der Mensch einen Vertrag. Wenn alle Menschen sich einer Autorität unterstellen und damit alle Menschen vor der Autorität nichts sind, dann ist diese Generalität auch für die Autorität geltend, denn diese ist gegenüber allen Menschen gleichfalls nichts. So ein Vertrag hebelt das göttliche Allmacht-Prinzips des Absolutismus aus. Eine Zwangsgewalt basierend auf Klugheitsregeln angewandt als erfahrene Vernunft. So ist Frieden ein Mittel der Selbsterhaltung, Beschränkung ebenso. Es ist ein ethisches Tauschgeschäft: Tu du mir nichts, dann tue ich dir auch nichts. Dieser Vertrag muss von einer Autorität überwacht werden und diese braucht eine Rechtssicherheit. Thomas Hobbes stellte den Grundsatz auf: auctoritas non veritas facit legem. Dieser Grundsatz spielt bis in die heutige Auffassung von Rechtssicherheit hinein (Radbruch`sche Formel). Die Autorität von Hobbes ist mehr eine Abstraktion als ein einzelnes Individuum. Denn der Leviathan ist eine Metapher für die Unzerstörbarkeit des Staates. Dessen Macht führt zur Verbindlichkeit von Verträgen. Verträge auf Vertrauen sind unwirksam.

 

Jean Jacques Rousseau

 

Von ganz anderem Schlag war der Gesellschaftsvertrag von Rousseau. Er meinte: So wenig ein Mensch sich vertragsmäßig in die Sklaverei begeben kann, so wenig kann ein Volk sich einem Fürsten übergeben. Er spottete über die Engländer: Er glaubt frei zu sein, ist es aber nur im Moment der Wahlen; wie diese vorüber, „ist er Sklave, ist er nichts.“ Wie aber kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der Einzelne in der Gemeinschaft nicht das Geringste vom Ur-Recht seiner Freiheit opfert?

 

Für Rousseau war das die Entäußerung allen Besitzes an die Gemeinschaft. Damit besitzen alle alles. Auch die Entäußerung meiner Freiheit an die Gemeinschaft heißt reziprok, dass meine Freiheit nicht aufgegeben wird, sondern zum allgemeinen Willen. So zwingt der allgemeine Wille (volonté générale) uns frei zu sein.  Der Souverän hat nicht das Recht das Eigentum eines oder mehrerer Individuen anzutasten. Aber er hat jedes Recht, sich die Eigentümer aller anzueignen. Dieser Gemeinwille aller, ist bei Rousseau eine Rechtswirklichkeit, eine Art physische Wahrheit. Rousseau ist damit ein Vertreter einer identitären Demokratie und nicht einer repräsentativen Demokratie.  Dieser Gesellschaftsvertrag von Rousseau wurde von rechts und links gekapert. Er hat auch den Haken, dass es „Volk“ so nicht gibt. Daher liebte Rousseau eher die Kleinstaaterei. Eine Gemeinschaft mit einem allgemeinen Willen muss überschaubar sein. Der Idealstaat von Rousseau war daher subsidiär. Sich selbst versorgend, nicht im Sinne eines Marktes, sondern einer antiken Agora.

 

Fichte

 

Ist es doch die Not, welche am meisten würdelos ducken lässt. Der Arme ist gar nicht imstande, den Kopf so hochzutragen, wie der Stolz es verlangt. (Ernst Bloch)

Johann Gottlieb Fichte wurde am 19. Mai 1762 in Rammenau in der Oberlausitz geboren. Dank der Förderung durch den lokalen Grundherrn konnte er die äußerst ärmlichen Verhältnisse seines Elternhauses hinter sich lassen, eine solide Schulausbildung durchlaufen und ein Studium aufnehmen. Er schlug sich als Erzieher und Hauslehrer durch, bis er durch die Begegnung mit Kant zur Philosophie kam. Seine Schrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“, 1792 anonym erschienen, wurde zunächst Kant zugeschrieben, ehe dieser den Namen des wahren Autors preisgab.
Über Nacht wurde Fichte berühmt und erhielt eine Professur in Jena. Später lehrte der Philosoph an der neu gegründeten Berliner Universität und wurde ihr erster gewählter Rektor. Er starb 1814 in Berlin.

 

Anfänglich den Ideen der Französischen Revolution zugeneigt, entwickelte Fichte sich mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts mehr und mehr zu einer Art Praeceptor Germaniae, zu einem Vordenker der Deutschen, die er zu richtigen Deutschen erziehen wollte. In seinen „Reden an die deutsche Nation“ aus dem Jahr 1808, die nicht zuletzt unter dem Eindruck der Demütigung Preußens durch Napoleon entstanden, postuliert er eine besondere moralisch-kulturelle Sendung der Deutschen.

„Der deutsche Geist ist ein Adler, der mit Gewalt seinen gewichtigen Leib empor reißt und mit starkem und viel geübten Flügel viel Luft unter sich bringt, um sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauung ihn entzückt.“

Schon vorher zeigte Fichte nicht nur eine starke Neigung zu politischem Philosophieren, sondern auch zu Vorstellungen von politischer Autarkie, die mit seinen philosophischen Grundannahmen direkt zusammenhängen. Fichtes Philosophie gründet auf einem sich selbst setzenden Ich, das freilich kein empirisches, sondern ein transzendentales ist. Dieses ideale Ich „setzt“ die obersten Begriffe und Prinzipien der Vernunft, an welchen sich das Individuum theoretisch wie praktisch zu orientieren habe. Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) unterschied fünf Hauptepochen, in denen sich die Menschheit vom Unbewussten in die Bewusstheit wandelt. Am Anfang herrscht bloßer Vernunftinstinkt, auf den eine Epoche der Autorität folgt.  Danach folgt eine Epoche der Gleichgültigkeit und schließlich kommt die Epoche der Vernunftwissenschaft. Die abschließende, die Epoche der Vernunftkunst meint eine Logik, die Geschichte vom Vorstellungsobjekt trennt.  Ziel ist eine Übereinstimmung des Vorgestellten und Gedachten mit den Gesetzen des Denkens, nicht aber mit den Gegenständen der wirklichen Welt. Geschichte wird zur Utopie, bzw. Utopie zur Geschichte.


In seiner im Jahr 1800 publizierten Schrift „Der geschlossene Handelsstaat“ – eine sozialistische Utopie avant la lettre – entwirft er die Grundzüge eines Staates, der den strikten Maßstäben der Vernunft unterworfen ist, eines Vernunftstaates, der Gesetzgeber seiner selbst ist und das bedrohliche Chaos der zeitgenössischen Gesellschaft zu bändigen vermag. Denn in dieser Gesellschaft, so Fichte,

„…, entsteht ein endloser Krieg aller im handelnden Publikum gegen alle, als Krieg zwischen Käufern und Verkäufern. Und dieser Krieg wird heftiger, ungerechter und in seinen Folgen gefährlicher, je mehr die Welt sich bevölkert. Die Produktion und die Künste steigen und dadurch die in Umlauf kommende Ware an Menge und mit ihr das Bedürfnis aller sich vermehrt und vermannigfaltigt.“ 
Im geschlossenen Handelsstaat hingegen, dessen Regierung die eigene Bevölkerung gegen alle Einflüsse von außen abschirmt, herrschen das vernünftige Gleichmaß und eine strenge Gerechtigkeit, die jedem das Seine zuteilt. Was Fichte hier als erstrebenswerten sozialen Zustand ausmalt, ist aus heutiger Sicht eine Form der totalen Gesellschaft, die von einem bevormundenden und rundum fürsorglichen Staat in ein komfortables Zuchthaus verwandelt wird. Schon der Philosophiehistoriker Eduard Zeller urteilte:

   „Ein Idealismus wie der seine ist immer despotisch. Die Bedingungen der Wirklichkeit sind für ihn nicht vorhanden.“


Arnold Gehlen (1904-1976 - der konservative Gegenspieler von Adorno – er prägte den Begriff vom Menschen als „Mängelwesen“) ging 1935 gar so weit, den Fichteschen Nationalismus der „Reden“ und den Sozialismus des „Geschlossenen Handelsstaates“ im Begriff des National-Sozialismus kurzzuschließen. Das hat Fichte ohne Zweifel nicht verdient. Aber unverkennbar ist, wie fremd uns heute eine Gedankenwelt geworden ist, die einen extremen Idealismus mit politischen Zielsetzungen verbindet und diese womöglich noch mit dem Etikett „deutsch“ versieht.

 

Allerdings bedient sich die identitäre Bewegung der Ideen von Rousseau und Fichte. Damit verknüpft ist auch die aktuelle Globalisierungskritik. Bedenkt man das Ausmaß unseres internationalen Handels, sind Fichtes Worte schon auch – zieht man die seiner Zeit geschuldete Deutschtümelei ab – prophetisch.

 

Und ich würde für heutige Zeiten zumindest den Mut empfehlen, politische Ideen zu entwickeln jenseits politischer Sachzwänge und Wirklichkeits-hörigkeit. Wobei ich einkalkuliere, dass Ideen – erst einmal in der Welt – schwer zu töten sind. 

 

John Rawls

 

Rawls konstruiert einen hypothetischen Urzustand in Form einer fairen und gleichen Verhandlungssituation, die die Gerechtigkeitsprinzipien legitimieren soll. In dieser rein theoretischen Situation wird der Gesellschaftsvertrag geschlossen, der anders als in früheren Vertragstheorien nicht den Eintritt in eine bestimmte Gesellschaft regelt, sondern nur bestimmte Prinzipien festlegt, nach denen Gerechtigkeit realisiert werden kann. Annahmen:

freie und vernünftige Personen, die miteinander die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen wollen wie

Interessensharmonie: Zusammenarbeit ist wünschenswert und möglich

Interessenkonflikte: Wie werden die Früchte der Arbeit verteilt?,

rationale und auf Erfüllung der eigenen Interessen bedachte Menschen, die jedoch frei von Neid sind.

 

Der Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance)

 

Beschreibt einen Zustand der Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation, in dem sie zwar über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, an welcher Stelle dieser Ordnung sie sich später befinden werden, also unter einem „Schleier des Nichtwissens“ stehen.

 

Rawls geht davon aus, dass in diesem „Urzustand“ („original position“, fälschlicherweise oft als Naturzustand gedeutet) alle Menschen völlig gleich sind und deswegen keine aufeinander oder gegeneinander gerichteten Interessen haben. Ebenso werden sie aus demselben Grunde ihre Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien nicht verfälschen können und sich so für einen gerechten Gesellschaftsvertrag entscheiden.

Diese völlige Gleichheit erreicht Rawls, indem er die folgenden Faktoren des Menschen und des menschlichen Lebens als für Gerechtigkeit nicht relevant behandelt:

geistige, physische und soziale Eigenschaften wie Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit

Stellung innerhalb der Gesellschaft, sozialer Status,

materieller Besitz,

geistige und physische Fähigkeiten wie Intelligenz, Kraft,

besondere psychologische Neigungen wie Risikofreude, Optimismus,

Vorstellung vom Guten, Details des eigenen Lebensentwurfs.

Einrichtung der Gesellschaft etwa ökonomischer und politischer Art,

Niveau der Gesellschaft zum Beispiel hinsichtlich Zivilisationsfortschritt und Kultur.

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation.

Aus dieser abstrakten Gleichheit folgt die Unparteilichkeit der Menschen, aufgrund derer sie aus einer Reihe von möglichen Gerechtigkeitsprinzipien die Rawlsschen wählen sollten. Darin ist nun keine logische Beziehung zu sehen; es handelt sich um eine in der normativen Gerechtigkeitstheorie argumentativ dargelegte Behauptung.

 

Abschließend

 

Pacta sunt servanda, heißt es so schön. Doch wie wir im aktuellen Kriegsfall sehen (Februar 2022 griff Russland die Ukraine an, ohne Kriegserklärung und mit vielen Völkerrechtsverletzungen), Verträge sind nur so gut wie ihre Vertragspartner. Nur wo Macht ist, ist auch das Recht. In den traditionellen Legitimationsressourcen (Natur, Gott, Götter) lag die Macht in der Transzendenz unangreifbar und weit über dem Menschen. Diese Transzendenz hat die Aufklärung (sicher zu Recht) zerstört.

 

Heute erleben wir die Erosion ziviler Verträge (z. B. Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 in Washington), autokratische bis totalitäre Systeme beginnen sich immer mehr durchzusetzen.

Gleichzeitig erleben wir eine neue Transzendierung der Natur, sozusagen im Auge der Klima-Katastrophe.

Eine düstere Utopie wäre wohl ein grüner Faschismus. Ein Ende der Verträge ist in Sichtweite und unser Zeitdruck ist enorm.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 13. Beitrag 2022

 

 

                    Eusebés

 

 

Der griechische Historiker Theopompus lebte 400 vor Christus und stammt von der Insel Chios, aus der nördlichen Ägäis. Er dachte sich ein Land aus, das er Meropis nannte. Überliefert wurde uns diese Geschichte von einem Römer, der viele Jahrhunderte später in Palästina lebte. Theopompos schreibt da von zwei Städten in Meropis: Eusebes („Ort der Frommen“) und Machimos („Ort der Krieger“). Während die fromme Stadt in Überfluss lebe, Feldfrüchte bekäme, ohne dafür die Felder bestellen zu müssen, und ohne jede Krankheit glücklich und fromm lebe, werden in der kriegerischen Stadt die Menschen bereits mit Waffen geboren. Machimos führe ständig Krieg und habe alle Nachbarvölker unterworfen. Schließlich hätten zehn Millionen Krieger von Machimos das Weltmeer überquert, um die Hyperboreer (Nordvolk) anzugreifen. Als sie jedoch sahen, dass diese „die glücklichsten Menschen“ diesseits des Okeanos seien, hätten sie nur Verachtung für sie übriggehabt und es deswegen verschmäht, noch weiter vorzurücken. Eine schöne Utopie – finde ich. Zumal sich die Krieger hier überraschend einsichtig zeigten. Leider ist es eine Utopie.

 

Die Frommen und die Krieger! Heute in bewegten Kriegszeiten wirkt diese Gegenüberstellung plakativ und der Schluss daraus naiv. Doch mich beeindruckte es, dass es einen Ort der Frommen geben könnte, wo alle zufrieden sind und ihr Auskommen haben. Das ist es doch, was wir alle anstreben. Fromm und glücklich – nicht notwendig klug. So nehme ich zumindest an. Aber ich bin ein vergleichsweise naiver Mensch und war erschrocken, als ich einmal den Satz las: In der Amoralität des Meisters spiegelt sich die Arglosigkeit der Kreatur. Thomas Pynchon (Enden der Parabel) traf hier meinen Nerv, denn ich bin allzu oft arglos und nicht selten mahnt man mich an, ich solle so nicht sein. Würde ich wohl gerne. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. In diesem Sinne dachte ich mir eine besondere Quadratur aus, warum ich mich manchmal so ambivalent fühl. Meine eigene Klugheit konkurriert durchaus mit meiner Frömmigkeit. So kam ich auf vier Typen:

Es gibt gebildete Menschen. Und es gibt ungebildete Menschen. Wie das Wort schon intendiert, kann man Menschen ausbilden, indem man abbildet, was ist oder sein sollte. Dass sich so mancher gebildete Mensch auch vieles einbildet, sei einmal dahingestellt.

Dann gibt es kluge Menschen und dumme Menschen. Die Klugheit muss man dabei streng von der Weisheit abgrenzen. Denn kluge Menschen neigen dazu, sich schlau und gerissen in einzelnen Situationen zu verhalten, oft mit Tücke und sogar Heimtücke. Daher ist die Klugheit an den Charakter gebunden. Wir können nicht darüber bestimmen, wo und wie wir aufwachsen, uns nicht aussuchen, was uns prägt. Daher lässt sich Klugheit nicht einfach ausbilden. Kluge Menschen benötigen ein spezielles und durchaus kompliziertes gesellschaftliches Biotop, um wachsen zu können. Und selbst das beste und ausgeklügelste Gesellschaftssystem gibt keine Garantie ab, für dauerhafte Klugheit.


So gibt es durchaus sehr gebildete, aber ausnehmend dumme Menschen. Sie stolpern mit ihrem großen Wissen und mit Weisheiten vollgestopft bis an den Rand durch dieses Leben. Wie Don Quixote, der sich an Ritterromanen überlas, oder Hortensius (eine Figur aus Francion von Charles Sorel), oder der ebenso berühmte wie tragische Jupiter Teutsch (aus Grimmelshausens Simplicissimus), der sich an deutschen Heldengeschichten überlesen hat. Diese drei komischen Figuren sind die Prototypen mangelnder Lebensklugheit bei allzu großer Bildung. Sie sind gut, zu gut für diese Welt. 
Dagegen die gebildeten Klugen. Die gerissen und schlau ihr Allgemeinwissen benutzen, um voranzukommen, gezielt und effektiv dient ihre Bildung dem Erreichen eines konkreten Ziels.

 
Die ungebildeten Dummen gibt es auch. Sie sind jedoch in unserer so bildungseifrigen Gesellschaft rarer geworden. Selbst den Dümmsten unter uns bringt man noch etwas bei. Dabei bilden die gebildeten Klugen die Dummen aus, und ein Schelm, der Böses dabei denkt. Und sollten die gebildeten Dummen die Dummen ausbilden? Nun, da sieht jeder gleich den Pferdefuß.

Wie aber stellen wir uns die ungebildeten Klugen vor? Denn sie werden nicht weniger. Schlau, heimtückisch und gerissen entziehen sie sich den Versuchen ihnen etwas beizubringen. Dank ihrer Klugheit können sie der Bildung ein Schnippchen schlagen und schlagen sich durch die Welt mit Bravour. Nicht selten findet man gerade unter den ungebildeten Klugen die reichsten Menschen. Bildung hat nämlich den Nachteil, die eigene Bösartigkeit zu bremsen durch Reflexion und Erkenntnis. Mit solchen Hemmnissen muss sich der ungebildete Kluge nicht herumärgern. Er (oder sie) kann nach Herzenslust seiner Klugheit frönen. Über die Dummen lachen sie allemal. Während die gebildeten Dummen gerade an den ungebildeten Klugen im Herzen verzweifeln und allmählich verdüstern, kooperieren die gebildeten Klugen mit den ungebildeten Klugen. Der gebildete Dumme hat leider im ungebildeten Dummen keinen Verbündeten.

 

Mit der Zeit – und das möge als Resümee dieser Quadratur dienen – bildet der gebildete Dumme eine ganz spezielle Klugheit aus. Als gebildeter Dummer lernt man von den ungebildeten Klugen vor allem etwas über die Schlechtigkeit des Menschen an sich. Das ist aber bedauerlicherweise ein Fehlurteil und belegt die Dummheit des gebildeten Dummen, der eben immer nur sich bildet, ohne klug zu werden.

 

Es ist fatal und traurig und hier – darauf verweist der Titel dieses streifenden Schusses – trotzdem fromm zu bleiben, ist für die Dummen so schwer als für die Klugen, gleich ob sie gebildet oder ungebildet sind. Verständig, gerecht, fromm und tapfer sind eo ipso die Wenigsten, das dürfte nach diesen Ausführungen keinen mehr sonderlich wundern.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der zwölfte Beitrag 2022

 

                 Demokratie für eine Woche

 

 

Erster Tag

Montag

In den Jahren 508/07 bis 322 v. Chr. herrschte in Athen die erste bekannte direkte Demokratie, mit einer Bürgerbeteiligung. Jeder Bürger (ausgenommen Frauen, Sklaven und Fremdarbeiter) konnte an der Volksversammlung sowie an den Gerichtsversammlungen teilnehmen, jeder Bürger war befugt, ein Amt zu bekleiden. Diese Demokratie in Athen bildete sich eher langsam, Schritt für Schritt, im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. heraus. Ein erster wichtiger Schritt waren die Reformen von Solon im Jahre 594 v. Chr. Solon (und wenige Jahrzehnte später Kleisthenes von Athen mit seiner Phylen Ordnung, in der jeder Vollbürger auch einem Stamm zugerechnet wurde) brach die Macht des Adels und schuf die Grundlagen für die politische Beteiligung breiterer Volksschichten, mit der sogenannten Isonomie (Gleichheit aller Vollbürger). Der berühmte Staats-mann und Lyriker Solon gehört zu den sieben Weisen Griechenlands, die Platon in seinem Protagoras-Dialog aufzählt. Solon lebte vor der Gründung des attischen Seebundes und der daraus erwachsenen attischen Demokratie Athens (Vorbild unserer Demokratie), die sich später im peloponnesischen Krieg mit dem Bund der Spartaner bekriegten. Solon korrigierte die großen sozialen Missstände in Athen, indem er die verarmten Bauern von ihren Hypotheken befreite und die Schuldknechtschaft abschaffte. Damit wurde das alte, aristokratische Prinzip der auf Herkunft und Abstammung basierenden gesellschaftlichen Stellung durchbrochen und erweiterte die Beteiligungsrechte für die unteren Schichten des Volkes.

 

Solons bevorzugte Textform war die Elegie. Somit geht der demokratischen Verfassung ein Klagelied voraus, eine Krise. Das kann man auf Europas demokratische Verfasstheit gut anwenden. Der Ruf „Nie mehr wieder“ ist ein Klagelied auf die verheerenden Weltkriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn die Gemeinschaft (die Polis) in Not gerät, bedarf sie der Eunomie, der guten Gesetze. Eunomia ist eine der Horen, jene Göttinnen, die über das geregelte Leben wachen. Dike (die Gerechtigkeit) und Eirena (der Frieden) sind Schwestern von Eunomia. Solon dichtete über Eunomia „Raues glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, […] sie endet die Werke der Zwietracht, endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie alles unter den Menschen passend und vernünftig.“

 

 

 

Zweiter Tag

 

Dienstag

 

Ein Epigone Solons ist Aristoteles. Er lebte 200 Jahre später als mazedonischer Flüchtling ohne Bürgerstatus in Athen.  Nach seiner Staatsformenlehre (siehe LW 57 „Von Platon zu Trump“ Timotheus Schneidegger) steht der Begriff der Demokratie für eine Herrschaftsform, die dem Eigennutz dient. Sie steht im Widerspruch zur Politie, in der die armen und die reichen Bürger zu gleichen Teilen herrschen für das Wohl der Gemeinschaft. Vom Ideal der Politie sind Frauen, Sklaven, Besitzlose und Fremde weiterhin ausgeschlossen. Würden auch Frauen, Sklaven, Besitzlose und Fremde mit herrschen, folgte daraus die schlimmste Form der Demokratie: „Wo die Gesetze nicht entscheiden, da gibt es die Volksführer (griech. Demagogen). Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen Einzelnen zusammengesetzter. […] Ein solches alleinherrschendes Volk sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, und wird despotisch, wo denn die Schmeichler in Ehren stehen, und so entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der Tyrannis. Die extreme Demokratie hat eine Tendenz zur Anomie.

 

Fazit: Demokratie ist eine Abweichung vom aristotelischen Ideal.

 

 

 

Dritter Tag

 

Mittwoch

 

Die Gleichheit der Menschen ist eine These aus dem 18. Jahrhundert und es ist eine These, die ich für falsch halte“ sagte einst Lord Balfour bei den Friedensverhandlungen 1918/19 in Versailles. Aber die Zeiten sind vorbei, wo man Asiaten als Schlitzaugen bezeichnen durfte, die Zeiten sind vorbei, wo man Afroamerikaner als Neger bezeichnen konnte. Wer dies trotzdem macht, ist schlicht zurückgeblieben. Aber ist der Mensch wirklich gleich? Natürlich nicht. Der Unterschied geht allerdings nicht durch die Rassen und auch nicht durch die Nationen, er geht durch die Fähigkeiten, durch die Persönlichkeit, durch die Lebensräume und nicht zuletzt durch die Zufälle. Nach dem deutschen Grundgesetz Artikel 3 verpflichtet sich der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

 

In dem Spielfilm Lincoln von Steven Spielberg muss Präsident Abraham Lincoln eine Entscheidung treffen, um den amerikanischen Bürgerkrieg endlich zu beenden. Die Emanzipationsproklamation zum Ende der Sklaverei würde von den Südstaaten niemals akzeptiert werden, wenn darin stünde: Alle Menschen sind gleich. Im 13. Verfassungszusatz der Verfassung der amerikanischen Staaten von Amerika heißt es daher: Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich. Nicht umsonst hat die Göttin Justitia in ihrer ikonografischen Darstellung die Augen verbunden.


Justitia urteilt ohne Ansehen der Person. Justitia schützt die Menschen vor den Folgen unfreiwilliger Nachteile (Sklaverei, Besitzlosigkeit und Fremdheit) und der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung. Das ist das heutige Ideal. Wir sind gleichberechtigt, aber noch lange nicht in gleichem Maße gleichgestellt. Manchmal gibt es vom menschlichen Richter einen Prominenten-Bonus, manchmal einen Prominenten-Malus.

 

Manchmal ist der Richter gut gelaunt und gibt einen Idioten-Bonus. Vor dem Mittagsmahl in der Kantine ist der Richter hungrig, schlecht gelaunt und gibt dann einen Idioten-Malus. Wenn der Beklagte den Blick nicht halten kann und unsicher wirkt, schwitzt, stottert, ist der menschliche Richter geneigter, ihn für schuldig zu halten. Der menschliche Richter ist fehlbar. In all dem soll der Richter nicht willkürlich sein, sondern geleitet vom Gesetz. Wer nun meint: Alle Menschen sind gleich, irrt sich auf ontologischer Basis. Gleichheit ist ein positives Recht!

 

 

 

Vierter Tag

 

Donnerstag

 

 

Die Dynamik der kapitalistischen Erfolgsgeschichte überrollt uns, heißt es. Wir verlieren die Orientierung, sind überfordert von all den Entwicklungen, an denen wir hautnah durch die modernen Kommunikationstechnologien und medialen Verbreitungsmöglich-keiten teilnehmen können. Wir suchen also – wie das orientierungslose Menschen so machen – nach Fixpunkten. Wir finden diese Fixpunkte in den tieferen, älteren Schichten unseres Bewusstseins. Die alte Zeit wird dann die gute alte Zeit, nicht weil sie besser war als die heutige Zeit, sondern weil sie uns in der Rückschau übersichtlicher erscheint. Der Psychoanalytiker nennt so etwas eine Regression. Wenn ich meine Libido nicht genital befriedigen kann (so Sigmund Freud) versuche ich eben meine Libido mit älteren prägenitalen Formen anal oder oral zu befriedigen. Es wäre sicher zu einfach, würde man Politiker der AFD oder alte Männer von PEGIDA als „anal fixiert“ beschreiben. Der Zerfall unserer Politie ist kein ödipaler Konflikt.

 

Fazit: wäre jetzt früher, wäre es genauso übersichtlich oder unübersichtlich wie heute.  Sklaven, Besitzlose und Fremde gab es immer schon.

 

 

 

Fünfter Tag

 

Freitag

 

Die aktuelle Zeit ist nicht nur überfordernd, sondern auch fördernd. Wer sich dazu entscheidet, findet heute mehr Orien-tierungsmöglichkeiten als früher. Es findet kein Regress statt. Eher ist es eine Art Echo zu dem Klagelied der Geburt der Demokratie. Was augenblicklich in den nach westlichem Muster gestalteten Demokratien geschieht, ist nur mit Ironie zu verstehen. Es ist eine Klage darüber, dass wir nichts zu klagen haben (ganz im Gegensatz zu den Fremden und Besitzlosen, die Hilfe suchend zu uns kommen). Es geht uns gut oder zumindest besser als früher. In den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war die Stadt Wien von der „sozialen Frage“ beherrscht. Der autoritäre Bürgermeister Karl Luger nahm sich dieser Frage an und wurde aufgrund seiner sozialen Neuerungen (Wasser, Elektrizität und Wohnungsbau) zum Vorbild von Adolf Hitler. Es war sicher eine spannende, aber keine besonders schöne Epoche. Wien war eine explodierende Stadt. Die Mischung aus Kaiser und Industrie, aus Kostüm und Stahl, bekommt man nicht so leicht in den Kopf. Im 19. Jahrhundert versiebenfachte sich die Bevölkerungszahl Wiens. Um 1900 lebten zwei Millionen Menschen in Wien. Damit war Wien die sechstgrößte Stadt der Welt. Nur gab es kaum Wohnraum. 1910 gab es 400.000 Wohnungen für zwei Millionen Menschen. Das waren aber oft nur Ein- bis Zweizimmerwohnungen. Und nur 5 Prozent der Behausungen in Wien hatten fließendes Wasser und eine Toilette. Dagegen sind die Wohnungsprobleme im 21. Jahrhundert bescheiden. In der Intention ähneln sie sich. Die „soziale Frage“ ist auch heute ein Schlagwort. 

 

 

Sechster Tag

 

Samstag

 

Unsere aktuelle demokratische Verfassung ist eine schwache Politie mit einer Tendenz zur post-libertären Repräsentation aller Menschen im Sinne einer Gesellschaft des Spektakels: Dort personalisiert sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar, hier lässt sich der Star des Konsums als Pseudogewalt über das Erleben durch Plebiszit akklamieren. Aber diese Aktivitäten des Stars sind ebenso wenig verschiedenartig wie wirklich global  (La société du Spectacl Guy-Ernest Debord S. 49)

 

Die gewählten Volksvertreter sind laut Grundgesetz (Artikel 38 GG) nur ihrem Gewissen verpflichtet und an keine Aufträge oder Weisungen gebunden und dienen dem Gemeinwohl. Sie sind – wie es im GG heißt – Vertreter des ganzen Volkes. Aber die Exekutive dominiert die Legislative zugunsten eigennütziger oligarchischer Strukturen.

 

Die neuen Rechten sprechen gerne vom Rechtsstaat und propagieren den Slogan: Wir sind das Volk und Ausländer raus. Ganz im Sinne von Aristoteles analysieren sie einen Zerfall der Polis.  Die Politagenten der etablierten Parteien unserer Politie wirken überfordert und können sich nicht ausreichend abgrenzen. So schreibt Ludwig Hartmann (Spitzenkandidat der Grünen bei der Wahl in Bayern) auf seiner Internetseite: „Was fehlt ist eine Schule, in der alle Kinder gleiche Chancen haben, ihre Träume und Wünsche zu leben. Egal, ob die Mama Flüchtling oder Zahnärztin ist.“ So kommt in Hartmanns Vorstellung ein flüchtender Zahnarzt nicht vor.  Die Unterscheidung zwischen Volk und Flüchtling ist längst gesellschaftlicher Konsens. Gestritten wird über die soziale Teilhaber-Berechtigung unterschiedlicher Gruppen. Dieser Streit tendiert zum Chaos, weil der Kapitalismus unsere Gesellschaft atomisiert. Die Diversität unserer Gesellschaft macht den Begriff „Volk“ zu einem Anachronismus.  Gesellschaftliche Gruppen sind leicht zerfall bare kurzfristige Bündnisse, die im Sinne des Spektakels unorganisiertes Stegreif-Theater aufführen, mit der Tendenz zur Verrohung.

 

 

Siebter Tag

 

Sonntag

 

Als ein weiteres Gesellschaftsspektakel kann man auch die vor ein paar Jahren (2018) von ZEIT online und weiteren Medienpartner initiierte Veranstaltung „Deutschland spricht“ betrachten. Ende September 2018 eröffnete der Bundespräsident Frank Walter Steinmeyer in Berlin die Aktion. Die Aktion „Deutschland spricht" hat mehr als 4000 Gesprächspaare zusammengebracht, die verschieden ticken, aber miteinander reden, heißt es in SZ online vom 23. September 18.


Dieses Spektakel wendet demokratische Grundrechte an. Die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Wir haben diese Rechte bereits. „Deutschland spricht“ präsentiert sich als Klinik für solche Menschen, die damit noch nicht umgehen können. Doch wahrscheinlich ist, dass sich in diese Klinik ganz viele gesunde Menschen eingeschlichen haben. Denn den politisch Zurückgebliebenen fehlt meist die Krankheitseinsicht. Denn diejenigen, die das wirklich angeht, wissen oft nicht einmal, dass es sie etwas angeht.

 

Die Presse feiert sich selbst mit dieser Aktion als positives Engagement für die Demokratie. Meinungsfreiheit ist aber nicht selbst die Demokratie. Versammlungsfreiheit ebenso wenig. Wenn ich von München nach Hamburg umziehe, nutze ich das Grundrecht auf Freizügigkeit. Aber niemand käme auf die Idee, dass mein Umzug ein politisches Engagement für die Demokratie sei.

 

Fazit: Die Idee der Demokratie muss nicht neu erfunden werden, sondern nur richtig angewandt.

 

 

 

Mitternacht Sonntag auf Montag 0.00h

 

Vor kurzem saß ich im Klassenzimmer, ich ging gerade die Anwesenheitsliste durch, als die Bildungsreferentin an der Tür stand, mich angrinste und fragte: „Vermisst du nichts?“
   „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß und schüttelte den Kopf. Aber der Auftritt der Referentin war so beeindruckend, dass ich nach einer kurzen Bedenkzeit doch an meine Gesäßtasche griff, vermutlich weil man meist an seine Gesäßtasche greift, wenn man etwas vermisst. Und tatsächlich! Ich hatte meine Geldbörse verloren. Ich glaube, so wie mir mit der Geldbörse, geht es manchen Menschen mit der Idee der Demokratie. Ihnen schießt die Hitze ins 
Gesicht, wenn ihnen jemand darüber die Augen öffnet. Wie aber sollten wir wissen, dass es die Idee der Demokratie gibt, wenn wir davon noch nie gehört haben? Wir können ja nicht wissen, was wir nicht wissen (so wie ich von meiner Geldbörse). Allzu schnell könnte man deshalb falsch schlussfolgern, dass Anti-Demokraten immer noch demokratischer eingestellt sind, als Menschen, die von Demokratie nichts wissen, denn sie glauben ja zu wissen, was sie ablehnen. In der Tat kann es so sein, dass man Demokratie ablehnt. Oder, dass man von Demokratie nichts weiß. Es könnte aber auch sein, dass man ein falsches Bild von Demokratie hat (etwa, wenn man die Demokratie mit einer Geldbörse verwechselt und die Geldbörse vielleicht auch noch mit einem Schlagstock).

 

Hätte ich meine Geldbörse für etwas anderes gehalten als das, was sie tatsächlich ist, eben für einen Schlagstock, hätte mich die Bildungsreferentin wahrscheinlich für „unheilbar krank" eingestuft (auch wenn mir aufgefallen wäre, dass mir mein Schlagstock verloren gegangen ist). Womöglich hätte sie mich in eine geschlossene Anstalt einliefern lassen, denn es ist die Geldbörse gewesen, die mir abhandengekommen war und nicht der Schlagstock. 

 

 

Nachts

 

Traum vom Volk (kein Traumvolk)

 

Jetzt, wenige Jahre nach dem letzten Systemwechsel, war ich eingeladen vor einer Schulklasse zu sprechen. Ich war der letzte Überlebende der Demokratie. Ich erzählte den Schulkindern, wie das damals war, als alle Menschen ihre eigene Meinung hatten. Dieses Durcheinander der Presse! Diese Journalisten schrieben doch tatsächlich, was sie wollten. Und man konnte sich sogar aussuchen, was man liest. All diese privaten Fernsehkanäle und Internetseiten, zwischen denen man wählen musste. Ja, liebe Kinder, die armen Menschen hatten die Wahl! Wie schrecklich und wie anstrengend.

 

Es gab viele unterschiedliche Parteien. Ha, da lachen wir heute drüber und halten diese Zeit für völlig verrückt. Damals, ich war dabei, liebe Kinder – glaubten die Menschen, der Einzelne hätte Rechte. Rechte! Aber das Volk hat schließlich doch noch gesiegt. Wir haben damals selbst schauen müssen, was wir arbeiten wollen oder in welche Schule wir gehen. Wir mussten selbst aussuchen, was wir studierten. Diese Qualen waren fast unerträglich. Sogar unseren Wohnraum suchten wir selbst. Da lacht Ihr, liebe Kinder, denn heute entscheidet darüber das Volkskomitee der SHV (für stahlhartes Volk). Die Menschen waren so verrückt und richteten Petitionen an die Regierung. Man wollte Minderheiten schützen. Man hat Fremde aufgenommen und auf nationalem Volksboden verteilt. Ja, es gab Volksfeinde, die das gut fanden. Aber das Volk hat gesiegt. Fürchtet euch nicht, liebe Kinder. Für euch wird gesorgt und Ihr müsst nicht selbst denken. Das Volkskomitee schützt euch vor dem bösen Wolf. Das Volkskomitee denkt und lenkt. Damals aber sollte jeder nach seinem eigenen Glück suchen und sollte auch noch selbst überlegen, woran er glaubt. Das war angeblich eine Privatsache. Aber das Volk hat gesiegt. Liebe Kinder. Heute haben wir es gut. Das Volkskomitee weiß, was wir glauben. Für Transzendenz ist gesorgt. Danke Volk. Und so sorgenfrei wie wir heute leben, so voller Sorgen war es noch vor dem Sieg des Volkes. Sogar in der Liebe musste man sich frei entscheiden. Auch das ist nun dem Volkskomitee sei Dank für uns geregelt. So gibt es keine Verwirrung mehr und das KWK (Kindeswohl-Komitee) legt fest, wie die Kinderlein kommen. Die Volksfeinde der Regierung trieben bösartigen Handel mit anderen Regierungen und nannten das Freihandel. Stellt euch vor, liebe Kinder, was das bedeutete! All diese Dinge aus fremden Ländern! Unsere armen Bauern. Heute leben wir von Kartoffeln und Schweinefleisch. Damals haben die Menschen essen müssen, was es in den freien Kaufläden gab. Schrecklich. Aber das Volk hat gesiegt und der Handel unterliegt jetzt dem NWK (Nahrungs-wohlkomitee). Wir sind noch einmal davongekommen und das Volk hat gesiegt. Ich war dabei und ich sage euch, liebe Kinder: nie wieder Demokratie.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der elfte Beitrag 2022

 

                            Krieg

 

 

General Mannick hatte die Truppen erneut verschoben, um den Angriffen der Hybrid-Armee zu entgehen. Auch Kommandant Verstöven hatte seine Truppe in Sicherheit gebracht. Sie hatten ihr Lager bei Sion aufgeschlagen, am Fuß der Walliser Berge. Der Soldat Tischer überprüfte gerade die Kameraaufnahmen der Drohnen über die Truppenbewegungen des Feindes, als ihm etwas auffiel.
    „Harry“, rief Tischer seinen Kumpanen. „Schau dir das mal an.“
„Ich seh nix“, sagte Harry.

    „Hier und, warte, hier.“


Harry schüttelte nur den Kopf. Aber Tischer fand das merkwürdig. Das waren zwei unterschiedliche Aufnahmen, und doch waren die Bewegungen der Hybrid-Soldaten irgendwie gleich. Tischer sah sich die Aufnahmen noch ein paarmal hintereinander an, während Harry sich gelangweilt schlafen legte.

 

Es ließ ihm keine Ruhe. Er ging zum Kommandanten.
   „Der Kommandant will nicht gestört werden“, sagte ein Adjutant.
„Es ist wichtig.“

Der Adjutant blickte etwas gequält. Und weil Tischer keine Anstalten machte, zu gehen, legte der Adjutant die Zeitung hin und sagte:

   „Na gut.“

Kommandant Verstöven war etwas kleiner als Tischer. Tischer war das etwas peinlich. Er gab ihm die Kameraaufnahmen.

   „Sehen Sie …“


Verstöven nickte, er zog die Daten auf seinen Laptop, der einen größeren Bildschirm hatte, richtete einen Splitscreen ein und ließ ein Programm im Hintergrund rechnen. Die beiden Aufnahmen liefen nun parallel.
   „Identisch“, sagte Verstöven.

„Kommandant, Sir?“


  „Identisch, die beiden Aufnahmen sind exakt gleich. Verdammte Scheiße. Tu, wie heißen Sie?“

Der Kommandant blickte kaum weg von den Aufnahmen.
  „Tischer, Sir, Kommandant.“

„Schon lang dabei?“

    „Fast von Anfang an.“

 

„Mann Tischer! Da hätten wir fast den Krieg gegen einen Fotoshop verloren. Mertens …“ schrie Verstöven plötzlich laut. Der Adjutant kam.    

   „Mertens, geben Sie dem Mann da, Tischer, das beste Bier, den besten Braten, den sie in dieser verdammten Schweiz finden können. Identisch. Ich fasse es nicht.“

 

Tatsächlich war die Entdeckung von Tischer kriegsentscheidend. Die Truppen der Humanen holten sich Stück für Stück Gebiete zurück, nachdem klar war, dass die Truppenstärke der Hybriden nur ein Fake gewesen war.

 

Der Krieg konnte beendet werden und die Humanen waren die Sieger.

 

Tischer blieb beim Militär, wurde ein Asy. Ein Aufsucher von Hybriden. Tischer war clever, entwickelte eine eigene Methode, indem er einen Film erzeugte von einer Ratte, die einen Arm frisst. Diesen Film überlagerte er auf die vermeintlichen Hybriden. Während ein Humaner sich täuschen ließ, die Show für echt hielt und glaubte, eine Ratte fresse ihm gerade seinen Arm weg und daher schrie, Zeter und Mordeo schrie, blieb der Hybride ruhig, erkannte schnell, dass es eine Filmüberlagerung war. Auf diese Weise fand Tischer immer schnell heraus, wenn er einen Hybriden erwischt hatte.

 

Und das Mädchen, das jetzt in der Kammer mit dem Rattenfilm saß, das kannte Tischer.

   „Hey, Moment. Wie kommt die da rein?“ Tischer zeigte auf das Mädchen.

    „Hat sich im Sperrbezirk rumgetrieben.“

„Oh“, sagte Tischer und sah, wie das Mädchen, Jutta, seine Nichte, ziemlich entspannt auf die Ratte reagierte. Erst hatte sie zu einem Schrei angesetzt und Tischer atmete schon durch. Das fehlte noch, seine Nichte ein Hybrid. Aber dann lachte Jutta ein glockenhelles Mädchenlachen, tat so, als würde sie die Ratte streicheln und bleckte die Zunge.
   „Mist“, sagte Tischer.

„Sie ist eine. Bringt sie weg.“

Am nächsten Tag kam seine Tante und flehte ihn an. Aber Tischer war Soldat. Er hatte einen Eid geleistet. Und das Geschäft des Soldaten geht kaputt, wenn man mit Vetternwirtschaft anfängt.

 

   „Leider, ich kann das nicht tun, Tante Miriam.“ Seine Tante weinte und flehte weiter. Sie bot sogar ihren Körper an, den Tischer angeekelt zurückwies. Er blieb hart. Seine Nichte war ein Hybrid. Und außerdem hatten sie größere Probleme. Die Zahl der Hybride nahm wieder erheblich zu und es gab schon verschiedene Aufstände. Es drohte, wieder Krieg zu geben.

 

Tatsächlich. Die Hybriden hatten ihre Truppen wieder aufgebaut und eine neue Kommandozentrale geschaffen. Sie griffen an. Und sie waren stärker denn je. Tischer, inzwischen zum Kommandanten befördert, musste mit seiner Truppe Reißaus nehmen. Die Soldaten kamen in ein unübersichtliches, urwaldähnliches Gebiet und waren dann plötzlich von Hybriden umstellt, wurden entwaffnet und gefangen genommen.

 

Tischer wurde als gefangener Kommandant zum Kommandanten der Hybride gebracht.

   „Sie?“ Tischer war perplex. „Wie, wieso? Verdammter Verräter“, schrie er jetzt.

    „Entspannen Sie sich. Setzen Sie sich erst mal und hören Sie zu.“
Tischer setzte sich nicht. Er schüttelte nur den Kopf und blitzte mit den Augen.
    „Na, wie Sie wollen“, sagte Verstöven.

„Sie schätzen das falsch ein, lieber Tischer.“

 Tischer spuckte auf den Boden.

 

   „Es hat keinen Sinn mehr zu kämpfen. Der Krieg ist im Grunde vorbei. Das ist nur noch eine Säuberung. Aber wie Sie sehen, Tischer, sind die Hybriden wie wir. Der Unterschied ist jedenfalls nicht so groß, dass wir nicht koexistieren könnten.“

 

„Sie spinnen, Verstöven“, sagte Tischer verächtlich.

   „Bringt mich wieder in meine Zelle.“

 

Die Aufnahmen zeigten General Mannick in Friedensverhandlungen mit Oberst Court, dem militärischen Führer der Hybriden.

   „Jetzt ist der Wahnsinn bald vorbei“, sagte Verstöven zu seinem Adjutanten.

   „Was macht Tischer? Ist er schon zur Besinnung gekommen?“ Der Adjutant zuckte mit den Schultern.

   „Wir lassen nach ihm sehen, Sir.“

„Na gut.“

 

Als sie die Türe öffneten, bot sich ein Bild des Schreckens. Der junge Hybrid-Soldat musste sich auf der Stelle übergeben, ehe er Meldung machen konnte. Irgendwie hatte sich Tischer eine Plastikgabel organisiert, den Stil abgebrochen, die Zinken auf den Unterarm gedrückt und so gegen die Wand gelaufen, dass die Zinken in die Haut eindrangen und die Arterie zerfetzte. Dann hatte er noch kräftig mit den Gabelzinken in der Wunde gerührt. Das Blut spritzte überall hin. Tischer machte das Gleiche mit dem anderen Arm. Die Unterarme waren zerfetzt, als hätte man auf sie geschossen.

 

   „Wie kann man mit ein paar Gabelzinken …?“ Verstöven sprach nicht weiter.

 

„Er hat gehört, dass Mannick aufgegeben hat“, sagte ein Soldat.

   „So ein Idiot“, sagte Verstöven.

„Wir sind doch fast gleich. Das sind doch kaum Unterschiede.“ Er schüttelte den Kopf und verließ das Gefängnis. Dann nahmen ein paar Soldaten Tischers Leiche, um sie zu entsorgen, wie man das nach Soldatenart macht. Der Krieg war zu Ende. Sieger gab es diesmal keine. Nur viele Tote.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

Der zehnte Beitrag 2022

 

 

 

                         DER STURM

 

Selbst durch das geschlossene Fenster drang der Lärm der Parade, die jubelnden Massen, Trommeln, Pfeifen und Trompeten, das rhythmische Schlagen von Soldatenstiefeln. Hanna hatte die Vorhänge zugezogen. Jetzt schob sie den Vorhang ein wenig zur Seite und sah hinaus. Die meisten waren unten auf der Straße hinter der Absperrung und jubelten. Ein buntes Meer aus Menschen, die alle ihre Fahnen schwenkten und winkten. Aber auch an den Fenstern gegenüber, standen viele Leute, dicht gedrängt, hingen sie über die Fenstersimse, schrien und winkten den Soldaten zu. Aus jedem Fenster (alle waren weit geöffnet) hing eine Fahne. Hanna widerte das an, der Lärm, die Bereitwilligkeit zum Jubeln. Sie verstand das auch nicht. Was ging in den Menschen vor? Was begeisterte sie derart an einem militärischen Aufmarsch? Warum war der Mensch überhaupt so laut? Hanna zog den Vorhang wieder ganz zu, hielt sich die Ohren zu. Sie ging zum Schreibtisch, um ihr Erinnerungsalbum zu holen, setzte sican den Küchentisch. Es gab andere Zeiten, dachte sie, bessere. Ruhigere? Vielleicht nicht, aber der Lärm war weniger Krach. Und um dem Irrsinn da draußen etwas entgegenzusetzen, wollte sie sich an diese Zeiten erinnern. Sie schlug das Album an einer willkürlichen Stelle auf. Gott, Albert, Hanna streichelte das Foto, schloss kurz die Augen. Albert war schon vor Jahren von ihr gegangen. Der Krebs hatte ihn besiegt. Aber davor waren es bessere Zeiten. Es war ein altes Foto von ihm, ihre beste Zeit.

 

Damals waren sie Aktivisten gewesen, direkte Demokratie, Globalisierungsgegner, keine Macht den Konzernen. Sie hatten es sogar mal bis in den Stadtrat geschafft. Sie hatten eine Partei gegründet, eine Protestpartei, die SbA (Spaß bei der Arbeit). Und tatsächlich wurde sie in den Stadtrat gewählt. Doch schon die ersten Eindrücke dort waren zermürbend. Im Rathaus saßen kaum noch Politiker. Diskurs feindliche, Kopf lahme Pragmatiker, die die Hand aufhielten und im Trüben fischten. Sie wurde von Lobbyisten bedrängt, die ganz offen korrupt waren. Und ihre Bestechungsangebote machten sie fast bedingungslos und schamlos. Dann hatten sie eine Idee. Albert? Hatte Albert die Idee gehabt? Oder war sie es selbst gewesen? Sie wusste es nicht mehr sicher. Es war schon zu lange her. Aber Hanna erinnerte sich an diese eine tolle Nacht, als sie mit Albert zusammen alle Stifte aus den Büros des Rathauses einsammelten und in einen großen Müllsack füllten. Stifte, die alle Werbegeschenke waren, mit Firmenaufdruck. Durch das dunkle, stille Rathaus, Zimmer für Zimmer, mit Taschenlampe und Müllsack bewaffnet. Albert war ein Meister darin gewesen, verschlossene Türen mit einer Kreditkarte oder einem Stück Draht zu öffnen. Sie nahmen nur die Stifte. Eine harmlose Aktion im Grunde. Aber das Rathaus war nun Stifte frei.

 

Sie informierten die Presse, dass heute was los sei. Mit den anderen Parteimitgliedern (sie waren nur zu fünft), malten sie ein großes Transparent auf dem stand: Stoppt die Lobbyisten. Wir lassen uns nichts mehr vorschreiben. Als die Presse eintraf, hatten sie schon das Transparent ausgerollt und schütteten den Müllsack mit den Werbestiften aus. Irgendwo musste sie doch noch ein Foto davon haben, dachte Hanna. Hier, da. Sie nahm den zusammengelegten Zeitungsausschnitt aus der Folie. Eine ganze Seite im Abendblatt – sie faltete das Blatt auseinander – zeigte sie und Albert von vorne, im Hintergrund, Inge, Karl und Juri, die das Transparent hielten.

 

„Spaßpartei macht Ernst“, lautete die Schlagzeile. Und darunter, die Stifte-klau-Aktion. Der Bericht war etwas reißerisch, aber für diese Zeitung ganz okay. Hanna Appelt, die profilierte Jungpolitikerin mit DKP-Vergangenheit greift zur Privatrevolte gegen den Lobbyisten-Sumpf im Stadtrat, las Hanna. Gut. Strafanzeige, Verbot der Partei, hohe Geldstrafen. Dennoch, dachte Hanna. Gute Aktion. Eine bessere Zeit. Lange betrachtete sie das Foto auf dem Zeitungsblatt. Das war Albert, das war sie, das waren die Zeiten. Kriegstrommeln knallten dumpf gegen die Scheibe, Hanna hielt sich wieder die Ohren zu.

 

Plötzlich schlug jemand laut und kräftig gegen die Tür. Hanna erschrak und spürte ihr Herz im Hals klopfen.

   „Aufmachen“, hörte sie eine männliche Stimme brüllen und wieder schlug der Mann gegen die Tür. Langsam stand Hanna auf.

   „Ich komme ja“, sagte sie, aber leise, krächzend. Angst, dachte sie, warum habe ich solche Angst? Von draußen hörte sie dumpf einen jubelnden Aufschrei der Menge und darauf eine Trommelsalve, zwei Schüsse. Wieder Jubel.

   „Aufmachen! Oder ich schlag die Tür ein“, brüllte es von draußen. Hanna öffnete, sie hatte gar nicht zugesperrt. Der Mann hätte einfach reingehen können. Aber sie öffnete die Tür und der Mann schlug diese sofort zur Seite, sodass Hanna weg stolperte, dann drückte er Hanna weiter zur Seite.

 

   „Was ist hier los?“, brüllte er und ging geradewegs zum Fenster, öffnete es. Laut erscholl jetzt ein Trompetenstoß, darauf ein greller Pfiff und dann Klatschen. Der widerwärtige, protzige Lärm drang jetzt ungehindert durch das offene Fenster.

 

„Hier drin stinkt’s“, brüllte der Mann noch lauter, weil er jetzt gegen den Lärm von draußen anschreien musste. Er trug eine Uniform, Tarnfarben, sein dichter und schwarzer Vollbart wirkte aber bei ihm gar nicht männlich, eher drollig. In seinen Augen erkannte Hanna etwas Gutmütiges. Ein friedliches Leuchten. Das kontrastierte stark mit seinem Gebrüll und seiner Art hier reinzuplatzen.

   „Was gaffst du so, Alte?“, schrie sie der Mann an.

„Fahne, zack, zack!“


Hanna stand wie angewurzelt da.

   „Fahne“, schrie der Mann fast außer sich, kippte in der Stimme um und gleichzeitig zog er seine Waffe aus dem Halfter, entsicherte sie,

   „Fahne“, schrie er erneut und zielte auf Hanna.

„Du Ungläubige“, schrie er.

   „Du Jüdin“, schrie er.

Hanna war entsetzt. Dieser Imperativ verriet alles. Glaubten wir nicht alle an etwas? Was lief hier nur so schief? Hanna stand da wie angewurzelt. Was wollte der Mann? Was für eine Fahne? Warum kommt der hier rein?

 

Der Mann ging nun auf sie zu und drückte ihr den Lauf seiner Pistole an den Kopf.

 

„Fahne!“, schrie er. Erst langsam begriff Hanna, dass er die schwarze Fahne meinte, die aus allen offenen Fenstern hing, nur bei ihr nicht. Sie wusste ja längst, dass der Sturm inzwischen auch hierhergekommen war. Angefangen hatte es mit einem neonazistischen Volkssturm „besorgter Bürger“, doch dann überrollten die Ereignisse von links und rechts alle. Erst fiel die Türkei, die NATO war mit Russland beschäftigt, die USA hatte sich massiv aus der Weltpolitik zurückgezogen und Frankreich war gespalten. Und jetzt stand er in ihrer Wohnung und brüllte. Der Sturm brüllte in ihrer Wohnung. Wo waren jetzt all die freien Menschen?
  „Was ist? Bist du blöd im Kopf?“, schrie sie der Sturm an und drückte den Lauf stärker gegen ihre Schläfe. Dann schüttelte der Sturm seinen Kopf. In seinen Augen leuchtete das Gutmütige wieder auf, Hanna lächelte, versuchte es jedenfalls, und dann schlug der Sturm zu, mit dem Griff hämmerte er ihr gegen die Schläfe. Hanna torkelte, alles verschwamm vor ihren Augen.

 

  „Du altersschwache Jüdin, du“, sagte der Sturm nun ganz gutmütig, so als wäre er versöhnt mit ihr, steckte die Waffe in den Halfter zurück und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Hanna stürzte und schlug mit ihrem Kopf gegen den Heizungskörper. Sie lag da, irgendetwas schmerzte, sie war irgendwie gelähmt, konnte aber sehen, alles sehen.

 

 „Was 'n das hier?“, sagte der Soldat und nahm das aufgefaltete Zeitungsblatt vom Tisch, las kurz und zerknüllte es dann, warf das zu einem unförmigen Ball zerknüllte Zeitungsblatt gegen Hannas Kopf und grinste.

   „Ihr seid alle schon tot“, sagte er und dann ging er zum Schrank, riss ihn auf, warf alles, was er nicht gebrauchen konnte auf den Boden, die Kleider, Hemden, Unterwäsche, alles.

 

„Keine Fahne, was?“, sagte er und ging nun langsam auf Hanna zu. Die lag da mit verdrehten Beinen, konnte sich nicht rühren, nicht sprechen, nur sehen, schrecklich klar sehen. Der Mann zog wieder seine Waffe und sagte ruhig „bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm.“ 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 Der neunte Beitrag 2022

 

                                             GEHTS JETZT LOS?

 

Streifschuss aus der nahen Vergangenheit vom 3. Januar 2020

 

Staffel-Auftakt für

die Golden Twenties

 

Wow! Was für ein Staffel-Auftakt für dieses neue Jahrzehnt. Mit einem ordentlichen Kriegsver-brechen!

Vor knapp zwanzig Jahren hat er dem damaligen Präsidenten der USA noch geholfen, ihren Einsatz gegen die Taliban zu planen, und vor fünf Jahren half er der USA im Kampf gegen den IS.

 

Im Jahr 2013 berichtete The New Yorker über zunehmende Aktivitäten der Quds-Einheit in Syrien. Aus dem Bericht geht auch hervor, dass die Aktivitäten von Al Quds im Irak zeitweise von den Amerikanern toleriert wurden, um sunnitische Aufständische zu bekämpfen. John Kerry persönlich lobte ihn dafür. Aber die Karten wurden neu gemischt. Trump befahl den Mord am iranischen General der Al Quds-Einheit Soleimani, den iranischen Rommel (wie er genannt wurde) und das Militär bezeichnete diesen Mord als defensiven Akt der Selbstverteidigung. Absurd? Was wissen wir schon!  Der Sensenmann wiegt zwei Tonnen, hat eine Topgeschwindigkeit von 500 km/h, eine Reichweite von München nach Island, also ca. 3000 Kilometer. Der Sensenmann wurde Anfang dieses Jahrtausends erstmals in Afghanistan eingesetzt. Der Reaper MQ9. Ist ein UAV (unmanned aerial vehicle), wird via Fernsteuerung durch einen Computer gesteuert. Es ist eine Killerdrohne von General Atomics, einer Firma die bereits seit 1995 solche Killerdrohnen zur Verfügung stellt, jahrzehntelang mit Shell zusammengearbeitet hat und ihre Finger auch fett im Ölgeschäft hat. Das Unternehmen hat in den letzten Jahren Millionen Dollar in ihre Lobby-Arbeit gesteckt, um die Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium weiter zu fördern. Und so ein Treffer ist gute Firmenpolitik. Klar. Irgendwelche geopolitischen Hintergründe, die uns normalen Menschen nicht zugänglich sind, haben den großen Präsidenten Donald Duck Trump dazu veranlasst, diesen Befehl zu erteilen. Und der General einer Elitetruppe für Auslandseinsätze für den Iran, einem Land der bösen Achsen, ist ein gutes Opfer. Da General Soleimani Perser war, aus der Provinz Kerman (Südosten des Iran), hatte er sicher Verständnis für den Zoroastrismus von George W. Bush.

 

Was mich an dieser Pressemeldung so frustriert, ist mein Unwissen über die echten Hintergründe. Wer ist der Böse? War das wirklich Selbstverteidigung? Keine Ahnung. Ich vermute, dass das niemand wirklich weiß, denn die Gründe sind dabei eine Mischung aus den unterschiedlichsten Interessen der Menschen, die auf dieser geo-politischen Bühne ihre Muskeln spielen lassen. Was ist mit dem General? Hatte er eine Familie? Hinterlässt er Kinder, die ihn liebten, die er liebte? Im Iran wird darüber sicher etwas geschrieben. Hier? Nix! Man sieht nur wieder die Fresse von Donald Duck Trump. Und ein paar Wichtigtuer erklären uns Dummen die Welt. Danke dafür. Nur, wofür?

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der achte Beitrag 2022

 

 

          WIR AUSGESTOPFTEN

 

 

Streifschuss:      vom 01. 12. 2020

Anlass:                wir ausgestopften

 

 

Wind im trockenen Gras –

ein sauberer Scherbenhaufen 

 

Auf diese Art geht die Welt zugrunde. Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer. So schaut es aus. Und Thomas Stearns hat das damals schön gedichtet. Und heute? Man hat den Sozialismus in Deutschland schon vor langer Zeit umgebracht, so bleibt armen Socken wie mir ja nur noch der Faschismus. Doch der ist eine Mogelpackung. Ich habe das Pech, zu klug zu sein, um auf einen destruktiven und zynischen Machtprimat hereinzufallen. Die, die nicht so klug sind und auf den Geschichtsrelativismus der Neonazis hereinfallen, zu warnen, ist eine mühsame Intention. Vor allem sollte

diese düstere Geschichte von sechs Millionen ermordeter Juden, diese düstere Geschichte einer Kriegsschuld mit 70 Millionen Toten, diese düstere Geschichte mit ihren immer noch durch unsere Zeit wabernden Geistern, nicht mit erhobenen Zeigefingern benutzen und damit missbrauchen.

 

Der geschulte Faschist durchschaut diese Geschichtsinstru-mentalisierung der Edukation. Die Idee eines kosmopolitischen, von Rassismen freien Sozialismus  zu reanimieren, ist auch nicht gerade eine leichte Sache. Zumal da auch nicht grade Samthandschuhe an der Tagesordnung waren. Es ist schon ein Ärgernis, dass nur diese müde und ausgelaugte Demokratie eine Alternative bietet. Es ist, als würde man einen alten, faltigen Mann mit Hoden wie Kartoffelsäcke zur Glorie führen. Der Rest formaler Demokratie in unserer total verwalteten Welt ist ein schlechter Witz. Da lacht der Faschist und haut mit seiner Kruppstahl-Hand feste druff. Und je „wehrhafter“ sich die Demokratie zeigt, desto faschistischer sieht sie dann aus. Sogar diese Müsli-Fressen von den Grünen wollen jetzt eine starke Bundeswehr (Baerbock) und eine europäische Festung. Natürlich dient diese Festung der Verteidigung der Freiheit gegen die autoritären Staaten. Mit Autorität gegen die Autorität? Dieses Paradox werden die Demokraten, die sich wehren, nicht los.

 

Daher könnte es den Demokraten, die sich nicht wehren, so ergehen wie den Kuschelsozialisten (Müntefering im Jahr 2006), der SPD. Die Brutalität und der enorme Anpassungsdruck durch die Ökonomie ist nichts für arme Socken. So Leute wie ich werden weggefegt vom Sturm der Krise. Und nichts wird das aufhalten können. Der Faschismus wird daher kommen wie eine natürliche Erscheinung. Ein Phänomen, das nur in seiner Präsentation Unterschiede aufweisen wird. Realistisch betrachtet leben wir längst in einer faschistoiden Demokratie. Sie lächelt uns noch zu und die Polizei bemüht sich noch um Menschlichkeit. Als wäre die Polizei jemals in ihrer Historie für Menschlichkeit zuständig gewesen. Nein. Die Pandämonie hat damit gar nichts zu tun. Das ist nur eine weitere Katastrophe im – Katastrophen gewohnten – Weltgeschehen. Die quer – und mehr verquer – denkenden Gedankenlosen dieser Zeit sind nur Reaktion, nur Reaktionäre in einer Zeit, die den größten Anpassungsdruck seit langem bewirkt.

 

Fortschreitende Digitalisierung ist blind gegenüber der Logik fortschreitender klimatischer Veränderungen. Und es geschieht faktisch so gut wie nichts, um die drohenden Katastrophen wirklich abzuwenden. Verzweifelt wirken die Maßnahmen gegen die Pandemie daher, weil nur eine Front bekämpft wird und wir letztlich umzingelt sind. Die Nazis hatten schon in Weimar ein Gespür für die Katastrophe und so waren sie auch diesmal schon vorher da. Und die zu bestrafen, die sich nicht an die Konventionen halten, das erinnert fatal an die Mentalität des Punitiveness (der Bestrafungslust der autoritären Persönlichkeit). Abulie ist die Folge und das ist ein tragisches Symptom des Verlustes von Geist (unter Geist verstand Hegel Selbstbestimmung). Wir gehen unter, Stück für Stück nicht mit Geschrei, sondern mit einem Wimmer.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Ein Doppelpack zum Monatsende

 

Der siebte Beitrag 2022

 

Reform …

 

Mitten im Blitzlichtgewitter der Kameras, immer weiter vordringende pelzige Mikrophone, Geschrei, Fragen, die er gar nicht verstand, inmitten einer Masse von Hysterischen, die alle schnell erste Stimmen einfangen wollten. Willy Schönblum drang vor dieser gehetzten Meute immer weiter zurück. Er war nicht da, er war gar nicht da, er war nie da, alles ein Irrtum, das alles hatte gar nicht stattgefunden. Aber es hatte stattgefunden, war geschehen. Willy Schönblum drängte sich durch eine Gruppe Sicherheitsleute, verschwand hinter ihrer schützenden Mauer und schaffte es in das Gebäude hinein. Tür zu, und plötzlich Stille, breite endlose Gänge, cremefarben, nüchtern. Wo ist nur die Toilette, dachte Schönblum. Er musste plötzlich. In all der Aufregung vergisst der Körper nichts, und ginge die ganze Welt unter, man muss trotzdem vorher noch die Blase entleeren. Aber nirgends war eine Toilette, nur geheimnisvoll wirkende Türen, ein paar belanglose Topfpflanzen, nichts, keine Toilette. Schönblum hetzte durch den Gang, wusste längst nicht mehr wo er war, als ihm einer der Sicherheitsleute mit Walky-Talky, Knopf im Ohr, entgegen kam. Der wusste auch nicht, wo es eine Toilette gab. Sie suchten gemeinsam, und wurden gerade noch rechtzeitig fündig.

Erschöpft lehnte sich Schönblum an die geflieste Wand. Wie konnte das alles nur so weit kommen. Es war nicht seine Absicht gewesen, nur einen Denkzettel, auch ein bisschen blinder Aktionismus, nichts Durchdachtes, und jetzt saß er tief im Schlamassel.

Langsam öffnete er die Toilettentür und spähte in den cremefarbenen Gang. Er wusste ja längst nicht mehr, wo er war. Das riesige Gebäude verzweigte sich in ein Labyrinth aus cremefarbenen Wänden. Sollte er rechts gehen? Würde er dann wieder der gehetzten Meute der Journalisten in die Arme laufen? Links gehen? Oder wäre dort der Feind mit Blitzlicht und Pelzmikros? Plötzlich erfasste ihn unendliche Angst, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, tropften in den Nacken, die Brust entlang, sammelten sich unter den Achseln, er konnte selbst seine eigene Angst riechen.

So stand er mitten im Gang und wusste weder ein noch aus. Von links sah er nun einen Mann schnell näher kommen, das Sakko flatternd. Der Mann winkte, und als er in Hörweite war, rief er: „Ah, ja, hallo, hallo". Wer war das? Versteinert blieb Schönblum stehen. Es war jedenfalls kein Journalist, keiner mit ärmellosen Lederwesten und Cargohose, kein schlecht sitzender Blazer mit Ledereinsätzen an den Ellbogen. Der Mann trug einen sauberen Maßanzug.

„Herr Kanzler, endlich, da sind Sie ja!“

Schönblum drückte irritiert die Hand des Mannes. Er kannte das Gesicht. Woher nur. Aus dem Fernsehen? Der Name des Mannes wollte ihm nicht einfallen. Schönblum traute sich kaum zu atmen, um nicht selbst seinen Angstschweiß riechen zu müssen, denn wenn er das selber schon roch, roch es auch der andere. Kanzler? Wie denn. Das war er doch noch gar nicht? Aber Schönblum kam nicht zum Denken.

„Das ist ja – was? Irre, unglaublich. Wer hätte das gedacht. Gegen alle Umfragen – ja Mann, irre", faselte der Maßanzug und klopfe Schönblum immerzu auf die Schulter, und zerrte ihn gleichzeitig den Gang entlang. Währenddessen suchte Schönblum fieberhaft nach Lösungen, wie sollte es weiter gehen? Mit wem? Karl? Der hatte ihm öfter bei der Steuererklärung geholfen, der könnte die Finanzen ..., wer noch? Joschi? War der nicht Vegetarier, gut, also Joschi Gesundheitsressor... . Weiter kam Schönblum nicht, denn der Mann mit dem ihm bekannten Gesicht und dem Maßanzug redete weiter penetrant auf ihn ein.

   „Aber vor der müssen Sie aufpassen! Die hat Krallen, aber Hallo, na gut, wir zwei – was?" und schon bekam Schönblum wieder einen Schlag auf die Schulter. Vor wem musste er aufpassen? Schönblum hatte nicht aufgepasst, vor wem ihn dieser Mensch da warnte. Und schon näherten sie sich einer breiteren Nische, von der Lärm drang. Schönblum bremste unwillkürlich ab.

   „Aber nein, Mann, bester, die warten doch alle auf Sie! Kommen Sie schon!"

Schönblum wollte nicht kommen, gar nicht. Das war doch alles ein Scherz gewesen. Das war er nicht wirklich! Das ist doch nur ein Traum, nur eine Horrorvision. Hatte er was eingeworfen? Hatte man ihm was in seinen Drink gemischt? War er auf Angeldust? Aber der Mann im Maßanzug zerrte ihn weiter, dem Lärm entgegen.

„Der Pressesaal, die geladenen Journalisten. Mann, Herr Kanzler, die sind geil auf Sie, und wie. Ich komme mit, die werden schauen, wenn wir zu zweit aufkreuzen, was?" Wer war dieser Mann im Maßanzug. Er kannte ihn, er musste ihn aus dem Fernsehen kennen. Ein Alptraum! Abgrundtief, aber schon stieß der Maßanzug die Tür zum Lärm auf, und zog Schönblum mit in den Lärm hinein. Und tatsächlich: Sie hatten gewartet! Kaum war die Tür auf und der Maßanzug mit Schönblum in den Saal getreten, ertönte ein Schuss, ein Knall – was auch immer! Und die Hölle ging los. Der Maßanzug schaute verdutzt zu Schönblum, die sahen sich einen Augenblick wie in Zeitlupe an, und dann sank der Maßanzug auf die Knie, die Hand in Schönblums Sakko verkeilt, zog er ihn mit.

   „Ich doch nicht ...," flüsterte der Mann kaum hörbar. Aus dem Nichts waren schwarz gekleidete Sicherheitsleute um sie versammelt, bildeten um Schönblum und den Getroffenen einen Kreis. Weitere Schüsse fielen, Lärm, Geschrei, offenbar Panik. Schönblum kniete neben dem Getroffenen, sah die fragenden Augen des Mannes und hatte dabei selbst eine Frage auf den Lippen: Wer sind Sie eigentlich? Der Mann öffnete noch den Mund, wollte etwas sagen – sich vorstellen? – aber es kam nur noch ein Blubbern aus dem Mund, Blut lief hinterher, und Schönblum sah nun, dass das weiße Hemd des Mannes rot von Blut geworden war. Noch ein letzter Blick, dann bekam Schönblum einen Schlag ab.

Als er erwachte, lag er in einem Krankenhausbett. Es war still. Schönblum war der festen Ansicht, all das sei Gott sei Dank doch nur ein böser Traum gewesen. Am Nachtkästchen lag die Morgenzeitung. Attentäter geistig verwirrt!? Und im Text stand: Vermutlich galt das Attentat dem am Sonntag völlig überraschenden Wahlsieger der Reformpartei. Nur der Zufall wollte es, dass noch Kanzler Erwin Schmidbauer sich gemeinsam mit seinem Nachfolger der Presse stellen wollte. So schoss der offensichtlich geistig verwirrte Attentäter versehentlich auf Schmidbauer. Weiter unten konnte Schönblum den zynischen Satz lesen: Wenn unser frisch gewählter Kanzler auch in seiner Reformpolitik so ein glückliches Händchen hat, dann kann uns um die Zukunft nicht bange sein. Diesen Satz las Schönblum wieder und wieder, zunehmend fassungsloser. Nein, sagte Schönblum zu sich, nein und nochmals nein! Das war nur ein Scherz. Nichts weiter. Aber es war eben kein Scherz! Lange starrte Schönblum an die Decke, im Kopf hatte er ein merkwürdiges Rauschen, und plötzlich standen seine Gedanken still. Nichts, nichts mehr. Gar nichts mehr. Ende. Aus. Ende. Aus, nur das ging durch seinen Kopf, Ende, aus, ende, aus. Die Zeitung fiel ihm aus der Hand, und mit offenen Augen gegen die Decke – ende aus – starrend, verharrte er. Ende, aus. Nie mehr aufwachen. Nicht der Alptraum war der Alptraum, sondern die Realität war der Alptraum. 

 

ENDE

 

 

und … Anselm von Canterbury

 

Dann trat (wie oft, wenn es wirklich nötig ist) ein Mann von großem Verstand auf. Der in den italienischen Alpen in Aosta geborene Anselm von Canterbury (1033-1109) studierte bei Lanfrank le Bec und wurde sein Nachfolger als Erzbischof von Canterbury.

Durch nichts ist jedoch nichts. Es lässt sich nicht einmal denken, dass etwas nicht durch etwas sei. Alles, was ist, ist durch etwas. Und es ist unzweifelhaft, dass alles durch dieses ist, das ihm sein Durch-Sich-Selbst-Sein gibt. Dieses Eine ist die Einheit und das Höchste in allem (Monologion).

 

Alles was ist, ist durch das, denn es gelangt durch sich selbst zum Sein. Diese letzte Ursache hat selbst keine Ursache mehr. Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Anselm nannte es das per se ipsum.

 

Es folgt daher, dass, wo diese Selbigkeit nicht ist, nichts ist. Sie ist ihr Sprechen (monologion).

 

Dieses durch sich selbst Seiende wurde bzw. wird fälschlicherweise als Gottesbeweis geführt. Das ist so nicht korrekt. Die Begriffe sind nach Anselm der Grund der Erkenntnis. Er zeigt sich damit als Begriffsrealist.

 

Dieses Einzigartige und einzigartig wunderbare ist der Geist. Denn allein der Geist ist auf diese Weise und alles andere ist nicht oder kaum. Dieser Geist ist je der Vater des durch ihn Gezeugten. Und es ist zugleich unmöglich, dass sie beide verschieden sind. Denn alles andere hat Sein nur durch Analogie zu diesem höchsten Geist.

 

Alles Seiende, das nicht das durch sich selbst Seiende ist, ist nur eine Analogie. Der Selbstbezug des Seins ist begrifflich. Alles Seiende hat damit a priori seine Bestimmung als jeweiliges Sein. Sonst könnte es gar nicht sein.

 

So sah dich meine Seele, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, aber nicht dich, wie du bist. Sie sieht nicht weiter, nicht wegen deiner Finsternis, sondern wegen ihrer eigenen. Sie wird zusammengezogen in ihre Enge, überwältigt durch deine Weite. (Proslogion).

 

Die Bestimmung hat ihre Grenze nicht in Gott, sondern in mir selbst. Ich kann darüber hinausgreifen und dies wiederum als ein Allgemeines erkennen. Dies ist das unum argumentum, das später durch Immanuel Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis Berühmtheit erlangte. Da ich nichts Größeres denken kann, als eben diese letzte Ursache durch sich selbst, gelange ich nur durch das Gebet zu Gott.

 

Daher bist du etwas Größeres, als gedacht werden kann. Denn selbst ein solches, kann gedacht werden, wenn etwas gedacht wird, als dass nichts Größeres gedacht werden kann.(Proslogion).

 

Zugegeben, für solche Sätze muss man Anselm einfach lieben. Ich kann denken, dass ich nichts größeres denken kann. Da ich also in meinem beschränkten Denken an eine Grenze stoße und davon ausgehen kann, dass es da jenseits meiner Beschränkung noch Land geben kann, allein dass ich so ein Land annehmen kann (das wäre eben der Geist, der das kann), stelle ich diesen Selbstbezug her.

 

Diese letzte Grundlosigkeit des per se ipsum ist nicht mehr hintergehbar. Daher ist es. Und dies hat natürlich auch ethische Konsequenzen.


So ist auch der Wille, der um seiner selbst willen will, ein anderer als derjenige, der um einer anderen Sache willen will. (de Libertate alibrii).

 

Credo ut intelligam, ich glaube, damit ich erkennen kann. Die Selbstzerstörung des Intellekts ist der Übergang zum Glauben. Durch den Intellekt kommen wir zum Glauben, eben weil der Intellekt das Größere denken kann. Und so führt sich der Intellekt selbst ad absurdum.  Die Wahrheit muss sich daher immer selbst begründen. Der Wille muss sich selbst wollen.

 

Dies ist absolute Freiheit. Später hat das auch Schelling aufgenommen und auch Hegel gründete sich darauf.

 

Wer sündigt, gibt daher nicht seine Freiheit auf. Aber es ist auch nicht die eigentliche Freiheit, die sündigt. (de libertate alibrii).

 

Das ist eben die Gnade, dass wir die Freiheit haben zu sündigen. Sünde ist damit nicht – wie bei Augustinus noch – die Abwesenheit des Guten, sondern selbst auch Freiheit. Ein Rechtsbegriff von ganz anderer Natur.

 

Dass der Wille sich selbst wollen kann, ist die Gnade. Sie begleitet auch den sündigen Willen. Freiheit und Gnade harmonieren immer, um den Menschen zu retten. (De Concordia).

Das Universale ist nach Anselm logisch vor etwas.

 

Anders wird nämlich etwas gedacht, wenn nur der es bezeichnende Laut gedacht wird, anders, wenn das begriffen wird, was etwas ist. (Proslogion).

 

Nach Anselm ist der Intellekt schon etwas Vorausgesetztes, dass etwas überhaupt thematisiert werden kann. Die Begriffe des Erkennens sind die Voraussetzung des Seienden und nicht nur irgendwelche Nachbildungen des Seienden durch den Intellekt.

 

Es gibt aber Dialektiker, die die allgemeine Seiendheit (substantia universalia), für einen bloßen Hauch der Stimme halten. In diesen Häretikern ist die Vernunft so verdeckt von materiellen Vor-stellungen, dass sie sich selbst gar nicht von diesen Vorstellungen unterscheiden kann.(de incarnatione Verbi).

 

Dies ist der Angriff auf die Nominalisten, die Begriffe für flatus vocis halten. Etwas zu begreifen ist also nicht nur ein Benennen von etwas, sondern ein Verstehen von etwas, das sich als Seiendes voraussetzt, da ja von nichts, nichts kommen kann. Wie soll denn etwas einen Namen, einen Begriff bekommen, wenn es nicht selbst etwas sei und sich eo ipso schon damit auf sich selbst bezieht? Das macht einfach keinen Sinn. Und trotzdem haben sich bis heute die Nominalisten durchgesetzt und vergeben die Zeichen als wäre damit die Sache selbst nicht schon gemeint. Bis heute ist dieses Dilemma der Sprachphilosophie nicht wirklich letztgültig gelöst. Diese verrückte Differenz von Ausdruck und Sache! Ich erinnere hier auch an Walter Benjamin:

 

 Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen. (Über die Sprache überhaupt).

 

Ohne Sprache können wir uns gar nicht verständigen. Damit ist Sprache bereits vorausgesetzt. Walter Benjamin ist damit ein Begriffsrealist und ganz bei Anselm. Nun, dass wir im Geiste alle beschränkt sind, das hat Anselm ja in seinem sogenannten Gottesbeweis bereits deutlich gemacht.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der sechste Beitrag 2022

 

              Abenteuer Leben

 

 

 

Kohlenklau!

 

Anlass: Wer hat es getan?

 

Ich hatte gerade einer älteren Dame den Vortritt gelassen. Sie lächelte mich dankend an und wandte plötzlich ihr Gesicht ab, riss ihr Gesicht geradezu von mir weg. Sie hatte vergessen, ihre Maske aufzusetzen. Ein Kalauer ging mir durch den Kopf. Früher wäre es nicht ganz unproblematisch gewesen, wenn man in einem Discounter eine Maske aufsetzt. Nun ging die Dame leicht gebückt, mit ihrer aufgesetzten Maske im Gesicht und schwankend vor mir her. Sie erinnerte mich an den Kohlenklau. Ich folgte ihr in kleinen Schritten den Weg zwischen Gemüse- und Käsetheke entlang, als mich unerwartet mit großer Wucht ein Schlag traf. Ich geriet kurz aus dem Gleichgewicht und Kohlenklau war verschwunden.

 

  „Vorsicht, junger Mann, Augen auf“, rief ich in ungewohnter Schlagfertigkeit, denn gewöhnlich reagiere ich auf solche Ereignisse erst einen Tag später mit einem Anstieg meines Blutdrucks – eine Gemütsträgheit, der ich vermutlich mein Leben verdanke. Der  tatsächlich junge Mann – das konnte ich aber in der Schnelligkeit nicht wissen, das war also eine rhetorische Wendung, eine Art Diminutiv, um den Gegner zu beschämen – also der anrempelnde junge Mann drehte sich nun halb um zu mir und polterte:

     „Mach doch selber deine Augen auf!“

„Ich habe hinten keine Augen“, antwortete ich. Wow, ich war weiter, schlagfertiger als gewohnt. Ja ich weiß. Hinten keine Augen haha. Eine ziemlich ausgelutschte Metapher. Aber für jemanden, der in solchen Situationen sonst nie etwas sagt – immerhin.

 

   „Sie sind seitlich gegangen“, schrie mich der Mann diesmal siezend an. 
Jetzt musste ich lachen, herzhaft. „Seitlich gegangen“, wiederholte ich kopfschüttelnd, „Sie sind um keine Ausrede verlegen, oder? Sie Trottel.“ Trottel sprach ich aber schon zum Käse, der keine Antwort gab.
Der junge, anrempelnde und um Ausreden nicht verlegene Mann hatte längst das Streitgespräch verlassen und war Richtung Fleischtheke abgebogen, im Getümmel des Discounters verschwunden. 

 

Ich würde diesen Rüpel weder im Discounter noch auf der Straße wieder erkennen. Auch, wenn er keine Maske getragen hätte (dieser Satz wäre vor zweieinhalb Jahren noch völlig unverständlich gewesen). Ich erinnere an einen alten Stoiker, der über seinem blau geschlagenen Auge ein Schild mit den Worten „nemo fecit“ hängen hatte. Und für gewöhnlich sehe ich solche Ereignisse ähnlich. Diesmal reagierte ich nur deshalb, weil die Absicht mich zu rempeln so offensichtlich war, dass ich mich dadurch sogar eher geschmeichelt fühlen konnte. Denn meist wird man einfach übersehen. Und absichtslos gerempelt zu werden, das empfinde ich als tiefe Erniedrigung. Also ich kam mir schon immer recht überflüssig vor und hatte oft das Gefühl im Weg zu stehen. Nicht selten war ich an meinem Arbeitsplatz schon einer zu viel und es war keine Arbeit übrig, die ich auch hätte tun können. So empfand ich das, was ich tue als unnötig, da die anderen es schon taten und ich es nur wiederholte. Da fragte ich mich schon, was das soll und wozu ich das jetzt mache.

 

Tatsächlich demotivierte mich das so weit, dass ich es sein ließ. Im Grunde sage ich das auch vom Leben selbst. Es haben schon so viele gelebt und mein Leben ist einfach eine weitere Wiederholung eines fürchterlich banalen Einerleis. Wozu? Das ist nicht das gleiche wie die berühmte Sinnfrage. Es ist eher die wenig bekannte Sinnlosfrage. Und daher fand ich den Rempler dieses jungen Mannes amüsant. Und nicht darauf zu reagieren, wäre eine Unterlassungssünde gewesen. Ich schuldete dem Eifer des Remplers einfach eine anständige Reaktion. Nemo fecit? Nein. Denn dulden ist nicht nur grammatisch ein schwaches Verb. Es hat eine Nähe zum Büßen, und was bitteschön sollte ich büßen? Die Grausamkeiten des Daseins habe ich nicht zu verantworten. Dass der Tod in diesem Leben eine Gnade ist, habe ich nicht zu verantworten. Insofern danke ich dem jungen Rüpel für seinen Hinweis: podex fecit.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der fünfte Beitrag 2022

 

 

Nicht alle Menschen sind schlecht

 

 

 Streifschuss vom 19. März 22

 

 

Anlass: Lernen hat etwas Heimtückisches

 

 

Neulich in einem Kurs fragte ich die Teilnehmer, ob sie den Unterschied zwischen einem Adverb und einem Adjektiv kennen würden. Schweigen. Ein Adjektiv, hakte ich nach, kennt ihr schon? Ein paar nickten zaghaft. Wozu dient es, fragte ich? Eine ältere Dame zögerlich: zum Beschreiben. Und was beschreibt es? Wie etwas ist.


Gut so weit. Vermutlich würden Sie auch erst einmal abwarten, wenn man Sie auf offener Straße nach der Bedeutung irgendeines Fremdworts fragen würde. Das sei zunächst eingeräumt.

 

Danach machten die Teilnehmer ihre Schreibübung. Einer las seinen Text dann vor und ich stellte das Wort „manche“ fest. Und sofort- ohne zu zögern – meldete sich eine ältere Dame und merkte ironisch lächelnd an, dies sei aber kein Adverb. Sie wüsste das, denn sie sei Deutsch-Lehrerin.

 

Das saß! Ja ich schämte mich, dass ich das Wort „manche“ im Eifer des Gefechts für ein Adverb gehalten hatte, wo es doch ein Pronomen ist. Erst am nächsten Morgen, um sechs Uhr früh, als die Wirkung des Schmerzmittels gegen meine Zahnschmerzen nachließ, lag ich grübelnd mit pochendem Molar im Bett; diese Heimtücke! So schoss es mir gemeinsam mit dem Nervenschmerz durchs Gehirn. Zuvor schwieg sie, verbarg sich, gab sich nicht zu erkennen, stellte sich dumm. Sie hätte sich schon auf meine erste Frage nach dem Unterschied von Adverb und Adjektiv melden können, ja müssen. Aber nein. Sie wartete – vermutlich mit Genuss – auf meinen ersten Fehler, um dann ihren Trumpf auszuspielen. Heimtücke, Tücke, List, Hinterhalt, Täuschung. Jemanden klammheimlich ins Messer laufen lassen. Diese Bösartigkeit, die sich der Arglosigkeit seiner Opfer bedient, das ist es, was mich schon lange an den Menschen stört. Und leider sind die meisten Menschen heimtückisch und hinterhältig. Sie lernten es in langer Tradition der Unterdrückung, nicht mit offenen Karten zu spielen. Vielleicht neigen Frauen eher zur Heimtücke, weil sie von Männern jahrhundertelang gedemütigt und unterdrückt wurden und immer noch der Willkür männlicher Gewalt ausgesetzt sind. Aber nicht nur Frauen, auch viele Männer erlebten und erleben Übergriffe auf ihren Körper und ihre Psyche gegen ihren Willen und lernten so Bösartigkeit von der Pike auf. Wer aber nicht offen seine Macht zeigen darf, der zeigt sie heimlich, durch Täuschung und durch Hinterhältigkeit. Es ist gerade aktuell ein interessanter Fakt, denn das ist die Handlungsweise des derzeitigen russischen Machthabers Putin, der sein über 30 Jahre klein gehaltenes Russland nun endlich groß zeigen will, aber es geht nur bösartig durch Lügen, Täuschen und hinterhältigen Überfall. Im deutschen Strafrecht gibt es den heimtückischen Mord. Der Täter nutzt sein Wissen über die Arg und Wehrlosigkeit seines Opfers aus. Wenn Bösartigkeit ein erlerntes Verhalten ist – und das behaupte ich ja hier – stellt sich die Frage, ob Bösartigkeit gerade bei bildungseifrigen Menschen besonders häufig vorkommt. Ich muss diese Frage leider mit Ja beantworten. Gebildete Menschen sind häufig besonders bösartig und haben es gelernt zu täuschen, zu hintergehen und die Arg und Wehrlosigkeit ihrer Opfer für ihre Zwecke zu nutzen. 

 

Vermutlich gibt es auch hier eine lange Tradition der Wissensfeindlichkeit, die den Wissenden zur Täuschung, zur Heimtücke nötigte. Nicht alle Menschen sind schlecht. Dies zu behaupten, wäre im besten Falle kindisch. Es gibt durchaus gute Menschen. Aber sie sind deutlich in der Minderzahl. Daher kann man mit Machiavelli sagen: ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muss zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Dieser Satz von Niccolò di Bernardo dei Machiavelli ist geradezu die Quintessenz erlernter Bösartigkeit und beweist meine Vermutung, dass man das, was man einmal lernte, nur schwer wieder vergessen kann. Und es belegt auch meine wachsende Abneigung gegen das Wort Bildung. Gerade die schlimmsten Mörder waren sehr gescheit.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der vierte Beitrag 2022

 

 

Das Totenschiff

 

 

 

Streifschuss vom 15. Dezember 2022

 

Anlass:

 

Dort ziehen die Schiffe dahin, auch der Leviathan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen … (Psalm 104,26)

 

 

Der Staat ist eine Maschine, ein gewaltiges und mit präziser Technik ausgestattetes, rationales Monster. Wir werden sehen, ob die Neuen sie bedienen können. Denn man kann so eine Maschine auch leicht kaputt machen. Sie ist so komplex und reagiert allergisch auf alles Irrationale. Aber diese Neuen sind so neu nicht. Die meisten von ihnen sind schon die letzten Jahre im Maschinenraum herumgestanden und haben den Staatstechnikern dabei zugeschaut, wie diese an Hebeln ziehen und Knöpfe drücken. Vor jedem einzelnen Maschinenhebel und Maschinenknopf steht nämlich eine Ansammlung von Spezialisten (schlicht Beamte genannt), die verhindern, dass ein politischer Holzkopf mit seinem wirren Verstand an sie herankommt. Die Spezialisten (die Beamten) haben allerdings einen gewissen Nachteil: Sie kennen nur ihren Hebel, ihren Knopf, den sie bewachen und beschützen. Sie haben keinen Schimmer, wie die Maschine funktioniert, nicht einmal einen Überblick über die vielen anderen Hebel und Knöpfe, die von anderen eingeschränkten Spezialisten bewacht und beschützt werden.

 

Politiker sind nun die vom Volk gewählten Holzköpfe, die vor der Wahl versprochen haben, diesen oder jenen Knopf zu drücken, an diesem oder jenem Hebel zu ziehen. Das Volk wählte sie dafür. Indessen stehen sie gelähmt vor den Spezialisten. Die Spezialisten schütteln ihre Köpfe, mahnen mit dem Zeigefinger.

 

Der Staatsapparat läuft dann erst mal so weiter, wie bisher. Nach und nach tauschen die neu gewählten Holzköpfe die Spezialisten aus, gegen Spezialisten, die eher die Meinung der Holzköpfe vertreten und so werden nach und nach ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und der eine oder andere Knopf gedrückt. Doch schnell merken die Spezialisten, dass der Staatsapparat aus der Nähe betrachtet ganz anders funktioniert als gedacht und nun ziehen sie verängstigt die Hebel wieder zurück und drücken die Gegenknöpfe, bis dann alles wieder so ist, wie zuvor. Im Allgemeinen und in den Zeitungen steht dann viel über dieses Hebelziehen und Knöpfe drücken. Man nennt es dann das politische Feuilleton. Ist man – so wie der Kolumnist an dieser Stelle – längere Zeit auf der Erde und schaut sich dieses kuriose Treiben von außen an, dann erscheint einem das alles als recht komisches Marionettentheater. Denn hinter der großen Staatsmaschine stehen schwerreiche Männer, deren Güte es die Maschine verdankt, dass sie funktioniert. Denn diese reichen Männer und Frauen (denn das ist immerhin ein wenig anders geworden) liefern das Geld für die Ersatzteile der Staatsmaschine.

 

Es wäre alles schnell vorbei, wenn man das Finanzamt kaputt macht. Das Finanzamt ist der wichtigste und zentralste Maschinenraum des Staatsapparates. Dort sitzt nun ein kleiner populistischer Sonderling, Chef einer kleinen, populistischen Klientel-Partei. In den nächsten Jahren wird folgendes Bild aus diesem Teil des Maschinenraums zu uns dringen und das politische Feuilleton wird davon berichten: Mit den Händen ringende und nach Vernunft schreiende Spezialisten stürmen aus dem Finanzamt und die große Angst geht um, dass dieser Teil der Maschine, das Herzstück der Maschine zerstört werden könnte. Dann wird man den kleinen Sonderling aus dem Amt jagen und alles wird wieder so sein wie früher. Wir werden uns den Angstschweiß von der Stirn wischen und weise mit den Köpfen nicken. Wir wussten es schon jetzt. Oder alles geht ohnehin den Bach runter und die von mir beschworene Maschine ist sowieso schon jetzt nur noch die Karikatur einer Maschine. Auch das könnte sein.  Dann wäre all das Hebelziehen und Knöpfe drücken nichts weiter als eine Art Truman-Show für die „normalen“ und die „einfachen“ Leute, von denen gerne mal gekalauert wird.

 

 

ENDE

 

 

 

 

  

 

Der dritte Beitrag 2022

 

 

Das Unbehagen in der Pandemie

 

Anlass dieses Streifschusses: unglücklich, einsam und zölibatär

 

Noch drei Tage bis zum Jahr 114 A.F. Ziel ist eine Gesellschaft, die stabil, steril und infantil ist. Das sind die Leitideen der schönen neuen Welt von Aldous Huxley. Vom Weltstaat sind wir noch ein wenig entfernt. Die Menschen vermehren sich vorzüglich immer noch auf natürliche Weise und werden in der Keimzelle des Terrors (der Familie) zu Neurotikern großgezogen. Der Großteil der bald acht Milliarden Individuen glaubt noch an Geschichte, die in Wahrheit längst Geschichte ist. Die Vergangenheit steht in den Büchern und ist da gut weggeräumt.

 

Wir lieben unsere Sklaverei und die meisten Menschen flüchten aus Malpais, um glückliche und fleißige Konsumenten wie wir zu werden. John Savage steht derzeit frierend und hungernd an der polnisch-belorussischen Grenze. Freiheit und reichlich Brot für alle zusammen ist weiterhin nicht denkbar. Die Wissenschaft ist noch viel zu frei. Wir müssen noch mehr Steine in Brot verwandeln, noch mehr Sicherheit und Ordnung herstellen, um das Ideal der schönen neuen Welt zu erreichen. Unsere infantile Wegwerfgesellschaft ist vor allem an einem abwechslungsreichen Leben interessiert (wer zu viel nachdenkt – wie ich – leidet schnell unter einem sogenannten Präsenz-Defizit). Doch in den letzten beiden Jahren hat dieses Modell einer infantilen, sich an Spiel und Freizeit orientierenden Gesellschaft pandemische Risse bekommen. Die Ansprüche individueller Freiheiten, die sich in Amüsement und Spiel zum Ausdruck bringen, verstoßen gegen den Willen der Masse. Triebverzicht ist die Parole. Schon 1930 schrieb Sigmund Freud:       „Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die eine Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massen-ansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.“ In der Politik glaubt man allerdings, man könne Kultur als schmückendes Beiwerk begreifen und mit einem Staatsministerium kontrollieren. So rührig die schwäbische Studienabbrecherin und Ex-Managerin von Ton, Steine, Scherben auch ist (gemeint ist Claudia Roth), und so sehr man ihr Engagement gutheißen mag, das Problem ist nicht sie, sondern die Ignoranz politischer Herrschaft. Kultur ist die Summe unserer Leistungen und Einrichtungen, in denen unser Leben sich von dem unserer tierischen Ahnen entfernt. Kultur dient zwei Zwecken: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander. Das klingt nach einer – wie man das heute so plebiszitär nennt – gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, die mit der Kontrolle der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Kultur- und den Medienbereich (das ist die Aufgabe eines Kulturstaatsministers) nicht wirklich vollständig abgedeckt ist. Den ersten Zweck der Kultur haben wir – ganz ohne Ministerium – übererfüllt. Wir haben uns derart massiv gegen die Natur geschützt, dass sie nun beinahe weg ist. Jetzt schützen wir die Natur gegen die Kultur. Was irgendwie ein Treppenwitz ist oder aus den Annalen der Abderiten stammt. (Ich grüße Wieland und sein Biberach).

 

Den zweiten Zweck haben wir nicht minder übererfüllt. Über 80.000 Paragraphen regeln unsere Beziehungen. Sicherheit und Ordnung erfüllen den Leitspruch der Stabilität aus der literarischen Vorlage derart, dass wir unser Leben nur noch mit juristischem Beistand praktizieren können. Es ist keine Überraschung, dass 21 Prozent der Bundestagsabgeordneten Juristen sind. Wir verwalten uns zu Tode. Die instrumentelle Vernunft der Politik reduziert den Begriff der Kultur auf die Vergabe von Filmpreisen und regelt menschliche Beziehungen über die Anwaltskanzlei. Daher glaube ich nicht, dass die derzeitigen gesellschaftlichen Spaltungen von der Politik beherrschbar sind. Politik hat weder die Macht, noch die Mittel dazu. Demokratie als Herrschaftsinstrument reduziert sich auf die Wahl von leicht zerfallbaren, kurzfristigen Bündnissen, die im Sinne des Spektakels unorganisiertes Stegreif-Theater aufführen, mit der Tendenz zur Verrohung. Der Bürger als Mitwirkender in einem nationalen Passionsspiel.  Das kann den Auftrag nicht erfüllen und wird auch den von Freud diagnostizierten Konflikt nicht bewältigen können. Der Triebverzicht, den moderne Gesellschaften abfordern, wird immer und konstant von Neurosen und Psychosen begleitet werden. Der Beitrag der schönen Künste zur Linderung psychischer Leiden ist bekannt und wird in der Therapie auch eingesetzt. Taugen die schönen Künste auch als Gesellschaftstherapeutikum? Anders gefragt: Sollten die Künste wirklich noch schön sein? Aber was dann? Sind sie mehr als ein wenig Honig für den kratzenden Hals? Kultur ist alles, was wir haben und was uns Menschen auszeichnet. Man kann nicht gegen die Kultur sein, ohne zugleich gegen den Menschen zu sein. Es wird daher Zeit für eine neohumanistische Erneuerung im anti partikularistischen, universalen Stil. Was das wieder bedeutet, darüber denke ich dann weiter nach und verteidige derweil mein Präsenz-Defizit.

 

 

 

ENDE 

 

 

 

 

 

Der zweite Beitrag 2022

 

 

Der Aufstand der Massen

 

 

Von José Ortega y Gasset 

 

übersetzt ins Deutsche:

von Helene Weyl

 

erstmals erschienen 1931

in der DVA Stuttgart

 

Rasse heute, schrieben Adorno und Horkheimer 1944 (in Dialektik der Aufklärung)ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv. Und 15 Jahre zuvor schrieb Ortega y Gasset:

 

„Es gibt keinen Helden mehr; nur noch den Chor.“ Seit dem berühmten Buch von Gasset hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht. Aber nicht über diese Masse als Wachstum schrieb Gasset sein Essay. Die Individuen, die diese Mengen bilden, gab es vorher, aber nicht als Menge. Gasset spricht von der Sicht-barwerdung der Masse. Damit ist seine Analyse näher an Adorno als an Spengler (den Gasset auch im Text stark kritisiert). 

 

Gasset definiert den Massenmenschen als jemandem, der sich nicht selbst einen besonderen Wert beimisst, sondern sich für Durchschnitt hält und damit auch wohlfühlt, der selbst gar nichts Besonderes sein will, sondern wie alle anderen. Der elitäre Mensch unterscheidet sich so naturgemäß vom Massenmenschen als jemand, dessen Streben sich vom Durchschnitt entfernt. Der durchschnittliche, der gewöhnliche Mensch hat sich zu einer Art herrschaftslosen Herrschaftsform entwickelt. Der damit verbundene Stillstand ist vor allem ein Stillstand der sittlichen Entwicklung. Wenn es keine sittliche Entwicklung gibt, dann verfallen die Sitten. Gewohnheiten erstarren zu unverständlichen und zwanghaften Ritualen. Rituale, die keine Zeremonienmeister mehr haben. Darin ist ein komplexes Problem verankert, denn der gewöhnliche Mensch verfügt nicht über die nötigen Führungsqualitäten, da er nichts Besonderes will. Er ist per definitionem amoralisch. Seine Moral definiert sich durch seinen Gehorsam. Gasset definiert im letzten Abschnitt seines Essays, was einen Staat ausmacht und was den modernen Staat von den antiken Stadtstaaten unterscheidet.

 

Der moderne Staat gleicht einem multinationalen Unternehmen mit einem Expansionsdrang. Die Ziele des Staates liegen außerhalb seiner selbst.

 

Doch sobald ein Staat sich mit sich selbst befriedet und keine Expansionsidee mehr hat, sich auf nationalistische Motive einlässt, beginnt seine eigentliche Dekadenz. Der gewöhnliche Mensch, der Massenmensch hat selbst keine Ziele, keine Motivationen, die ihn antreiben. Er benötigt laut Gasset daher eine Führung, er benötigt Herrschaft und geht dann im Gehorchen auf. Dieses Gefüge, das in den Stadtstaaten durch die Sklaverei dargestellt war, konnte nicht halten. Im Gegensatz zum modernen zukunftsorientierten Staat, waren die antiken Stadtstaaten (Hellas, Rom) stärker an der Vergangenheit orientiert.

 

Wenn wir unsere Nation verteidigen, verteidigen wir unser Morgen, nicht unser Gestern, schreibt Gasset über den modernen Staat. Da aber die Stadtstaaten nicht dynamisch waren (Rom war als ewige Stadt konzipiert), wurde der Status quo verteidigt und der ergab sich in den antiken Stadtstaaten eher durch die Reliquien der Vergangenheit, als durch zukünftige Operationen. Daher konnte Rom Cäsar auch nicht verstehen.

 

Die Gewöhnlichkeit, die Ziellosigkeit des modernen Massen-menschen ist ein Mangel an Inspiration. Andererseits – und diesen Teil seiner Analyse darf man nicht übersehen – ist die moderne Welt von unendlichen Möglichkeiten erfüllt und strotzt nur so von wirtschaftlicher, kreativer und wissenschaftlicher Vitalität. Gerade dies hat sich in den vergangenen hundert Jahren seit dem Aufstand der Massen bewiesen. Das Problem dieser Vitalität ist der Überschuss. Der Überschuss an Zukunft. Eine derart dynamische Gesellschaft verfällt ohne unternehmerischen Spirit, ohne Betätigungsfeld für die vorhandene Kraft in Melancholie.  Der Zunahme an Lebensquantität und Intensität fehlen die nötigen Werte, die Qualität. Es geht – schreibt Gasset – dieser Gesellschaft wie dem Herzog von Orleans, von dem man während seiner Regentschaft, für Ludwig XV. sagte, dass er alle Talente besitze außer dem einen, sie zu benutzen.  Der moderne Staat ist – nach Gasset – die Einladung menschlicher Gruppen zur gemeinsamen Ausführung eines Unternehmens. Daher ist der moderne Nationalstaat in seiner Wurzel demokratisch (und das ist entscheidender als alle Unterschiede der Regierungsform).  So ist auch die Herrschaftsform durch das Plebiszit des vorherrschenden Volkstypus geprägt. Und das Volk des 20 . Jahrhunderts war ein Durchschnittsvolk. Man kann das heute noch dramatischer feststellen. Der Politiker des 21. Jahrhunderts verkörpert nicht nur den Idealtyp des gewöhnlichen Durchschnitts, er verkörpert auch die dysfunktionale Ideenlosigkeit eines mit effizienter instrumenteller Vernunft ausgestatteten Menschen.

 

Wissenschaftlicher Fortschritt – lautet die bislang nicht widerlegte Ortega-Hypothese – beruht auf der Arbeit von allen Wissenschaftlern, d. h. vor allem auch auf der Arbeit einer großen Masse von Wissenschaftlern mit mittelmäßigem Talent, die nur weniger bedeutende Ergebnisse erzielen würden, wobei die Summe all dieser kleineren Fortschritte aber einen wesentlichen Teil des gesamten wissenschaftlichen Fortschritts ausmache. Der Ameisenstaat aus Spezialisten zerstört mit seinem Partikularismus das Ganze, dekonstruiert den Überblick, den ein Universalist zu haben glaubt. Das Problem bei der Analyse von Gasset ist keine Frage der Beweisbarkeit. Ideen sind seit Kant immer regulativ. Es geht nicht darum, welches Ordnungsprinzip im Recht ist, sondern darum überhaupt eine Ordnung vorzufinden. Die Überkomplexität von industriell geprägten Gesellschaftsformen lässt ein Allgemeines kaum noch zu. Die Homogenität eines Staatsgebildes bildet danach eine natürliche Grenze.

 

Der Massenmensch hat diese Grenze längst überschritten. Seine Spezialisierung weist außerhalb seiner Betätigung weder Homogenität auf, noch Kontinuität. Es ist in der Tat bloße Negation (denn dieser Mensch repräsentiert keine neue Zivilisation, die mit der alten in Kampf liegt, sondern eine bloße Verneinung).  Der Massenmensch nimmt sich Meinungen heraus und bildet sich keine mehr. Denn er vermisst nichts, was über seinen Horizont hinaus geht. Das Prinzip der Verstockung bedeutet, dass der Massenmensch mit seinem Vorrat an Ideen zufrieden ist.  Das zeichnet den Massenmenschen als einen dummen Menschen aus, dass er seine eigene Narrheit nicht erkennt und sich – so begrenzt er ist – für gescheit hält. Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie. Dieser Satz über die Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer trifft auch auf die Bildungsindustrie zu. Bildung ist ein Geschäft. Der Massenmensch ist vornehmlich Konsument, Verbraucher. Der Mangel an Geist wird durch einen Überschuss an Produktion kompensiert. Ortega y Gasset konnte oder wollte die ökonomische Realität der Massenökonomie nicht wahrnehmen, nicht die Warenhaftigkeit des Seins. Das hätte ihn genötigt, dem Kommunismus das Wort zu reden. Aber man muss heute kein Kommunist sein, um den Kapitalismus als apokalyptisches Drama zu kritisieren. Nur – und das ist das Problem von dem Gasset schrieb – uns fehlt eine Idee, es anders zu machen. Zu sehr hat sich inzwischen die Autopoesie der Ökonomie in die Mechanik der Gesellschaften eingefressen. Sich eine wachstumslose Wirtschaft nur vorzustellen, stellt sich bereits widersinnig zu unserem Ökonomiebegriff. Wirtschaft und Wachsen sind eine Worteinheit geworden. Gasset attestiert dem Massenmenschen sittlichen Verfall und Amoral, weil ihn die Prinzipien der Kultur kaltlassen und er sich lieber für Automobile und Anästhetika interessiert. 

 

Die Welt ist zivilisiert, aber ihre Bewohner sind es nicht; sie sehen nicht einmal die Zivilisation an ihr, sondern benutzen sie, als wäre sie Natur.

 

Gasset erkennt tiefgründig, dass dieser moderne Mensch die von Menschen hergestellte Welt für die eigentliche Welt hält und nicht die Natur selbst. Er verwechselt natura naturata (hergestellte Natur) mit natura naturans (sich selbst schaffende Natur), um es mit diesen aus der Scholastik stammenden Begriffen zu kennzeichnen.  Das tut er, weil er nicht mehr universal an der Herstellung beteiligt ist. Die partikulare Erscheinungsform des Massenmenschen verhindert, dass er sich einen Begriff vom Ganzen machen kann. Die Warenhaftigkeit des Seins suggeriert dem Massenmenschen, dass die Welt selbst warenhaft ist. Die Welt ist käuflich, ein Geschäft. Dies ist immerhin ein letztes Ordnungsprinzip. Gewinnmaximierung, Wachstum. Und das ist die falscheste Idee, die wir aktuell haben könnten. Sie ist auch eine dumme Idee. Es ist eine ideenlose Idee – wenn man so will. Die Frage ist allerdings, ob uns ein elitäres Anspruchsdenken zu einer neuen Idee verhilft, die uns retten kann. Aber jene große Frage muss diesen Seiten fernbleiben; sie ist allzu groß. Sie würde uns dazu zwingen, in ihrer ganzen Fülle die Theorie des menschlichen Lebens zu entrollen …, vielleicht, dass sie bald ein Schrei wird.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

Der erste Beitrag 2022

 

 

DIE DUNKLE SEITE DER MACHT

 

 

Streifschuss vom 07. Januar 2022

 

Anlass: Das Volk wird nicht verarscht,

es ist im Arsch.

 

Die dunkle Seite der Macht

 

Es ist inzwischen eine gewisse Mode geworden, auf Politikern herumzuhacken. Auch die Medienvertreter zwingen die Politiker oft dazu, in diverse Hohlräume zu kriechen, um dort für Absolution zu beten. Dabei sind sie gar nicht so schlecht – verglichen mit dem Volk, das sie regieren müssen. Dieses Volk kriecht derzeit wirklich aus allen Höhlen heraus und macht sich auf eine Weise breit, dass man es nicht mehr übersehen kann. Und wenn man das Volk ständig sehen muss, verursacht dies zunehmende Übelkeit bei denjenigen, die sich nicht wirklich zum Volk zählen, weil sie es ja regieren müssen. Man muss die Politiker wirklich loben, dass sie sich nicht übergeben, wenn sie mit dem Volk sprechen. Nehmen wir einmal die Querdenker, Verschwörungstheoretiker und all die ganzen Irren aus der Rechnung heraus, dann bleiben immer noch die Spießbürger, die Halbgebildeten, die Ignoranten, die ewig nörgelnden Kleinbürger, die Konsumtrottel, die auch bei Dunkelheit Sonnenbrillenträger (anglizistisch Performer genannt), die Emporkömmlinge (auch arriviert genannt), die post materiellen Aussteiger (früher arbeitsscheue genannt). Kurz, die Querdenker und Spinner sind bei Weitem nicht das einzige Problemvolk. Und alle kann man täglich sehen, von Arte bis YouTube breiten sie sich aus und verpesten die ohnehin schon staubige Luft.

 

Lediglich 10 Millionen Deutsche lassen sich als regierbar einstufen. Das ist der Anteil der unter 14-Jährigen in diesem Land. Kinder an die Macht? Keine schlechte Idee, denn sobald sie Akne bekommen, kann man sie wieder aus der Macht entfernen.

 

Jetzt ist natürlich auch viel Volk in der Regierung. Man bekommt gerade in einer Demokratie das Volk nicht aus der Regierung raus. Es hat sich da regelrecht eingenistet. So haben immerhin 70 Prozent aller Deutschen wenigstens einen Bachelor (von bacca für Kuh). Wenn man nun unser Kabinett anschaut, stammen alle 17 Minister aus dem Volk. Sie haben ein abgeschlossenes Kuhdium, äh Studium – also wenn man Sozialpädagogik tatsächlich als Studium betrachten kann, denn das ist ja ein Fach, das man nicht abschließen kann, so wenig wie Philosophie. Wie oder was wird denn bei (immerhin zwei Minister) Philosophie abgeschlossen?

 

Sechs Anwälte im Kabinett, aber nur zwei Politologen. Eine ehemalige Briefträgerin vertritt einsam das Proletariat. Steffi stammt aus Querdenkenhausen (Sachsenreich) und hat dann nach ihrer Briefträgerkarriere Agrarwissenschaften studiert. Eine Bäuerin, zwei Philosophen, sechs Anwälte, zwei Politologen. Das bildet die Kartoffelgrafik der deutschen Politik und des deutschen Volkes. Denn auch das Volk besteht mehrheitlich aus Anwälten, Rechtsvertretern (wobei auf dem Vorgang des Vertretens der Schwerpunkt liegt, so wie man sich mal eben die Füße vertritt). Das deutsche Volk ist von einer enormen Rechtsgläubigkeit beseelt und hält das Grundgesetz für eine Bibel, geschrieben von langbärtigen Patriarchen, die im Schnitt 900 Jahre alt wurden. Das deutsche Volk ist ein halbgebildetes, dilettantisches, abschlussgeiles Volk, das von der Kreidezeit unmittelbar in die Jurazeit wechselte. Und es passt in die Jurazeit, dass man Atomenergie zur grünen Energie erklärt. Denn Rechtsgläubigkeit glaubt an das Recht, und Recht ist das, was geschrieben steht. Steht dann da geschrieben, Atom ist grün, dann ist jeder Pilz essbar. Und das deutsche Volk frisst und frisst. Es wird immer fetter und fetter – man spricht schon von einer „Fetternwirtschaft“ in diesem Land. Alle haben fertig studiert (fertig wie aus und vorbei, haben sich also aus studiert) und werden jetzt nicht mehr klüger, nur fetter. Denn wer ist klüger als die Polizei? Niemand.

 

 

ENDE