SIEGEREHRUNG ZUM WETTBEWERB
PAULI ESPOSITO II 2022
Gewinner im 2. Rang mit einem Preisgeld von 100 Euro
Marcus Strasser
Marcus Straßer lebt seit 50 Jahren auf diesem Planeten, ist eigentlich Diplom-Physiker, arbeitet als Programmierer in einer Softwarefirma für Verlage und die Buchbranche.
Nebenher hat er aber schon sein gesamtes Leben nicht nur Computerprogramme, sondern auch Geschichten und Bücher geschrieben, früher auch Kinderhörspiele für das Radio.
Er hat mehrere Romane als Self-Publisher veröffentlicht, darunter auch ein ganzes Buch mit Gerald und B., welches wir unserer Leserschaft in den nächsten Tagen vorstellen werden. Für den
Wettbewerb hat er seine beiden Lieblings-Protagonisten, Gerald und B, mit einer separaten Kurz-geschichte eingesetzt.
Hier ist Marcus Strassers Geschichte mit der Beitrags Nr. 43
Gerald, B und die Zombies
Sie hatten nicht gewusst, dass Untote so schnell laufen können.
In dem Moment, da sie im letzten Licht des Abends davonrannten, fuhr es Gerald durch den Kopf, dass all die Filme, all die Bücher sie offenbar schlichtweg angelogen hatten.
Kriechende, watschelnde Zombies? Ein einziger Witz.
Gerald mochte es nicht zu laufen. Er mochte keine unnötige Bewegung. Und das nicht nur, weil ihm dann die Brille von der schwitzenden Nase rutschte. Aber in diesem Augenblick rannte er vor einer Horde Zombies davon, da hatte er kaum eine Wahl.
„Da! In den alten Bunker." B lief einige Meter voraus und zeigte auf einen kleinen Hügel, der hier im Wald kaum sichtbar zwischen den breiten Bäumen lag.
Gerald versuchte gleichzeitig zu nicken und zu rennen, aber er war sich nicht sicher, ob es ihm gelang.
B hatte den Hügel erreicht und drehte sich zu ihrem Freund um.
„Schnell! Sie sind direkt hinter Dir!"
Gerald hatte keine Kraft mehr, um zu antworten. Er konnte nur noch rennen. Und hören. Er hörte die unzähligen Schritte hinter sich. Wurden sie lauter? Kamen sie näher? Er hoffte, dass nicht irgendwo unter den vielen Blättern ein verdammter Ast, eine verdammte Wurzel oder auch nur ein verdammter Erdhaufen wäre, der ihn zu Fall brächte, sodass die Meute Untoter hinter ihm sich auf ihn stürzen und augenblicklich sein Gehirn auffressen würde.
Gerald mochte sein Gehirn. Genaugenommen war es das einzige, das er an sich mochte.
Er folgte B die moosbewachsene Treppe hinunter, die hier im Schatten in die Tiefe führte, hinab in einen finsteren, leeren Raum.
„Die Tür!" Gerald und B schmissen sich gegen die schwere Eisentür, die mit einem tiefen Klacken zufiel.
Es wurde völlig dunkel.
Und still.
Sie hörten nur ihren eiligen Atem, der sich nur langsam beruhigte.
Ein, aus.
Ein, aus.
„Meinst du, die Tür hält?", flüsterte Gerald.
„Warum flüsterst du?"
„Keine Ahnung. Meinst du, die Tür hält?"
„Ich weiß es nicht."
„Warum weißt du es nicht?"
„Woher soll ich wissen, ob diese verrostete Tür hält, wenn da draußen mindestens eine Million Zombies sind?"
„Es sind ganz sicher nicht eine ..."
„Das spielt doch keine Rolle. Hast du die Taschenlampe?"
„Natürlich habe ich die Taschenlampe."
Es war ein leises Klicken zu hören, dann erhellte ein greller Lichtstrahl den Raum.
„Nicht in die Augen!" B kniff das Gesicht zusammen.
„Entschuldige."
Sie starrten auf die Tür.
B legte ihre Hand auf das rostige Metall, als könne sie so erkennen, ob ihre Verfolger bereits auf der anderen Seite standen.
„Können Untote Türklinken benutzen?"
B hieß eigentlich Beatrice, aber sie hasste ihren Namen. Früher hatten ihre Eltern den Namen schlicht zu Bea verkürzt, aber das hasste sie jetzt noch mehr. Also nannten sie nun alle einfach nur noch B.
B und Gerald waren beide zwölf Jahre alt und kannten sich bereits seitdem sie gemeinsam im Kindergarten gespielt hatten. Sie waren beste Freunde. Sie waren auch ihre jeweils einzigen Freunde. Das war auch der Grund, warum sie überhaupt noch jede freie Minute miteinander verbrachten, obwohl sie unterschiedlicher kaum hätten sein können.
„Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Was machen wir jetzt nur?" Geralds Stimme zitterte.
Gerald war sicher einen halben Kopf kleiner als B, trug eine grüne Latzhose und eine runde Brille aus dünnem Metall, die ihm beständig die Nase herunterrutschte - auch dann, wenn er gerade nicht um sein Leben lief. An B hingegen war alles schwarz: Die Hose, die Jacke, die Haare, die Fingernägel, die sie sich schwarz lackiert hatte, obwohl ihre Eltern das doch wieder und wieder verboten hatten. Sie hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, dass die gesamte Welt dem Untergang geweiht war, musste jetzt jedoch überrascht feststellen, dass es sie im Moment nicht wirklich zufrieden stellte, recht gehabt zu haben.
B versuchte, Ruhe zu bewahren, aber es schien auch ihr schwer zu fallen.
„Wir warten", schlug sie vor.
„Warten? Hier? Hier ist nichts."
Der Raum war in der Tat völlig leer. Lediglich der zersplitterte Putz, der von den Wänden abgeblättert war, lag wie kantiger Schnee auf dem grauen Boden.
„Es riecht ..."
„... komisch." B verzog angewidert das Gesicht.
„Wer weiß, wie lange niemand hier war?"
„Ja, die Luft ist alt."
Dann fiel ihr Blick erneut auf die Tür.
Sie schwiegen einen Moment und hörten leise wieder nur ihrem Atem zu.
Ein, aus.
Aber sonst nichts. Kein Kratzen, kein Schlagen, kein Donnern an der Tür.
„Es ist ruhig. Das ist gut, oder?", fragte Gerald.
„Vermutlich."
„Also warten wir?"
„Was sonst?"
„Wie lange warten wir?"
„Keine Ahnung."
Geralds Gesicht hellte sich plötzlich auf und er griff gekonnt in die Seitentasche seiner dünnen Jacke und holte ein zerfleddertes Notizbuch hervor.
„Aber ich weiß es", er blätterte durch das Buch, hielt plötzlich bei einer Seite inne und hob bedeutsam den rechten Zeigefinger: "Zombies können nur des Nachts unterwegs sein."
„Des Nachts?"
„Ganz recht."
„Gilt das nicht nur für Vampire?"
Gerald liess irritiert den Finger wieder sinken.
„Also hier steht..."
„Nur weil es da steht..."
„Du weißt genau, das alles, was ich hier notiere, äußerst präzise und korrekt ist, denn..."
„Du notierst da sonst nur Dinge über Quadratphysik und..."
„Quantenphysik."
„Was auch immer, auf jeden Fall nichts, was ich verstehe, und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch du nichts davon verstehst."
„Das … das spielt wohl jetzt kaum eine Rolle."
„Ich denke schon, dass ..."
B stockte.
„Hast du das gehört?"
Geralds Augen weiteten sich und er flüsterte: „Was?"
Wieder schwiegen sie.
Wieder nur ihr Atem.
„Nichts." B schien nicht sehr überzeugt.
Gerald schob sich die Brille zurück auf die Nase:
„Also ich schätze, wir haben nur zwei Optionen: Wir warten oder wir gehen wieder dort hinaus."
Sie schauten erneut auf die schwere Eisentür und versuchten sich vorzustellen, was dahinter lauerte.
„Wir warten", beschloss B, ging zu einer der vier Wände und setzte sich nachdenklich auf den Boden.
„Wir warten." Gerald stand lieber. Er bekäme sicher Ärger, wenn seine Hose dreckig würde.
B schloss für einen Moment erschöpft die Augen:
„Ich wusste, dass die Welt zugrunde gehen würde, aber so ...?"
Gerald war sich nicht sicher, ob B darauf eine Antwort erwartete, also blätterte er lieber noch ein wenig in seinem Notizbuch. Aber dort fand er auch keine Lösung. Er schloss das Buch wieder und verstaute es in seiner Jacke.
„Was glaubst du, wofür dieser Bunker gebaut worden ist?"
B zuckte nur mit den Schultern: „Krieg?"
„In der Vergangenheit oder in der Zukunft?"
B zuckte wieder mit den Schultern, sagte aber nichts weiter.
Gerald leuchtete mit der Lampe an die weiße Decke:
„Also ganz sicher wurde er nicht gebaut, um Untote aufzuhalten. Vielleicht eine Atombombe? Meinst du, der Bunker würde eine ganze Atombombe aushalten?"
„Gerald, woher soll ich das alles wissen? Ich bin keine Zombiebunkerexpertin. Du sagst doch immer, du würdest dich mit Atomen auskennen."
Gerald senkte nachdenklich den Lichtstrahl.
„Allerdings ist er im Wald versteckt. Man kann sich nicht vor einer Atombombe verstecken. Also vielleicht doch Außerirdische."
B starrte ihn jetzt mit großen Augen an:
„Außerirdische?"
„Ja sicher, was denn sonst? Stell dir vor: Draußen fliegen unzählige Ufos umher, Armeen von grünen Männchen mit tödlichen Lasergewehren ziehen durch die Straßen. Dann wäre dieser Bunker doch perfekt."
„Also mir reichen die Zombies da draußen."
Gerald nickte nur, „richtig, mir auch."
Sie warteten.
Und schwiegen.
Nichts geschah.
Also warteten sie weiter.
Und schwiegen.
B malte mit ihrem Finger Figuren in den Staub. Sie schien frustriert.
„Das ist echt langweilig."
„Langweilig?"
„Ja, hier sitzen und warten. Das ist echt langweilig. Vielleicht war das alles eine blöde Idee. Vielleicht sollten wir doch einfach wieder hinausgehen."
Gerald hob beschwichtigend die Hände:
„Nein, nein, wir können doch nicht da raus. Die Zombies. Bitte. Lass uns warten. Es ist doch nicht langweilig. Wir sind hier. Umgeben von Untoten, dem sicheren Tod dort draußen, wir haben Angst ...," er stockte kurz:
„Hast du Angst?"
B schien zu überlegen.
„Also gut. Vielleicht. Ein bisschen. Und du?"
„Ich weiß nicht. Ich versuche nicht daran zu denken, dass dies hier unser letzter Tag sein könnte."
B nickte und ihr Atem wurde schwer, so ein düsterer Gedanke schien ihr zu gefallen
„Der letzte Tag. So für immer. Wir ..., wir sind doch erst zwölf. Das …, das ist nicht fair.“
„Was ist schon fair?“
„Ja, was ist schon fair? Man sollte sich zumindest auf das Ende vorbereiten können, oder? Ich meine, das ist doch etwas Besonderes. Gerade noch machst du deine dämlichen Hausaufgaben und plötzlich reißt dir ein Zombie den Kopf ab? Das ist doch ein Witz. So sollte das nicht sein. Man sollte zumindest …, sagen wir, einen Tag haben, um sich vorzubereiten.“
Gerald kniff nachdenklich die Augen zusammen. Er hatte es noch nie so recht verstanden, wenn B diese seltsamen Gedanken hatte.
„Wenn wir wenigstens noch einen Tag hätten ..." B wischte das Bild wieder aus, das sie in den Staub gemalte hatte. "…, was würdest du tun, wenn du noch einen Tag hättest? Du weißt, dass es morgen zu Ende ist, aus und vorbei, aber du hast noch diesen einen Tag."
Gerald kratzte sich nachdenklich mit der Taschenlampe an der Stirn, was das Licht nervös über die Wände springen ließ. Gerald war gut darin zu lernen, zu verstehen, was andere Menschen aufgeschrieben hatten. Er hatte sicher jedes Buch über Physik und Astronomie gelesen, die er finden konnte, aber sich selbst Gedanken zu machen, einfach so, das war oft nicht seine Stärke.
„Ich würde eine Zeitmaschine bauen", erklärte er schließlich stolz.
„Eine Zeitmaschine? Im Ernst? An einem Tag? Eine ganze, verdammte Zeitmaschine?"
„Warum nicht?"
„Warum nicht? Ich fasse es nicht. Also gut, du baust eine Zeitmaschine, wohin würdest du damit reisen?"
Gerald musste nicht lange nachdenken.
„Damals. Du weißt doch, als meine Eltern noch …, also ich würde versuchen, das zu verhindern. Irgendwie." Er verschränkte bestimmt die Arme.
„Die Zombies übernehmen die Welt, du hast eine Zeitmaschine und du würdest sie nutzen, um die Trennung deiner Eltern zu verhindern?"
Gerald nickte nur stumm.
B schüttelte den Kopf:
„Das ist sicher das dämlichste, das ich je gehört habe."
"Wieso dämlich? Du weißt ja nicht, wie es ist. Deine Eltern sind noch da und zusammen."
„Sie sind da? Ha! Sie sind eben nicht da. Sie sind unterwegs. Jeden verdammten Tag unterwegs. Unterwegs, unterwegs, unterwegs. Du hast zumindest deinen Vater, der jeden Tag da ist, oder?"
„Schon, ich ..."
„Und ich wette, er fragt dich jedes Mal, wenn du von der Schule kommst, Wie war es, Gerald? War es schön in der Schule, Gerald? Was habt Ihr gemacht, Gerald."
„Ja, das nervt."
„Ja, das nervt, aber mich fragt niemand irgendwas. Weil einfach niemand da ist. Ich würde mit deiner Zeitmaschine zurückreisen und meinen Eltern einfach alles Geld wegnehmen. Dann wären sie wenigstens zu Hause."
„Ha, sicher. Wenn man reich ist, denkt man, das viele Geld sei ganz normal und völlig unwichtig."
B schnaubte nur verächtlich.
Gerald standen fast Tränen in den Augen.
„Du hast ja keine Ahnung wie es ist, mit einer Mutter, die alle zwei Wochen zu Besuch kommt. Zu Besuch! Die eigene Mutter. Du hast ..."
„Ach was, du kapierst ja gar nichts."
„Und du ..., du."
Sie schrien jetzt. Keiner wusste, warum eigentlich.
Was war nur passiert?
... Aber dann hörte Gerald das Kratzen.
„Da! Sie kommen!" Gerald zeigte mit zittrigem Finger auf die Tür.
„Was? Wo?"
„Das Geräusch! An der Tür."
„Ich weiß nicht, ich..."
Aber dann hörte B es auch. Sie sprang auf und jetzt starrten sie beide entsetzt auf die Tür. Aus dem Kratzen wurde ein leises Pochen, ein dumpfes Schlagen an der anderen Seite.
„Was jetzt? Was jetzt?" Gerald schwenkte die Taschenlampe hin und her, als könne er so die Untoten vertreiben.
„Keine Ahnung. Hier ist ja nichts. Gar nichts."
„Vielleicht gibt es doch einen Ausgang, eine versteckte Tür, irgendwas..."
Ohne auf eine Reaktion von B zu warten, leuchtete Gerald die einzelnen Wände ab und schob mit seinen Schuhen den Putz des Bodens. Weißer Staub wirbelte durch den kleinen Raum und B musste husten.
„Das ist doch Unsinn!"
„Hast du eine bessere Idee?"
Sie schrien wieder. Jetzt aber laut und panisch.
„Nein, ich..."
„Hier! Hier! Da ist etwas im Boden."
Gerald schien einen Moment zu überlegen, ob er sich mit seiner sauberen Kleidung in den Staub knien könne, dann beugte er sich hinab und legte einen rostigen Ring frei, der an einer hölzernen Falltür hing.
Das Klopfen an der Eisentür wurde lauter. Und es wurde mehr. Die Tür bebte bereits schwer im Takt der Schläge.
B sprang ihm zur Seite und gemeinsam zogen sie an dem Ring. Der trockene Staub wirbelte ihnen ins Gesicht, er brannte in den Augen.
Mit einem dumpfen Knallen klappte das hölzerne Brett auf den Boden und gab einen engen Schacht frei, der über eine Leiter in die Tiefe führte.
B rieb sich den Putz aus den Augen:
„Da runter? Wir wissen doch gar nicht, was da ist."
„Draußen sind die Zombies, das wissen wir sicher."
Gerald schob sich bereits vorsichtig die Leiter hinab.
B schien unsicher.
„Ja schon, aber ich weiß nicht, da waren wir doch noch nie."
Sie biss wütend die Zähne zusammen. Sie mochte es nicht, wenn Gerald mutiger war als sie.
Es wurde dunkel im Raum. Mit Gerald war auch das einzige Licht verschwunden. Es blieben nur die Geräusche an der Eisentür.
„Komm!" hörte B von unten und sie entschied sich frustriert, ihrem Freund doch besser zu folgen.
Die Leiter führte in einen kurzen, leeren Gang, an dessen Ende eine spröde, hölzerne Tür wartete, die Gerald bereits aufstemmte.
„Los, los, hier hinein.“
Sie hechteten in den Raum und schlossen die Tür.
Sie standen in einem quadratischen, großen Zimmer, in dem unzählige, verrostete Bettgestelle wie in einem Schachbrettmuster aufgereiht waren. Auf einigen lagen noch Überreste alter Matratzen, auf dem Boden kleine, verstaubte Flaschen, metallenen Schalen und Becher. Es roch dumpf und noch älter. Alles lag unter einer dünnen, weißen Schicht Staub, der entrüstet aufgewirbelt war, als die beiden in den Raum gestürmt waren.
„Was ist das hier?“, B trat einen Schritt zurück an die Wand.
Gerald schüttelte den Kopf:
„Vielleicht ein Krankenhaus? Ein Krankenhausbunker. Gibt es so etwas?“
B ignorierte die Frage:
„Ich bin mir echt nicht sicher, ob wir hier sein sollten. Ich glaube nicht, dass hier schon mal jemand war, also nach damals, wann immer auch damals war.“
Gerald schlängelte sich vorsichtig durch den Raum und lenkte das Licht der Taschenlampe ängstlich auf jedes Bett, jede Matratze und jedes Regal an der Wand, als würde er erwarten, dass ihn eines davon jederzeit anspringen könnte.
Schließlich drehte er sich wieder zu B um. Er schien zu versuchen, seine Angst unter Kontrolle zu bekommen. Er strich nachdenklich über sein Kinn:
„Ich denke, wir haben erneut nur zwei Optionen, wir finden irgendwo dahinter …“, er leuchtete auf eine weitere Tür, die aus dem Raum hinausführte …, „einen Ausgang, der uns ins Freie bringt, irgendwohin, wo es keine Zombies gibt.“
„Oder?“, B hob fragend die Arme.
Gerald grinste unsicher:
„Oder …, es gibt keinen solchen Ausgang. Dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns hier zu verstecken, vielleicht …, für immer.“
B ging aufgebracht mit großen Schritten durch den Raum:
„Hier? Bleiben? Ich glaube kaum, dass …“
Es gab einen hellen Knall, als sie unbemerkt eine der alten Flaschen von einem Bett stieß und diese auf dem Boden zersprang.
Ihr Atem stockte.
Geralds Augen weiteten sich:
„Das haben die sicher …“
Mehr musste er nicht sagen, denn sie hörten schon das Klopfen und Stampfen. Und dann das Poltern gegen die Tür. Wieder und wieder.
Gerald und B starrten sich an.
Was hatten sie hier auch verloren? In einem Bunker? Warum waren sie im Wald nicht einfach weitergelaufen? Oder auf einen Baum geklettert. Nur nicht in diesen verdammten Bunker, ohne Ausweg, eingesperrt irgendwo unter der Erde. Die Zombies würden sie finden und auffressen und niemand würde jemals erfahren, was mit ihnen geschehen war. Ihre Überreste würden in einem verstaubten Raum verrotten, den seit unzähligen Jahren niemand geöffnet oder gesehen hatte, irgendwo zwischen verrosteten Betten und zerfallenen Matratzen.
Diesmal war es B, die Gerald an der Hand fasste und ihn zu der anderen Tür zog.
Die Tür, durch die sie hineingekommen waren, schien zu explodieren, als die Zombies hindurch brachen.
Gerald und B blickten sich nicht um. Sie hörten nur noch die Schritte hinter sich, unzählig, und Laute, die nichts Menschliches mehr hatten.
Durch die andere Tür! Auch nur aus dünnem Holz.
Dahinter noch ein Gang.
An den Wänden unzählige Stühle aufeinandergestapelt. Das Licht der Taschenlampe warf ihre Schatten wie bizarre Knochen an die Wände.
Weiter, weiter.
Jeder Gang muss ein Ende haben.
Hinter sich hörten sie schon das Donnern an der Tür. Das Knarren und Splittern.
Da waren nur noch ihre Schritte und ihr Atem. Tapp, tapp, tapp. Ein, aus, ein, aus.
Noch ein Raum. Groß und weit.
Kreisrund.
Voll mit Tischen und Schränken und Regalen.
Aber am Ende eine letzte Tür. Mit einem kleinen Schild. ‚Ausgang‘. Tatsächlich ‚Ausgang‘!
Dann ein kurzer Stoß, ein verzweifelter Ruf von Gerald und ein metallenes Scheppern ...
…, und schließlich Dunkelheit.
Die Taschenlampe!
Vollkommen. Schwarz.
B rannte blind vor einen Schrank.
„Ahh, was zum ….“
„Die Taschenlampe. Sie ist … sie ist…“
Es war finster. Absolut finster. Für einen kurzen Augenblick war es sogar völlig still, aber dann hörten sie die Geräusche. Noch weit hinten im Gang. Aber nicht mehr lange.
„Wie kannst du die verdammte Taschenlampe fallen lassen?“
„Ich bin gerannt. Ich…, ich …, wir müssen sie suchen, sie muss hier irgendwo liegen, irgendwo …“
„Das kann doch echt nicht sein, Gerald. Die werden uns kriegen. Hier im Dunkel … es ist so schrecklich dunkel …“
„Such’ die Taschenlampe“.
„Ich suche ja, ich kann es nur nicht fassen. Ich werde sterben, weil mein Freund nicht mal eine Taschenlampe …“
„Ich … ich …“
Sie krochen über den Boden wie zwei Blinde und tasteten sich zitternd durch bitteren Staub vorbei an Beinen aus Holz und Körper aus Metall.
„Ich hätte das Licht nehmen sollen, bei dir geht alles daneben, was du nicht in dein verdammtes Notizbuch schreiben kannst. Daneben, daneben!“
Die Geräusche aus dem Gang wurden lauter.
„Ach ja? Wenn ich dir die Taschenlampe gegeben hätte, dann wärst du direkt zu den Zombies gerannt, weil ja dein verwöhntes Leben so schrecklich sinnlos ist.“
„Besser noch als ein Leben als Kleinkind, in dem der eigene Papa schicke Latzhosen aussucht und man nicht mal auf eine Taschenlampe aufpassen kann!“
Dann ein Klicken und es wurde wieder hell.
Gerald hatte die Taschenlampe gefunden. Für einen winzigen Moment schauten sie sich an, aber niemand sagte etwas. Dann rannten sie zum Ausgang.
B riss die Tür auf.
Endlich. Hinaus!
Draußen war es Nacht. Der Mond tauchte den Wald in blaues Licht.
Direkt vor ihnen stand die hohe Silhouette eines Mannes.
Nein, nein, nein!
Was jetzt?
Aber da war kein Ausweg mehr.
„Hier finde ich Euch.“
Gerald seufzte nur.
„Mensch, Papa, doch nicht jetzt. Wir spielen, Nacht im Bunker‘ – mit Zombies!“
Der Mann schüttelte den Kopf: „Es ist viel zu spät. Los, es gibt Abendessen.“
Die Kinder ließen die Köpfe hängen und folgten Geralds Vater den Waldweg entlang.
Zurück nach Hause.
Gerald schaute unsicher auf den Boden.
„B, also wegen dem da drinnen, was ich so alles gesagt … ich meine, ich wollte … “
B nickte nur, ohne aufzusehen;
„Ja ..., ich auch, ich wollte auch nicht … es war einfach …“
„…, der Bunker …“
„… alles war plötzlich so dunkel …“
Dann schweigen sie und sie hörten wieder nur das langsame Rascheln ihrer Schritte.
Schließlich sah Gerald seine Freundin doch an: „Treffen wir uns morgen wieder, um zu spielen?“
„Aber keine Zombies.“
„Vielleicht etwas mit Außerirdischen!“
B dachte nach, dann lächelte sie: „Ja, das machen wir.“
ENDE
Veronica Schaller vom Lesezirkel LeBuzEbjK meint dazu:
„Marcus hat ein sehr ausgeprägtes Gefühl für Kinderherzen. Auch wenn er seine Leser zunächst im Glauben lässt, mit einer echt grausigen Zombie-Geschichte aufzuwarten, gelingt ihm zum Schluss die Überraschung, dass es sich um ein Kinderspiel handelt, welches jedoch nicht desto weniger spannend verläuft. Auch wenn dieses Spiel zunächst abrupt von erwachsener Hand beendet wird, handelt es sich nur um einen Unterbruch, denn die scheinbar unzertrennlichen Gerald und B, planen, bevor sie zu Hause ankommen, bereits ihr nächstes Spiel! Ihre beiden Protagonisten beeindrucken nicht nur durch ihre Fantasie Marcus, sondern auch durch ihren Umgang untereinander. Prima Geschichte."
Gewinnerin im 3. Rang mit einem Preisgeld von 50 Euro
Gisela Lost
Gisela Lost hat sich mit Ihrem Beitrag etwas Ausgefallenes einfallen lassen. Mit FRAGMENTE EINER EHE, beschreibt sie einen verwirrten Ehemann, der zuweilen nicht mehr weiß, mit welcher Frau er zusammen ist. In seiner Verwirrung nimmt er zwar Dinge wahr, die ihm ebenso dubios wie mysteriös vorkommen, doch schiebt er sein schwaches Erinnerungsvermögen einerseits seiner Vergesslichkeit zu und versucht dabei auch eine Liaison mit einer vermeintlichen, geheimen Liebhaberin zu vertuschen. Als er endlich Verdacht schöpft, deckt er ein grauenvolles Ereignis auf.
Hier ist die Geschichte von Gisela Lost mit der Beitrags Nr. 12
Fragmente einer Ehe
Martin sitzt im Zug. Es ist Nachmittag, ein nebliger Winternachmittag, der sich wie ein ewiger Abend anfühlt. Ein ewiger Montag. Kühl und zäh. Er schaut durchs Fenster und tut so, als ob er die junge Frau gegenüber nicht genau beobachten würde. Alle seine Sinne sind auf diese junge Frau und ihre Karteikärtchen gerichtet. Eine rosa Jacke, die mühelos die blonden Haare fängt; ein weißer Pulli und zarte Finger, geschmückt mit dünnen, goldenen Ringen. Hellblauer Nagellack – ein perfekter Kontrast zu den gelben Karteikarten. Eine schüchterne, elegante Handschrift, die gut zu den weichen Augen passt. Nächste Station – Putzigen. Ungestört von der roboterhaften Stimme der Durchsage räumt die junge Frau alles sorgfältig auf: Karten in die Kiste, Buch und Heft zu. Als erstes kommt das Buch in den Rucksack, dann das Heft und als letztes die Kiste; eine heilige Ordnung. Sie trinkt einen Schluck Wasser und, nach einer gründlichen Desinfizierung, kremt sie ihre Hände ein. Sie gibt sich noch einen Moment vor dem Aufstehen und Martin hat das Gefühlt, dass das das sauberste, bravste Wesen der Welt ist. Er will ihr nach Hause folgen, weil es dort bestimmt nach Lavendel oder Babypuder riecht. Von der Tatsache, dass sie frische Bettwäsche hat, ist er fest überzeugt. „Tschüss“, flüstert sie freundlich und lässt ihn stumm zurück.
Nun ist er seinem eigenen Schmutz überlassen. Er denkt an seine Wohnung und an die längst nicht mehr bezogene Bettwäsche, in denen Linda bestimmt noch versteckt liegt. Er fühlt sich machtlos und müde und schuldig. Er will nicht zu ihr und ihrer erstickenden Trägheit. Er will nicht zu dieser Wohnung, die ein platzloser Container geworden ist. Seit über einem Jahr, seitdem Oma Manu in Koma liegt, hat er seine Frau nicht mehr lächeln gesehen. Die Fremde, die ihren Platz eingenommen hat, ist nur noch eine Hülle, zu der er keinen Zugang hat. Ich habe alles versucht, denkt er halbüberzeugt. In der Tat hat sich Martin viel darum bemüht, seiner Frau zu helfen. Ergebnislos. Ich habe alles versucht, wiederholt er wie vor einem unsichtbaren Gericht. Dies hier war keine Geschäftsreise. Er kommt sich grausam vor. Die Toten mit den Toten, die Lebendigen mit den Lebendigen. Gefangen zwischen Tadeln und Rechtfertigung. Ist das so schlimm? Hat er kein Recht auf Leben? Auf körperliche Nähe? Das Gericht schaut ihm skeptisch an. Nein. Das ist nicht so schlimm. Das ist aber auch nicht der Grund, warum er seinen Kopf vor diesem schweigsamen Gericht beugt. Eine Frau, die für ihre verschwundene Vergangenheit trauert. Eine Frau, deren einzige Beschäftigung außer Schlafen darin besteht, Berge und Berge von Sachen ihrer bewusstlosen Oma aus dem verlassenen Haus in das eigene zu tragen und sie überall zu zerstreuen, als ob sie, trotz genauer Überprüfung, ein übersehenes Geheimnis verraten könnten, ist nicht leicht zu ertragen. Keiner würde es lange aushalten und er hat es über ein Jahr vorwurfslos ausgehalten. Ich kümmere mich um die Oma, klagt er weiter. Wer geht zu ihr zwei Mal pro Woche? Wer spricht mit den Ärzten? Wer kauft ein? Wer bringt das Geld? Ich! Alles ich! Umso weiter er seinen inneren Monolog führt, desto mehr hasst er Linda. Unter diesen Umständen ist eine unverbindliche Affäre mit einer alten Bekannten nach allen Maßstäben akzeptabel. Dies waren jedoch nicht die Umstände, unter denen die Affäre begonnen hat. Nicht Verzweiflung, sondern etwas, was die Experten als frühe Lebensmittekrise bezeichnen, führte ihn in die Arme einer anderen Frau. Ein prickelnder Reiz des Unbekannten. An sich undramatisch und eher banal. Für Martin aber, der sich immer schon mit dem Richtigen und Falschen des Lebens gerne beschäftigt hat, war dies eine fatale Angelegenheit, der er aus Willensschwäche (eins seiner Lieblingsworte) nicht widerstehen konnte. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber das war das letzte Mal, sagte er sich zum dreizehnten Mal. Das mit Caro muss beendet werden. Plötzlich hasst er Linda nicht mehr, sondern Caro, deren Parfüm er noch in seinen Poren trägt.
Caro, eine ehemalige Kommilitonin aus der Studienzeit, für die er in seiner Jugend heimlich schwärmte, hatte er während seiner Geschäftsreise vor fast einem Jahr in Berlin zufällig getroffen. „Martin Meyer in Berlin! Was für eine Überraschung!“ sagte sie mit strahlender Stimme, als sie plötzlich vor einem Café in Prenzlauer Berg erschien. „Eine schöne, hoffentlich“, antwortete er leicht überrascht von dem eigenen Charm. „Unbedingt!“ Eine Abendessenverabredung war angesagt.
„Du weißt, dass ich ein Crush auf dich hatte, oder?!“ sagte sie entzückend. Nach dem zweiten Weinglas wusste Martin nur, dass Caro mit der Zeit nur schöner geworden ist.
„Ach was, echt?!“
„Ja, total!“
„Und wieso hast du nie etwas gesagt?“
„Na ja, damals hatte ich einen Freund und habe vermutet, dass Männer wie du niemals auf Frauen wie ich stehen würden.“
„Männer wie ich?!“
„Ja, du weißt schon. So klug und gebildet halt.“
Er lächelte nur und starrte ihr lange in die Augen. So hatte alles an einem Montagabend angefangen. Ergebnislos versuchte Linda ihn an jenem Abend zu erreichen, um ihm mitzuteilen, dass ihre Oma, ihre einzige Verwandte, und engste Freundin einen Schlaganfall bekommen hat. Als er am nächsten Tag zurückrief, lag Oma Manu schon in Koma.
„Hey, sorry, gestern waren wir mit den Gästen lange unterwegs und mein Akku war leer“, sagte Martin in einer übereifrigen Stimme. Eine Lüge.
„Oma Manu liegt im Koma. Sie hat einen Schlaganfall bekommen.“
„Was? Wie? Wann? Ich komme sofort.“ Er wollte aber nicht sofort gehen.
„Du verstehst es nicht.“
„Hallo?! Ich habe dich nicht verstanden.“
„Sie hat den Anfall bekommen genau als sie mir…“
„Was hat sie?“
„Martin, ich bin adoptiert. Die Oma … sie ist nicht … sie … meine Mutter, sie hat es nie gegeben.“
„Was? Wie? Sie ist doch an dem Unfall gestorben.“
„Nein. Es gab keinen Unfall. Es gab keine Tochter. Also keine Mutter. Ich weiß nicht, wer meine Mutter ist. Ich weiß es nicht. Und die Fotos, die Bilder, das war nicht wahr …“ Linda spricht schneller und schneller und die Worte werden von einem schweren Jammer durchbohrt.
„Langsam, ganz langsam, es wird alles gut.“
„Du verstehst mich nicht. Alles, dieses Haus, das ganze Leben, mein ganzes Leben, alles ist eine Lüge.“
Lüge. Das Wort hatte ihn unerwartet erwischt und seinen Hals ausgetrocknet. Er war jetzt auch Teil der Lüge. Am Abend fuhr er zurück und was er fand, war eine andere Frau. Linda lag im Bett, bedeckt von Fotos und alten Dokumenten. Martin durfte nichts anfassen und jeder Versuch, die immer voller werdende Wohnung aufzuräumen, scheiterte vollkommen. „Ist sie endlich wach?“ fragte sie jedes Mal, wenn Martin aus dem Krankenhaus zurückkam. „Nein, noch nicht.“ Mit jedem Tag wurde Linda stummer, hohler.
Nächste Station – Wurmigen. Der Abstand zwischen den Worten kommt ihm unendlich vor. Den Gedanken, einfach weiterzufahren, wehrt er ab. Aussteigen will er auch nicht. Am besten würde der Zug einfach verschwinden. „Ich vermisse dich schon jetzt“, schreibt Caro. Ekel. Er will einfach weg von allem. Er träumt von einem Haus mit frischen Bettwäschen, das nach Lavendel duftet. Ein Haus mit Platz und Ruhe. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.
Es ist neblig und keine Seele ist auf dem Bahnsteig zu sehen. Wie aus dem Nichts hört er Schritte hinter sich.
„Überraschung!“
„Linda?“
Linda rennt ihm entgegen und wirft sich in seine Armen. „Endlich bist du da! Ich habe dich sehr vermisst“, ruft sie aus und drückt ihn fest. Martin ist verwirrt oder schockiert, er weiß es nicht genau. Die Umarmung erwidert er mechanisch, ohne von der Wirklichkeit der Sache überzeugt zu sein.
„Ich dachte, du kommst nicht mehr an. Es war mir unfassbar kalt, aber ich war zu aufgeregt, um zurück zum Auto zu gehen.“
„Es tut mir leid … der Zug hat sich verspätet und …, wenn ich gewusst hätte…“
„Es macht gar nichts. Jetzt bist du da“, sagt sie und küsst ihn noch mal. Ihre kalten Hände brennen an seinen Wangen. „Komm, wir gehen zum Auto. Hattest du eine schöne Reise? Du armer… du musst erschöpft sein. Und hungrig! Bist du hungrig? Ich habe Rindbraten gemacht. Drei Tage mariniert, stell dir vor.“
Martin kann sich gar nichts vorstellen. Gut, dass Linda nicht auf Antworten wartet, weil er nicht weiß, was er antworten soll. Hat er eine schöne Reise gehabt? Das war keine Geschäftsreise, so viel konnte er sich gestehen. Er beobachtet, wie mühelos sie sich bewegt und fragt sich, was passiert ist. Etwas muss passiert sein. Das ist nicht die Frau, die er vor einer Woche im Bett hinterlassen hat. Davon war er noch überzeugt, als sie ins Auto einstiegen.
„Magst du sie?“
Ihm gefriert das Blut. „Wie bitte?“
„Die Jacke. Magst du sie? Sie ist neu. Am Anfang war ich mir unsicher. Du weißt, wie ich zu Neonfarben stehe, aber die Verkäuferin hat mich mit ihrer Begeisterung angesteckt.“
Martin fragt sich, ob er tatsächlich weiß, wie Linda zu Neonfarben steht. Er kann sich nicht erinnern, in zehn Jahren Ehe sich jemals mit ihr über Neonfarben unterhalten zu haben. Neonfarbe. Hat er schon mal das Wort ausgesprochen?
„Du magst sie nicht.“
„Was? Nein, überhaupt nicht. Ich meine doch, sie steht dir sehr gut. Es tut mir leid, ich bin nur ein wenig müde.“ Pause. „Du siehst wunderbar aus.“
Als sie das Haus betreten, fühlt sich Martin von der Menge an Raum überfallen. Es gibt wieder Platz. Linda redet ununterbrochen, als ob der jetzt sichtbare hölzerner Boden immer schon Teil ihres Alltags war. Er will etwas sagen, aber kann nicht. Martin steht da, versunken in dem Klicken ihrer Absätze und stellt fest, dass seine Frau hohe Schuhe trägt. Er wird hart und Linda merkt das sofort. Zum ersten Mal in über ein Jahr schlafen sie miteinander. Im Flur zum ersten Mal überhaupt.
„Ich habe dich vermisst,“ flüstert er. Sie liegt still mit dem Kopf auf seiner Brust. „Es freut mich, dass es dir besser geht.“
„Jetzt habe ich richtig Hunger. Schnell, geh duschen.“
„Ich dachte, wir essen,“ sagt Martin.
„Machen wir. Nachdem du dich gewaschen hast. Ich decke den Tisch.“
Faul und zufrieden steht Martin auf. „Was ist mit diesen Tüten da?“ fragt er. Beim Eingang stehen zwei Papiertüten, die eine Vielfalt von Dokumenten und Büchern zu enthalten scheinen.
„Ach, altes Zeug, das ich heute noch wegbringen möchte.“
„Wohin? Zu Omas Haus? Es ist schon dunkel. Ich kann es doch morgen machen.“
„Ich mache es schon. Geh du duschen. Das Essen ist fast fertig.“
„Bist du gut angekommen?“ Die zweite Nachricht von Caro, die er unbeantwortet lässt. Das mit Caro darf nicht weitergehen. Die Scham lässt sich nicht runterspülen. Er öffnet den Schrank – Hemde und Pullis nach Farben sortiert. Als Martin die Treppen runterläuft, kommt Linda durch die Tür.
„Oh Gott, du hast mich erschreckt,“ sagt sie, ohne erschreckt zu wirken.
„Wo warst du?“
„Am Haus. Ich habe‘ die Sachen weggebracht. Hab‘ ich dir doch gesagt. Ah, du hast den neuen Pulli angezogen. Schön. Gelb steht dir sehr gut.“
„Danke. Und danke für die ganze Arbeit …, der Schrank, die Wohnung, das ist unglaublich.“
Sie lächelt. „Komm, das Essen steht schon auf dem Tisch.“
„Linda“ – nur in tiefstem Hass und höchster Liebe nennt er sie Linda. „Linda, das sieht wunderschön aus. Du siehst wunderschön aus.“ Er zuckt, wie von einem Knall erweckt. „Das Krankenhaus. Ich muss anrufen. Sie haben sich nicht mehr gemeldet.“
„Setzt dich hin.“ Ihre Stimme hat eine kühle, anziehende Strenge. Martin gehorcht. „Manuela ist gestorben.“
„Was? Wie? Heute?“
„Vor vier Tagen.“
„Wieso hast du nichts gesagt?“
„Wozu? Es war längst überfällig. Deine Gäste aus Japan waren doch wichtiger.“
Martin versucht, seine Gedanken zusammenzubringen. Oma Manu hatte keine großen Chancen, aber trotzdem. Der Tod war zu erwarten. Dennoch. Er schaut die Wohnung an. Alles glänzt. Es wird ihm übel. Stirbt man wirklich so? Unangekündigt?
„Bald können wir ihre Asche in den Wald bringen. Sie wollte es so.“ Martin will etwas sagen, aber seine Zähne blockieren alle Worte. Etwas stimmt nicht, denkt er. Ich verstehe es nicht.
„Der Braten ist sehr zart geworden. Ich habe ihn vom neuen Metzger gekauft.“ Pause. „Schatz, geht es dir gut?“ Schatz. Das Wort kommt ihm unpassend vor.
„Ich verstehe es nicht.“
„Was verstehst du nicht? Auch ein Schluck?“ Linda füllt ihm das Glas, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Was ist passiert?“
„Manuela ist gestorben. Ich habe es dir gerade gesagt.“
„Seit wann nennst du sie so?“
„Was ist mit dir los? Das war doch ihr Name.“
„Du hast Oma Manu nie Manuela genannt.“
„Sie war nicht meine Oma. Sie war eine Lügnerin, die mir die Vergangenheit geraubt hat. Wer weiß, wie ich zu ihr kam. Und dann die Geschichten über meine verstorbene Mutter, ihre Tochter, die nie existiert hat. Einfach zum Kotzen. Das war eine kranke Frau und damit basta. Ich habe genug gelitten. Ich habe dich vernachlässigt. Ich habe uns vernachlässigt. Jetzt will ich endlich leben. Ich will, dass alles wie früher wird.“
Martin versucht sich zu erinnern, wie es früher war. Möchte er wirklich, dass alles wie früher wird? Wie war es denn früher? Er kann nicht zurückdenken. Er kann nicht fühlen, wie alles vor Oma Manus Schlaganfall war. Es gab eine Zeit davor. Bestimmt. Eine Zeit, in der Linda anders war. Es gab eine Zeit, in der Caro nicht existierte und er und Linda sich unendlich liebten. So nannte sie ihn – meine Liebe. Nicht mein Schatz. Eine Zeit, in der Linda weder nach ihrer Vergangenheit ratlos suchte noch Hemden nach Farben ordnete. Die Zeit, in der sie beide nur miteinander verschmelzen wollten, damit ihre Körper sich dehnten, um Platz für das überirdische Glück zu schaffen; das Glück, das sie sich gefunden hatten. Es gab diese Zeit. Es muss sie gegeben haben. Linda liegt jetzt im Bett mit ihrer neuen Schlafmaske. Martin will ihren Rücken streicheln, stellt aber fest, dass sie diesmal nicht auf dem Bauch schläft. Ihre Stille beunruhigt ihn. Anstatt sie zu umarmen, weint er. Vielleicht für Oma Manu.
Als er aufwacht, sieht er das gebügelte Hemd auf dem Stuhl und braucht einen Moment, um sich zu erinnern, wo er ist. Zuhause. Er atmet sein neues Leben tief ein. Linda bringt ihm Kaffee ans Bett und kündigt das Frühstück an. Frischer Kaffee und gebügelte Hemden – das ist jetzt Martins neues Leben und er fühlt sich bereit, es anzunehmen. Wieso nicht? Was auch immer das letzte Jahr war, ist jetzt Vergangenheit. Sein Heulen von gestern kommt ihm kindisch vor. Ein neuer Anfang steht an und er wird ihn willkommen heißen.
„Reichst du mir bitte die Croissants?“
„Dass du schon beim Bäcker warst …, unglaublich.“
„Aber natürlich. Ich möchte meinen Mann verwöhnen,“ sagte sie verführerisch.
„Und was hast du heute vor?“
„Ach ein wenig Aufräumen und sonst, du weißt schon, das Übliche.“
Wenn Linda ihren Fuß nicht zwischen seine Beine gestreckt hätte, hätte Martin vielleicht gefragt, was in diesem glänzenden Haus noch aufgeräumt werden müsste. Er hätte sich vielleicht überlegt, was „das Übliche“ heißt. Vielleicht. Er war aber von dem süßen Spiel zwischen ihren Zehen und seinen Schenkeln hypnotisiert. Unter diesen Umständen wirkte ihre Antwort als die natürlichste der Welt.
„Scheiße, es ist schon so spät? Ich muss los!“ Er küsst sie länger, als die Uhr es ihm erlauben würde und er bereut das nicht. Grinsend verlässt er das Haus. Alles riecht nach frischer Wäsche und frischer Liebe und Martin kann es kaum erwarten, zurück zu seiner Frau zu kommen.
„Wieso sagst du nichts? Was soll das?“ Caros Nachricht auf dem Heimweg nach der Arbeit stört den perfekten Tag. Er darf sie nicht ignorieren. Das gehört sich nicht. Er parkt das Auto vor dem Haus und schreibt schnell zurück: „Sorry. Gerade ist viel los. Ich melde mich.“ Linda winkt vom Wohnzimmer. Der Tisch ist schon gedeckt. Martin holt die Blumen und geht rein. Es riecht lecker. Linda riecht lecker.
„Die Rosen sind wunderschön. Seit ewig habe ich keine Blumen mehr bekommen. Vielen Dank.“
„Habe ich dir nicht letzten Monat…?“ Sobald er die Worte ausspricht, stellt er fest, dass es Caro war. Letzten Monat hat er Caro Blumen geschenkt.
„Natürlich, du hast recht. Mein Gedächtnis ist schrecklich geworden.“ Martin küsst ihre Hand, um seine Scham zu verstecken.
In den nächsten Tagen staunt er nur über sein neues Leben. Egal, wann er nach Hause kommt, ist der Tisch gedeckt. Egal, wann er aufwacht, wartet der Kaffee auf ihn. Linda lächelt. Sie ist zärtlich und hat die ganze Zeit Lust, mit ihm zu schlafen. Er ist überrascht davon, wie stark er seine Frau begehrt. Du bist besessen, sagte Linda gestern zu ihm und sie hatte recht. Es ist wie vor zwölf Jahren, als sie zusammenkamen. Martin war damals am Beginn seiner erfolgreichen Karriere als Projektmanager. In dem Hotel, wo er an seiner ersten Konferenz teilgenommen hat, sah er diese Frau im gelben Anzug und dachte sich – sie wird meine sein. Das war Linda. Sie arbeitete da. Oder machte sie Urlaub? Er sprach sie an. An ihr Lachen kann er sich am besten erinnern. Sie wurden schnell ein Paar. Ich wusste, dass sie meins sein wird. Damit meinte er nicht heiraten, aber ein Jahr später heirateten sie.
„Schmeckt es dir?“ Bei ihrer Frage wird ihm plötzlich bewusst, wie ungewöhnlich still er ist.
„Ja, das ist köstlich. Erinnerst du dich, als wir uns kennengelernt haben?“
Sie streichelt seine Hand. „Wie schüchtern du warst… wirklich süß.“
„Was erzählst du? Ich habe dich doch angesprochen. Als wir uns im Hotelfoyer gesehen haben, bin ich direkt zu dir gekommen und habe mich vorgestellt.“
„Welches Hotel?“ Ihre Ahnungslosigkeit scheint ihm vorgespielt.
„Verarschst du mich? Das Hotel, in dem wir uns kennengelernt haben.“
„Schatz,“ sagt sie geduldig, „wir haben uns nicht in einem Hotel kennengelernt. Ich habe dich vor diesem Café in Berlin angesprochen. Wie hieß es noch?“
Etwas stimmt nicht. Martin schaut Linda an. Er schaut sie an und nimmt den ganzen Raum wahr. Zwei prallvoll gefüllte Papiertüten bei der Tür. Er erinnert sich an seiner Ankunft letzter Woche. Damals gab es auch zwei Papiertüten an der Tür. War es letzte Woche oder vor zwei Wochen? Wie viel Zeit ist vergangen? Er starrt die Tüten an. Montags. Ich bin an einem Montag gekommen. Letzter Montag waren die Tüten da – die alten Sachen, die sie noch wegbringen wollte. Oder war es vorletzter Montag? Jeden Montag stehen die Tüten da. Der Gedanke, sein eigener Gedanke fühlt sich fremd an. Ist heute Montag? Caro hat er auch an einem Montag zum letzten Mal gesehen.
„Caro!“ ruft Linda triumphierend. „So hieß das Café.“
„Welches Café?“
„Schatz, was ist mit dir los? Das Café in Prenzlauer Berg, wo wir uns kennengelernt haben.“
Haben wir uns dort kennengelernt? Alle Worte, ihre und seine, erscheinen ihm ungeheuerlich; sie wirkten, wie lose Gestalten, die ihn von innen auffressen. Martin wacht auf. Es muss ein Traum gewesen sein. Als er in die Küche geht, fällt sein Blick auf die zwei Tüten. Der Kaffee ist bereit.
„Was für einen Tag haben wir?“
„Montag. Heute hole ich Manuelas Asche ab. Magst du mitkommen?“
„Natürlich.“ Was ihm aber unnatürlich vorkommt, ist, dass er den Tod ganz vergessen hat. Oma Manu. Linda hat darüber kein Wort mehr gesagt. „Die Toten mit den Toten und die Lebendigen mit den Lebendigen,“ sagt Linda, während sie die Asche in dem kleinen Wald neben dem alten Haus zerstreut. Das alte Haus, das vor hundert Jahren das Herrenhaus war, beherbergt nun bloß antiquarische Möbelstücke und subjektlose Erinnerungen. Das kleinere Haus, in dem die beiden jetzt wohnen, das Haus, das früher für die Bediensteten gedacht war, enthält nun die einzigen Herren. Martin will das Gebet des Herrn sagen und stellt fest, dass er die Worte nicht mehr kennt. Seine Zunge ist steif. Vater unser. Vergib uns unsere Schuld. Tränen. Martin fällt auf seine Knie.
„Verzeih es mir.“
„Wofür? Was ist los?“
„Ich halte es nicht mehr aus. Alles fühlt sich komisch an. Linda, meine Liebe, verzeihe es mir…“ Linda bewegt sich nicht. Sie lässt ihn auf den Knien und wartet. „Ich… ich habe, nein, ich hatte eine… aber es ist vorbei, ich schwöre es dir, es ist vorbei.“ Umso weiter er spricht, desto undeutlicher werden seine Worte. Linda reicht ihm die Hand.
„Steh auf.“
„Es tut mir so leid …, es hat nichts bedeutet …“
„Ich weiß.“
„Wie bitte?“
„Ja,“ sagt Linda unbewegt. „Ich weiß alles.“
„Wie? Woher?“
„Das spielt keine Rolle. Jetzt ist alles vorbei. Das ist unser neues Leben. Komm, wir gehen heim.“ Martin schaut sie an. Er sollte sich erleichtert fühlen. Stattdessen ist er nur verwirrt. Er schaut zu ihr und schaut zum alten Haus, dessen Dach und Türme hinter den Bäumen zu wachsen scheinen. Das alte Haus ist jeden Tag mehr wie eine vergessene gotische Villa, die sich gegen das eigene Zerfallen wehrt. Wieso nicht wegziehen? Sie sind nicht an diesem Landstück gebunden. Was für andere Orte gibt es? Ihm fallen keine ein. Erschöpft betritt er das Haus. Die Tüten, die Papiertüten winken ihm aus dem düsteren Gang zu.
„Was ist mit diesen Tüten?“ fragt er, während er nach der einen reicht.
„Lass es!“ Linda springt und zieht ihn weg. Der Verlust der inneren Balance wird ihr sofort bewusst und sie räuspert kurz, als ob sie einen Neustart erzwingen würde.
„Schatz – es sind einfach die alten Dokumente. Ich will sie nicht wieder durcheinander haben. Du wolltest doch duschen. Komm, ich helfe dir.“ Linda zieht seinen Pulli aus und wirft ihn auf dem Boden. Sie beginnt, ihn anzufassen und zu küssen.
„Ich liebe dich so sehr,“ sagt Martin zwischen den noch nicht getrockneten Tränen. Er meint es auch.
„Ich dich auch. Jetzt geh hoch, mach die Badewanne voll. Ich bin gleich bei dir.“ Wie ein braves, gehorsames Kind läuft Martin die Treppen hoch und macht das Wasser und die Musik an. Ein Wein würde gut dazu passen. Als er die Treppen herunterläuft, um den Wein zu holen, sieht er, wie Linda mit den zwei Tüten das Haus verlässt. In der rechten Tüte, über Dokumenten oder Bücher oder Dosen, niedlich gefaltet, liegt sein Pulli obenauf. Der Pulli, den Linda ihm gerade ausgezogen hat. Der gelbe Pulli. Eine unheimliche Übelkeit durchläuft alle seine Glieder. Ohne nachzudenken, zieht er sich an und beschließt, ihr zu folgen. Es ist schon dunkel.
Damit sie ihn nicht hört, geht er durch die hintere Tür. Linda läuft auf den Pfad zum alten Haus. Um nicht gemerkt zu werden, macht Martin einen Umweg und läuft durch die Bäume zwischen den beiden Häuser. Das alte erscheint ihm nun gigantisch; seine Türme bedecken den Mond und wirken so, als ob sie seine Strahlen erobern würden. Martin erreicht das Haus vor ihr. Doch sie geht nicht durch den Haupteingang. Sie nimmt den Weg zu der Treppe hinterm Haus und geht die Stufen hinunter. Martin hört, wie sie die Eisentür aufschließt und die Kellerluke hochhievt. Sie lässt die zwei Tüten fallen und man kann eindeutig hören, wie Nägeln und Zähnen daran greifen. Er will schnell zu ihr. Etwas hält ihn zurück und er kann ihren Namen nicht aussprechen. Linda taucht auf. Befriedigt hört sie zu, wie alles zerrissen wird und lächelt. Die Stille tritt ein. Ohne seine Anwesenheit zu spüren, atmet Linda tief ein und gibt sich noch einen Moment, bevor sie sich auf dem Weg zum Haus macht. Martin wartet, bis sie außer Hörweite ist, dann läuft er die Stufen hinunter. Er hievt die Kellerluke hoch.
„Hallo? Ist jemand da?“ Seine Stimme zittert. Zitternd erwidert ihm eine andere Stimme: „Ich bin es.“
Er braucht kein weiteres Wort. Sein Körper wird plötzlich weich und fremd und hoffnungslos. Er kann sogar die Holzwürmer hören und doch fühlt er sich taub. Er will sich hineinstürzen und wegrennen zugleich. Er möchte weinen und verschwinden und sein eigenes Fleisch wirkt unecht. „Linda?“ Ein unnötiges Fragezeichen. Er weiß es genau. Das ist Linda.
ENDE
Gewinnerin im 4. Rang mit einem Buchpreis gemäß Auswahl
Aritana
Aritana bemühte sich leidenschaftlich, den Sprachen-Salat der drei Über-lebenden aus dem entführten und schließlich im Mittelmeer abgestürzten Flugzeug zu meistern. Dass unter ihnen jedoch auch eine der Entführerinnen weilte, entfachte neue Emotionen. Es kommt zu weiteren Gewaltakten unter ihnen. Erst nach fast 50 Stunden Herumtreibens im Wasser von Wrackteilen und Leichen, kann der griechische Fischkutter noch eine einzige Person retten, die das ganze Drama überlebte. Aritana wählte Vergeltung. Möglicherweise die wahrscheinlichere Variante, wenn man sich versucht vorzustellen, wie dieser Fall in Wirklichkeit enden würde. Aritana wird sich ein Buch aussuchen dürfen aus dem Genre der Dramen. Viel Spaß beim Lesen!
Hier ist die Geschichte von Aritana mit der Beitrags Nr. 04
Au Revoir
Wasser. Vorne, hinten, rechts und links. Überall nichts als blaues, dunkles Wasser. Das war der Anblick, welcher sich Ian Mahony bot, als er zu sich kam. Hastig tastete er sich ab und bemerkte dabei, dass er eine knallgelbe Schwimmweste trug, welche ihn über Wasser hielt. Er spürte, wie die Panik in ihm hochkam. Sie schlich sich nicht langsam an. Viel mehr kam sie, wie ein Pferd, angaloppiert und entwickelte sich in dem Tempo einer Rakete. Das Wasser zu beobachten, in welchem er schwamm, machte es lediglich schlimmer.
Wasser. Vorne, hinten, rechts und links. Überall nichts als blaues, dunkles Wasser. Das war der Anblick, welcher sich Ian Mahony bot, als er zu sich kam. Hastig tastete er sich ab und bemerkte dabei, dass er eine knallgelbe Schwimmweste trug, welche ihn über Wasser hielt. Er spürte, wie die Panik in ihm hochkam. Sie schlich sich nicht langsam an. Viel mehr kam sie, wie ein Pferd, angaloppiert und entwickelte sich in dem Tempo einer Rakete. Das Wasser zu beobachten, in welchem er schwamm, machte es lediglich schlimmer.
Überall um ihn herum schwammen Dinge, die im Wasser nichts verloren hatten. Koffer, Taschen, einzelne kleine Gegenstände, Blechteile und vieles mehr. Auch Brände gab es. Feuer auf Wasser erschien fast ein so surrealer Anblick, dass er es für einen Traum hätte halten können, wären da nicht die lauten Schreie, die ihn in die Realität zogen. Viele waren es nicht, wenn man es mit 184 Passagieren in Verbindung setzte. Erst in diesem Moment fügte sich das Puzzle. Sie waren abgestürzt, irgendwo über dem Mittelmeer. Sie waren tatsächlich abgestürzt.
Ian versuchte sich zusammenzureißen, einen kühlen Kopf zu bewahren, um den Hilferufen folgen zu können, doch es fiel ihm schwer, etwas zu erkennen in all dem Chaos. Hier und da sah er eine aus dem Wasser ausgestreckte Hand, die gleich darauf verschwunden war. Ein Held wäre dennoch mit aller Kraft hingeschwommen und hätte die verzweifelten Hände gesucht und damit vielleicht einigen Menschen das Leben gerettet, doch Ian war kein Held. Er war ein Industrieller, der es mit den Wellen kaum aushalten konnte. Zum Glück waren überall Wrackteile zu finden.
Als er sich umsah, bemerkte Ian, dass er kein Flugzeug sehen konnte. Die Erinnerung an den Absturz selbst war etwas schwammhaft, doch er meinte, noch das Geräusch der Warnsignale im Kopf hallen zu hören. Er meinte, sich daran zu erinnern, wie die Tür geöffnet wurde und der Lärm, welcher daraus resultierte. Die meisten Menschen blieben mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen sitzen, doch Ian nicht. Er schnallte sich ab und lief mit ein paar Anderen auf die Schleuse ins Nichts zu. Er hatte sich, ohne weiter darüber nachzudenken, nach draußen fallen lassen.
»!مساعدة مساعدة!« Die Schreie kamen von links. Nun, da er selbst sicher war, konnte er auch versuchen, zu helfen. Mit seinem Wrackteil versuchte er, den Schreien entgegen zuschwimmen.
»مساعدة!« Die Stimme wurde immer lauter. Er war ganz nah dran.
»Common! Where are ya?!« Dann sah er die ausgestreckte Hand zwischen den Wellen. Es war schwer zu erkennen, durch das ganze Wasser um sie herum, doch es schien fast, als sei sie am Weinen, was nicht abwegig wäre. Ian bot ihr eine helfende Hand an, doch sie deutete unter sich.
»اخي!« Sie wiederholte, was Ian nicht anderes beschreiben konnte als einen Laut, mehrfach, doch damit konnte Ian nichts anfangen. Er wollte ihr doch bloß helfen.
»I don’t understand! Com‘ up here!« Er versuchte erneut, sie hochzuziehen, doch sie ließ es nicht zu. Sie wehrte sich förmlich. Well, okay then. Wenn sie nicht gerettet werden wollte, konnte Ian nichts mehr für sie tun. Er war dabei, sich umzudrehen und in die andere Richtung davonzuschwimmen, doch sie hielt sein Wrackteil an der Spitze fest.
»Mon frère!« Französisch konnte Ian noch ein wenig aus seiner Schulzeit. Er hatte dieses grausige Fach acht Jahre lang belegt, doch viel war nicht hängen geblieben. Es war eines der Fächer, bei denen er eher am Handy spielte, als zuzuhören. Dennoch wusste er, dass sie nach ihrem Bruder rief. Nun musste er seine Vokabeln aus den tiefsten Schubladen seines Gehirns suchen.
»Oú est te... ton frère?« Die unbekannte Frau zeigte erneut nach unten. Ian blieb wohl nichts anderes übrig. Er nahm tief Luft und tauchte mit dem Kopf ab. Unterwasser war kaum etwas zu sehen. Schon nach drei Sekunden fingen seine Augen an zu brennen. Der grüne Schleier des Wassers verblasste seine Sicht, doch mit viel Mühe konnte er etwas Großes unter ihnen erkennen. Etwas so Großes, dass es einer der Flugzeugflügel sein konnte. Es war also gesunken. Eilig zog er seinen Kopf wieder hoch. Durch seine Schwimmweste hatte er nicht tiefer gekonnt, doch es reichte aus. Der Bruder dieser Frau war vermutlich noch im Flugzeug. Ian konnte nichts mehr für ihn tun. Da ihm das Wort für Tod im Moment nicht einfiel, schüttelte er lediglich den Kopf und hielt ihr erneut die Hand hin, damit sie mit ihm auf sein Wrackteil kletterte. Diesmal nahm sie an.
Die restlichen Menschen, denen er gerne helfen wollte, waren bereits Leichen, die an der Wasseroberfläche schwammen. Ein grauenhafter Anblick, dem Ian gehofft hatte, niemals ausgesetzt zu sein.
Die Fremde saß mit dem Rücken zu ihm und sprach nicht viel. Vermutlich musste sie trauern, worauf Ian Rücksicht nehmen wollte. Ihm war auch nicht unbedingt nach Reden zumute, obwohl er allein geflogen war.
»Wos zum Deifel?« Die Stimme kam von weiter rechts, wo ein weiterer Passagier, ein Mann, der gleich vor ihm gesprungen war, ebenfalls auf einem Wrackteil zu ihnen gepaddelt kam.
»I glaub, I seh ned richtig.« Was er sagte, klang nach irgendeiner Form der deutschen Sprache, doch diese hatte Ian nie beherrscht. Nur anhand seiner Mimik und der Tonlage konnte er erahnen, dass dieser Mann außer sich war.
»Sorry, I don’t understand.«
»She!« Er zeigte entgeistert auf die Fremde, die sich nun zu den Männern umdrehte, als habe sie gemerkt, dass man über sie sprach.
»Bad!« Sie ist böse? Das konnte nur eines bedeuten. Natürlich! Er sah die unbekannte Frau an, die mit einem Mal gar nicht mehr so unbekannt war. Sie lief vor ihm beim Check-in. Während er seine Kopfhörer aufsetzte und bevor er seine Augen zur Entspannung schloss, konnte er beobachten, wie sie an ihm vorbeiging, mit zwei Männern vor ihr. Sie gingen durch, bis hin zum Cockpit. Kurze Zeit später kam die Durchsage, das Flugzeug und alle Passagiere seien in Gefahr. Sie mussten den Kurs nach Beirut ändern und keinem geschehe etwas. Die Unruhe, die diese Nachricht auslöste, sorgte dafür, dass Ian die klassische Musik auf seinem Handy noch lauter stellte. Daher bekam er auch erst im letzten Moment von dem Tumult im Cockpit mit, welcher zu ihrem Absturz führte. Diese Frau war eine der Entführerinnen. Sie und ihre Freunde waren schuld an ihrem Absturz. Schuld an dem Tod dieser unzähligen Menschen!
»Leave! Now!«, schrie er sie an. Es war ihm egal, dass sie seine Sprache nicht verstand, sie würde seine Stimme verstehen können in der Kombination mit einer Handbewegung, die ihr deutete, zu verschwinden.
»Go! Clear off!« Sie schien seine Aufforderung endlich zu begreifen und ließ sich langsam in das kalte Wasser ab. Etwas entfernt, allerdings nicht weit genug, fand sie ein weiteres Wrackteil. Deutlich kleiner als das von Ian, aber groß genug, um Zuflucht darauf zu finden.
»Sorry, I had no idea, who she was. I’m Ian, by the way. What’s ye name?« Der andere Mann, an welchen sich Ian nun wandte, sah ihn nachdenklich an. Vermutlich beherrschte er die englische Sprache in etwa so gut, wie Ian die Französische.
»My Name?«
»Yah.«
»Franz.« Ian hätte ihm die Hand geschüttelt, würde er nicht fürchten, dass eine solche Aktion sein improvisiertes Rettungsboot zum Kentern bringen könnte.
Der Abend brach an und mit ihm kam die Nacht. Vorsichtig hatte sich Ian auf den Rücken gelegt und angefangen, die Sterne am klaren Himmel zu beobachten. Hier draußen auf dem Meer konnte man so viele mehr erkennen als in der Stadt, in welcher er seit fast dreißig Jahren lebte. Mit zwanzig hatte er das Dorf, aus dem er kam, verlassen, um sich einen guten Job in der Hauptstadt seiner Provinz zu suchen. Doch die Sterne am Himmel zählen zu können, das fehlte ihm zunehmend.
Anders als die Terroristin konnte Ian allerdings nicht schlafen. Vielleicht lag es an den Bewegungen des Wassers, vielleicht an dem unbequemen, metallischen Untergrund oder aber an der Angst, im Schlaf ins Wasser zu fallen und zu ertrinken, trotz Schwimmweste. Jedenfalls bekam er dadurch mit, dass Franz mitten in der Nacht zu paddeln begann. Sofort richtete Ian sich auf.
»What are yis doin‘?« Franz bewegte sich ziemlich zielgerichtet auf die Terroristin zu und drehte sich auch nicht um, als er Ians leise Stimme hörte.
»She kill.« Damit meinte er wohl, er wolle sie umbringen in einer äußerst schlechten Grammatik. Der Verdacht bestätigte sich durch ein scharfes Stück Metall, das er auf seinem Wrackteil transportierte.
»Why?!« Vielleicht war sie kein guter Mensch und vielleicht war es absolut unfair, dass ausgerechnet sie, die für all dies verantwortlich war, eine der Überlebenden war, doch das hieß nicht, dass sie sich nun gegenseitig bekriegen sollten. Hier draußen hatten sie nur sich, niemanden sonst. Es schadete ihnen nur, die Fairness des Universums infrage zu stellen. Franz musste dies doch auch verstehen.
»M-My son«, stammelte Franz und murmelte noch etwas Unverständliches. Ihm fehlten wohl die Worte, doch nach Ians Theorie diesmal nicht aufgrund der Sprachbarriere.
»Was he with ye on the plane?« Trotz der Dunkelheit konnte Ian erkennen, wie Franz bedrückt nickte. Sein Sohn war tot und er gab der Terroristin die Schuld. Irgendwo zurecht, doch sie zu töten, brachte seinen Sohn nicht zurück.
»Don’t do it. I’m sure ye son would’t want that.« Es schien fast, als würde Ian zu Franz durchdringen. Natürlich tat er das. Franz sah in seinem Karo Hemd und der hundert Prozent Polyester Hose keineswegs aus, wie ein Mörder. Vermutlich hatte er sich nur kurzfristig von seinen Trieben und seiner Wut leiten lassen. Zumindest hoffte Ian das. Falls sie überlebten, wollte er nicht auch noch in ein Mordverfahren verwickelt werden.
»Just lay down for a while, okay? Don’t do anything ye might regret.« Fürs Erste schien er Franz beruhigt zu haben. Dieser sagte zwar nichts, doch er paddelte wieder ein wenig zurück, fort von der Terroristin. Ian wusste nicht, wie sich diese Situation noch entwickeln würde, doch darum sollte er sich erst am nächsten Morgen Sorgen machen. Für die Nacht beobachtete er einfach weiter die Sterne. Friedlich und in Ruhe.
Die Ruhe hielt bis zum Morgengrauen und darüber hinaus an. Soweit Ian es einschätzen konnte, waren seine beiden Kumpanen nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren, was für ihn jedoch bedeutete, dass er sagen konnte, was er wollte, ohne, dass der jeweils dritte davon Wind bekam. Und da Ian ein harmoniebedürftiger Mensch war, wie seine Arbeitskollegen stets sagten, wollte er versuchen, die Sachlage zu klären. Zu diesem Zweck paddelte er mit seinen Händen etwas näher an die Terroristin heran.
»Bon Matin.« So weit, so gut mit seinem Schulfranzösisch. Viel war nicht hängen geblieben, doch einen guten Morgen wünschen, das konnte er noch. Ernten tat er allerdings nichts als einen skeptischen Blick.
»Il vouloir tu tuer.« Ian versuchte zu sagen, dass Franz sie hatte töten wollen und schaute zur Verdeutlichung in dessen Richtung. Er lag mit dem Bauch auf seinem Wrackteil und hielt die Hände ins Wasser.
»Pourquoi tu me dis ça?« Ian wusste, dass sie eine Frage stellte, jedoch nicht genau welche. Daher beschoss er sie einfach zu ignorieren und weiterzusprechen, so gut er konnte.
»Je arrêter, maar je vouloir réponse.« Er wusste nicht ganz, ob er sie verstehen würde, wenn sie ihm die Antworten gab, die er verlangte, doch er wollte es versuchen. Früher konnte er immer besser verstehen, als selbst sprechen.
»Quelles sont les questions?« Das zumindest hatte er verstanden. Sie wollte die Fragen wissen. Nun mal sehen. Er wollte vor allem erfahren, weshalb sie das Flugzeug entführt hatte. Vielleicht half ihm das, sie zu verstehen und damit auch, sie verteidigen zu wollen, wenn es darauf ankam. Vielleicht hatte sie einen guten Grund.
»Mon frère.« Ihr Bruder, einer der toten Passagiere, der kam bereits zur Sprache. Vermutlich ebenfalls einer der Hijacker.
»Il a été arrêté pour meurtre. Il est innocent. Il était innocent.« Er wurde wohl wegen Mordes angeklagt, doch sie zumindest hielt ihn für unschuldig.
»La police ne l’a pas cru. Il aurait écopé de la peine de mort. Moi et mes autres frères, nous l’avons sorti clandestinement du long. Nous devions le mettre en sécurité.« Nun verstand Ian nicht mehr viel, doch es schien ihm, als haben ihre anderen Brüder, die Hijacker, versucht, den Mörder-Bruder außer Landes zu schaffen.
»Pourquoi Beirut?« Sie hätten einfach weiterfliegen können, nach Paris.
»Nous avons de la famille là-bas.« „Famille“ war das einzige Wort, was er verstehen brauchte. Ihre Geschichte war nachvollziehbar, dennoch sind 181 Menschen gestorben, weil diese Frau einen Vermutlich-nicht-Mörder retten wollte. Da war er wieder bei der Fairness angelangt. Doch er selbst hatte keine Geschwister, also vielleicht konnte er das einfach nicht nachvollziehen. Außerdem hatte die Frau die Turbulenzen auch nicht kommen sehen können. Auch ihr Leben war zerstört und sie hatte verloren, was sie liebte. Das war gewiss nicht der Plan gewesen.
»Tu nom?«
»Maya.« Nun kannte Ian die Namen beider Passagiere, die vermutlich hier draußen mit ihm sterben würden. Wo nur blieben die Rettungshubschrauber? Wieso war noch keiner gekommen? Der Durst war seltsamerweise nicht so schlimm wie der zunehmende Hunger. Vielleicht hatte Ian aufgrund des vielen Wassers um ihn herum, genug davon, doch sobald er nur kurz die Augen schloss, sah er etliche Gerichte vor sich. Ein gut gegrilltes Steak, pürierte Kartoffeln, Linguine, alles, was das Herz begehrte und den Magen füllte. Doch noch war keine Rettung in Sicht.
»Hey.« Ian drehte sich hinüber zu Franz, der noch immer mit seinen Händen im Wasser fischte.
»What’s up?«, fragte Ian.
»What you talk about?« Sollte Ian ihm die Geschichte von Maya erzählen? Vielleicht wäre es angebracht gewesen, doch in der heißen Sonnenhitze, die sie nun erreicht hatte und die sich auf der Meeresoberfläche in jede Richtung verbreitete, und mit dem zusätzlichen, minütlich schlimmer werdenden Hungergefühl, fühlte Ian sich nicht stark genug, um alles zu erklären und dabei auf eine möglichst einfache Wortwahl zu achten, damit er auch verstanden wurde.
»Nothin‘«, sagte er stattdessen, wandte sich ab und löste sich endlich von der viel zu dicken Schwimmweste, um nicht wie Schokolade zu schmelzen.
In der nächsten Nacht, die eine gefühlte Ewigkeit auf sich warten ließ, schlief Ian endlich ein, nachdem er vierzig Stunden wach geblieben war. Es tat gut, den Körper ruhen zu lassen. Genau das hatte er gebraucht, denn sein Mund wurde trockener, die Verbrennungen durch die Sonne ließen sich bereits spüren und der Magen knurrte unaufhörlich. Lange würde er nicht durchhalten. Besser, er schlief ein paar Stunden. Lange war es nicht möglich, denn wie es im August auf dem Mittelmeer, irgendwo in der Nähe von Zypern, wie Ian vermutete, üblich war, setzten sich um Punkt sechs Uhr die ersten heißen Sonnenstrahlen auf seine müden Augen und sorgten so für ein angenehmes, gleichsam unangenehm frühes Erwachen.
»Top of the mornin to ya.« Ian wandte sich an Franz, der aussah, als wäre er schon seit Stunden wach. Im Sonnenaufgang ließen sich dunkle, große Schatten unter seinen Augen blicken, die selbst von Ians Position aus zu sehen waren, obwohl der Strom des Meeres sie in den Nachtstunden etwas auseinandergetrieben hatte. Nun, sähe er in einen Spiegel, würde er wohl ein ähnliches Bild erblicken.
»Where’s Maya?« Ian sah sich um, doch er konnte die letzte Überlebende nicht sehen. War sie von der Strömung weggetrieben worden? Verloren auf hoher See war eine Sache, doch ganz allein, das konnte sich Ian kaum ausmalen. Er und Franz unterhielten sich zwar nicht viel, doch die Anwesenheit wenigstens einer weiteren Person half ihm, die Nerven zu bewahren, und nicht in Panik auszubrechen. What’s that? Während er das Wasser auf Anzeichen der verlorenen Passagierin abscannte, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Ein Wrackteil, welches ziemlich genau die Form von Mayas zu haben schien. Vielleicht fing er an, zu halluzinieren, aufgrund der nicht vorhandenen Zufuhr sämtlicher Nährstoffe, doch je länger er das Stück Blech betrachtete, desto bekannter kam es ihm vor. Ians Blick wich hinüber zu Franz, der ohne jedwede Mimik auf die Meeresoberfläche starrte. Erst in diesem Moment fiel Ian auf, dass Franz ihm nicht geantwortet hatte. Er hatte nichts gesagt. Ians Kopf schmerzte, während er versuchte, nachzudenken, doch schließlich erblickte er neben dem Wrackteil etwas im Wasser. Nicht mehr als ein roter Schimmer, doch Ian erkannte es sofort.
»What did ya do?!«, schrie Ian zu Franz, der sich keineswegs rührte. Ian sprang ohne seine Weste in das Wasser und schwamm zu dem roten Schimmer. Er hatte recht behalten. Es war Mayas rotes Top, welches falsch herum auf dem Wasser trieb. Mit aller Kraft hob er die Frau auf das Wrackteil und zog sich selbst hinterher. Viel Platz war nicht, doch er brauchte nur genug Platz, um einen Wiederbelebungsversuch zu starten.
Je nachdem, wann Franz sie ertränkt hatte, war es längst vergeblich, doch Ian musste es versuchen. Sein letzter Erste-Hilfe-Kurs war allerdings schon eine Weile her. Unbeholfen drückte er mit beiden Händen auf ihre Brust, um die Herzdruckmassage durchzuführen. Nach ein paar Malen, in denen sich ihr Zustand nicht veränderte, begann er mit der Atemspende und gleich darauf wieder die Herzdruckmassage.
»Common‘!«
»Don’t.« Die Stimme war leise, allerdings klar hörbar. Franz hätte Reue zeigen müssen. Er hatte versucht, jemanden umzubringen, und es vielleicht sogar geschafft. Wieso zeigte er keine Reue an seiner Tat?
Immer wieder drückte er auf ihren Körper, doch Maya rührte sich nicht. Tränen begannen unkontrolliert aus Ians Augen zu laufen. Er kannte sie nicht. Er mochte sie nicht einmal besonders, schließlich war sie nicht unschuldig an ihrem Absturz, doch er hatte dieses furchtbare Gefühl, dass sie ein guter Mensch war und er hatte gewusst, dass sie sich in Gefahr befand, mit Franz. Trotzdem war er eingeschlafen. Er hatte ihr gesagt, er würde Franz aufhalten und sie beschützen, doch er hatte die Gefahr nicht richtig einschätzen können. Sie sollte nicht sterben. Das war einfach nicht richtig. Doch egal wie viele seiner Tränen auf ihr Gesicht fielen, sie wachte nicht auf.
»Better so«, verkündete der Mörder. Seine Ignoranz bezüglich seiner Tat brachte Wut in Ian hervor. Wut, dessen Kraft er nicht kontrollieren konnte, denn außer ihr war in ihm nur noch Platz für Hunger und Durst. Er konnte diesen zwei Verlangen nicht nachgehen, doch vielleicht konnte er seiner Wut nachgehen. Die Energie, sie zu unterdrücken, hatte er ohnehin nicht.
»You killed her!«, schrie Ian. »Look at her! Look what ya did!«
»Better so!« Franz‘ Blick löste sich von der Wasseroberfläche und richtete sich auf Ian. In seinen Augen war nur Leere, nichts weiter.
»Monster«, murmelte Ian diesmal etwas leiser. Er wandte sich von Franz ab. Er musste sich abregen, doch sah er nicht zu Franz, betrachtete er die Leiche von Maya, die vor seinen Knien lag. Eine Weile sah er nur sie an, ihre bleiche Haut und die geschlossenen Augen, bis er ein Geräusch bemerkte. Etwas kam näher. Eilig drehte er sich um und in der Ferne erblickte er ein Boot. Er hätte sich gefreut, wäre nicht auch etwas gleich vor seiner Nase gewesen. Franz. Und er hatte wieder ein spitzes Wrackteil in seiner Hand, welches schnell ihren Weg in Ians Bauch fand.
Der Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper. Er drohte zu kippen, direkt in den Ozean hinein. Doch bevor er fiel, griff er nach Franz‘ Hemd und zog ihn mit sich in das tiefe Blau. Ohne Luft und ohne Waffen, da Franz sein Wrackteil in Ian hatte stecken lassen, welches nun gen Meeresboden sank, kämpften sie miteinander.
Nur einer von beiden tauchte auf.
Ian.
Er hatte den Felsen nicht gesehen, der unter Wasser verborgen lag. Er hatte nicht gesehen, wie er Franz‘ Kopf dagegen schlug. Er hatte nur noch gesehen, wie er in die Tiefe sank und die Chance genutzt, um aufzutauchen.
Gerettet von dem Boot, welches sich als Fischkutter herausstellte als einziger Überlebender eines Fluges, den er nie mehr vergessen würde.
„Au Revoir.“
ENDE
Gewinnerin im 5. Rang mit einem Buchpreis gemäß Auswahl
Isabelle Friedmann
Isabelle Friedmann
ist Sozialanthropologin und Bildende Künstlerin. In ihren Gestaltungen und Comics, aber auch während des Verfassens von Kurzgeschichten, Essays oder Sach- & Fachgeschichten kann sie mit Muse und Begeisterung ihre Kreativität und Freude an der (deutschen, französischen, englischen und schweizerischen sowie deutschen Dialekt-) Sprache ausleben und ihren freien Geist fliegen lassen …, außer ihr Kater Ziggy drapiert sich wieder mal demonstrativ self entitled vorm Bildschirm oder spaziert dandyhaft nonchalant über die Tastatur…
Hier ist die Geschichte von Isabelle mit der Beitrags Nr. 09
Familiäre Verpflichtungen
«Fasten your seatbelts» - das Signal leuchtete auf und der Steward erklärte die Sicherheitshinweise.
Franz hörte angespannt zu, obwohl er nur zur Hälfte verstand, was da in Englisch vorgetragen wurde. Seine Flugangst machte ihn nervös und so sagte er in Gedanken wieder und wieder zu sich «Es wird scho’ alles gut ausgeh’n!», genauso wie es seine Erna ihm die letzten Tage stets zugesichert hatte.
«Es wird scho’ alles gut ausgeh’n, mein Lieber! Du reist über Nacht mit der Bahn von Wien nach Berlin und kommst am Dienstag Früh direkt am Flughafen Tegel an. Dann gehts durch den Flughafen hindurch, bis zum Gate 22, und dann steigst du in das Flugzeug nach Irland ein. Direktflug Berlin - Shannon Airport, Gate 22, Abflug 09.30 Uhr - genauso wie es hier auf dem Ticket steht. In Wien waren wir ja schon, da kennst du dich aus und an die Abläufe am Flughafen erinnerst du dich doch noch von unserer Hochzeitsreise her. Mei war das schön in Bali, und heiss, erinnerst du’ dich? So lang ist’s ja nicht her! Bald 15 Jahre und drei Kinder, gell Franz?» feixte Erna beim Abendbrot.
«I woas, du fliegst nicht gern, aber es muss nun halt mal sein um die Asche der Grosstante Marie abzuholen, in diesem irischen Dorf! Es war der Marie - Gott hab sie selig - wichtig, im Tod zurück zu uns ins Zillertal zu kehren und dass ihre Asche auf der Hohenau Alm dem Tiroler Wind übergeben wird» ermahnte sie ihn am Montagmorgen noch einmal.
Und am Dienstag, 10.00 Uhr Ortszeit hatte Franz es dann auch schon fürs erste geschafft. Die Maschine aus Berlin ist pünktlich und ohne Zwischenfälle am Shannon Airport gelandet. Von da aus musste Franz mit dem Zug nach Lahinch, dem ehemaligen Wohnort der Grosstante weiterreisen, wo er kurz vor Mittag den Notar, Mr. Right, aufsuchte und sich die Urne mit der Asche der Grosstante aushändigen liess. Zuversichtlich, die Urne gut im Rucksack verstaut und durch einen Snack am Bahnhofsimbiss gestärkt, ging es dann zurück zum Shannon Airport, Gate 7, Abflug 14.30 Uhr - genauso wie es auf dem Rückflugticket stand. Die Heimreise würde Franz über Frankreich, Paris führen. Von dort aus mit dem TGV nach Wien und von Wien mit der Regionalbahn heim nach Mayrhofen. «Wo ich dich am Dienstag um 20.30 Uhr wieder mit dem Wagen abhole», hatte Erna Franz auf der Fahrt zum Bahnhof nochmals versichert.
«Du hast deinen Personalausweis, die Tickets sowie die Unterlagen für den Notar und für den Transport der Urne sicher in der linken Brusttasche verstaut und für alle Fälle das Natel und etwas Geld dabei» lachte sie ihm zu. «Es wird alles gut geh’n, wirst seh’n! Die Grosstante Marie hat das damals auch geschafft, ohne Telefon, ohne Geld, als alleinstehende Frau!». Weiter führte Erna aus: «Du bist nun einmal der Stammhalter der Mayrhofer Butzecks, Franz. Dieser Umstand hat es uns beschert, dass wir den Hof der Eltern am Brandberg, hoch über dem Zillergrund gelegen übernehmen konnten, von dem wir nun gut leben. Damit geht aber halt auch die Pflicht einher, sich um die Familie zu kümmern. Du wirst es schon schaffen, behüet’ dich Gott und bis bald!» ermunterte sie ihren Mann am Bahnsteig ein letztes Mal und küsste ihn zum Abschied.
In der Reihe hinter Franz sass ein gut gekleideter, rothaariger Mann in der kleinen Maschine der Air Lingus Irish. Um die 40 Jahre alt würde der Dandy wohl sein, der seinen Bauchansatz auch mit dem dreiteiligen Anzug nicht mehr ganz verbergen konnte und entspannt in der «Limerick Morning Post» blätterte. Nur von Zeit zu Zeit blickte er auf, um den Ausführungen des Stewards zu folgen, denn Ian Mahony, Spross einer irischen Industriellenfamilie mit Sitz in Limerick, gerade einmal 10 Fahrminuten vom Flughafen entfernt, kannte die Flugsicherheitshinweise auswendig und den Shannon Airport wie seine Westentasche.
Ian ist ein sogenannter Vielflieger - im Pub an der North-Street wird er am Stammtisch auch schon mal als
«reicher Schnösel», «Schürzenjäger» oder «Sohn von Beruf» verspottet. Sein Grossvater, Aaron Mahony hatte gemeinsam mit seiner Frau Mary anfangs 1900 die Fassbinderei am westlichen Stadtrand Limericks übernommen und dank der Geschäftstüchtigkeit des Ehepaars zu einem stattlichen Unternehmen ausgebaut, wodurch die Mahonys zu einer der grössten Industriellenfamilien im Südwesten Irlands aufstiegen, so dass weder Ian, noch sein jüngerer Bruder Jacke sich jemals Sorgen um Geld machen mussten.
Ian war an diesem Dienstag kurz nach 14.00 Uhr in seinem Jaguar Z5, einem schicken Oldtimermodell von der Mahony Mansion Richtung Shannon Airport aufgebrochen. Er sollte im Auftrag des Vaters in Madrid die Verhandlungen um eine Grosslieferung Fässer mit einem spanischen Sherry Produzenten zu einem guten Ende bringen. Den Flug mit Zwischenstopp in Paris hatte die Sekretärin gebucht und Ian zudem mit den nötigen Reisedokumenten ausgestattet. Besorgt war Ian einzig um den anstehenden Geschäftstermin. Nachdem er sich eher schlecht als recht durch das Studium in Dublin gequält und manchmal auch getrickst hatte, sollte er nun bald endlich an die Spitze des Familienunternehmens rücken, doch dafür musste die Verhandlung in Madrid ein Erfolg werden. Zu viele Scherereien hatte der Vater bereits mit ihm gehabt, als Ian in seinen Flegeljahren nächtelang durch die Pubs gezogen war. Zu viele Sorgen hatte die Mutter sich machen müssen, weil der Junge in Kneipenschlägereien verwickelt war, wegen überhöhter Geschwindigkeit am Steuer gebüsst wurde oder im Dorf seinem schlechten Ruf als Frauenheld nachkam.
Bis heute konnte Ian weder namhafte geschäftliche Erfolge noch einen Stammhalter für die Mahony-Dynastie vorweisen, zu lieb war ihm bis anhin sein Junggesellenleben. Jacke hingegen entsprach eher den Erwartungen der Eltern; hatte dieser das Studium doch mit Bravour bestanden und sich gerade mit der Tochter einer Kaufmannsfamilie aus Cork verlobt.
«Be brave, work hard and everything will be all right» hatte Großmutter Mary stets gepredigt. Nun, mit mittlerweile 45 Jahren, fühlte Ian sich unter Druck, den Eltern zu beweisen, dass er der Richtige für die Firmenleitung sei, um nicht bald den jüngeren Bruder vor die Nase gesetzt zu bekommen. «Everything has to work out all right in Madrid!”, insistierte Ian in Gedanken. Spätestens nach dem Zwischenstopp in Paris wollte er daher noch einmal die Geschäftspapiere, die er im Aktenkoffer neben sich zu liegen hatte, durchgehen.
Doch dazu kam es nicht. Rund 10 Minuten nach dem Abheben, als der Airbus die angepeilte Flughöhe von 30.000 Fuss erreicht hatte und sich etwa über Brest an der französischen Biskaya Küste befand, erhoben sich drei schwarz gekleidete Personen abrupt aus ihren Sitzen. Zuvor hatten sie sich hastig schwarze Skimasken über die Köpfe gezogen und schrien nun in gebrochenem Englisch: «Sitzen bleiben! Das ist eine Entführung! Bleiben Sie ruhig und Ihnen wird nichts passieren!». Die Vermummten lösten sich aus ihren Sitzreihen, stürmten den Gang entlang zum Cockpit hin und stiessen im vorbeirennen die Stewardess, die gerade ihren Dienst aufnehmen wollte, um. Die völlig überrumpelte Berufsanfängerin kam in der ersten Sitzreihe neben dem Einstieg zu liegen, in der sich eine vierköpfige Familie aus Limerick eben noch sorglos auf den Strandurlaub an der Costa Brava gefreut hatte. Zwei der Flugzeugentführer rannten weiter nach vorne und rangen dabei auch den Steward nieder, der geistesgegenwärtig versuchte, via Bordfunk einen Notruf abzusetzen. Über den bewusstlos geschlagenen Steward hinweg brachen die zwei Maskierten die Türe zum Cockpit auf und legten dem verdutzten Piloten unvermittelt von hinten eine Schlinge aus Klaviersaiten, die sie in ihren Hosentaschen ins Flugzeug hatten schmuggeln können, um den Hals. «Los! Autopilot aus! Nicht abdrehen! Wir fliegen nach Beirut! Los!» befahl einer der Entführer, währenddem der Dritte, rücklings zum Cockpit-Eingang stehend mit einem Tranchiermesser aus dem Servierwagen die verdatterte Stewardess und verängstigten Passagiere in Schach hielt.
Im Cockpit befolgte der Pilot die Anweisungen der Entführer und lenkte die Maschine anstatt nach Osten weiter geradeaus Richtung Süden, zum Mittelmeer hin. Via Lautsprecher informierte er mit bestmöglich gefasster Stimme, dass der Flug nicht in Paris zwischenlanden, sondern nun direkt den Beirut International Airport am östlichen Mittelmeer ansteuern wird und bat die Fluggäste darum, Ruhe zu bewahren.
Und tatsächlich beruhigte sich die Lage im Flugzeug etwas. Vereinzelt hörte man Kinder weinen, währenddem Franz Mantra artig vor sich hinmurmelte: «Es wird scho’ alles gut ausgeh’n. Es wird scho’ alles gut ausgeh’n». Ob dies der Moment sei, an dem er mit einer Heldentat die Anerkennung der Eltern, von Limerick, ja des ganzen Shannon Bezirks zurückgewinnen könne, fragte Ian sich in dieser Verschnaufpause als das Flugzeug den Luftraum über Marseille querte. Mutig sein und alles zum Guten wenden, wie Grossmutter Mary es gefordert hatte - wäre er nur nicht, in Angst erstarrt, an seinen Sitz gefesselt.
Doch plötzlich, etwa auf der Höhe Siziliens fiel das Flugzeug in ein Luftloch, wodurch der Entführer unbeabsichtigt die Schlinge um den Hals des Piloten zuzog und dieser im Affekt den Steuerknüppel nach oben riss. Die Maschine steuerte dadurch steil nach unten, die Passagiere wurden in ihre Sitze gedrückt, das Bordpersonal und der dritte Entführer herumgeschleudert und dann krachte es auch schon. Das Flugzeug schlug hart, irgendwo in der südlichen Ägäis zwischen Kreta und Zypern auf die Wasseroberfläche auf und wurde in mehrere Teile zerrissen. Wer nicht schon beim Aufprall getötet wurde, ging nun schwer verletzt oder bewusstlos mit dem Wrack unter.
Nicht so aber die Sitzreihen 3 und 5 am hinteren Ende des linken Flugzeugflügels, jene von Franz und Ian. Wie durch ein Wunder haben die beiden den Absturz nur leicht verletzt überlebt und können sich auf das sich umdrehende Kabinenteil, in dessen Innern sie eben noch gesessen hatten, retten. Sobald er wieder zu einem klaren Gedanken fähig ist, fragt Ian in breitem Shannon Dialekt «Hey, du, alles ok? Bist du aus Limerick?»
«Ähm, Hallo, ich bin Franz, Franz Butzeck, aus Österreich. Ich bin ok, du auch?» antwortet der Bergbauer in schlechtem Englisch. «Yes, i am ok. Ich bin Ian, Ian Mahony mein Name, geboren und aufgewachsen in Limerick, nett Ihre Bekanntschaft zu machen» entgegnet Ian nun in Oxford-Englisch und gewohnt gehobenem Ton. «Oh mein Gott, was ist gerade passiert Mr. Franz?» fragt er dann konsterniert. «Wir müssen uns nur weiter hier festhalten, nicht untergehen!» sind sich die beiden Männer einig. «Der Absturz wurde registriert und Hilfe wird bald eintreffen!» sprechen sie sich gegenseitig Mut zu.
Nach ein paar Minuten des Durchatmens und der Stille wird Franz plötzlich auf ein Geräusch aufmerksam, das von der auf dem Wasser treibenden Spitze des Flugzeugflügels zu kommen scheint. «Hörst du das? Eine Stimme! Von dort! Schau! Siehst du jemanden?» fragt Franz aufgeregt. «Pst, warte, ja jetzt höre ich es auch! Los wir paddeln hin» meint Ian und beginnt mit den Füssen, ihr Floss zu bewegen. Auf halber Strecke halten die Männer noch einmal inne und lauschen. «Ganz sicher, ich höre jemanden!» so Franz. Worauf Ian in Richtung Flügelwrack schreit «Hello? Ist da wer?»
Tatsächlich! «Hello! Mon Dieu! Inshallah! Tout ira bien! » antwortet es aus dem Sichtschatten des Flügels. Eine Person, eine Frau mit gelockten, braunen Haaren zieht sich höher, bis sie sich auf die Flügelfläche stützen und die beiden Männer sehen kann. «Ici! Au secour!» - «Hier! Hilfe!» ruft Mayla und winkt stürmisch. Bei ihr angelangt, ziehen Franz und Ian Maylas Wrackteil an das ihre heran und sichern die Verbindung mit Gurten, bevor sie Mayla ganz auf die Flügelfläche verhelfen. «Englisch?» fragt Ian zielstrebig. «Nein, nur Französisch oder Arabisch» antwortet Mayla und zuckt mit den Schultern. Ihr rechter Arm scheint gebrochen zu sein und sie verliert aus einer klaffenden Wunde am linken Unterschenkel Blut, doch auch sie ist nicht lebensbedrohlich verletzt. Ihre bereits zerrissene schwarze Hose reist Mayla unter Schmerzen weiter auf und bindet mit den Stofffetzen ihr Bein oberhalb des Knies ab.
Die schwarze Kleidung, die Sprachkenntnisse und die südländische Erscheinung der Frau, ebenso wie ihre Abgebrühtheit im Umgang mit ihren Verletzungen - beiden Männern, ob nun gebildet oder bauernschlau, wird sofort klar, dass es sich bei ihrem Gegenüber um einen der Entführer handelt.
Auch Mayla ist klar, dass man sie, falls es weitere Überlebende gibt, alsbald als einen der maskierten Täter identifiziert wird und weiss die erschrockenen Blicke der Männer genau zu deuten. In der Hoffnung, die Situation entschärfen zu können sagt sie einerseits bestimmt, andererseits fragend, was sich selbst die letzten Minuten über zu gemurmelt hatte: «Tout ira bien?!» - «Alles wird gut?!»
Alles wird gut! Das hatte Tante Maryam immer gesagt, nachdem Mayla und ihr jüngerer Bruder Omar bei ihr und Onkel Moes eingezogen waren. Mayla war in Jabalia geboren, im heutigen Gazastreifen, wo ihre Familie seit Generationen gelebt hatte. Maylas Vater, Ahmed Ouchen, besass eine kleine Bäckerei im Stadtzentrum von Jabalia und konnte damit die Familie über Wasser halten. Maylas Mutter Imre kümmerte sich rührend um die beiden Kinder und tat alles dafür, dass sie frei von den Sorgen des Alltags heranwachsen konnten. Nachdem beide Geschwister das Schulalter erreicht hatten, halft die Mutter immer öfter in der Bäckerei aus. Ziel der Eltern war es, beiden Kindern eine gute Ausbildung und das Verwirklichen ihrer Träume zu ermöglichen.
Mit dem Lohn der Mutter konnten nun Geige-Stunden für Omar bezahlt werden. Mayla wollte, wenn sie gross ist, als Forscherin die Welt bereisen und neue Tierarten entdecken - so weinte sie vor Glück als die Eltern ihr zum elften Geburtstag einen Globus schenkten. «Ich werde eine berühmte Forscherin und euch sehr stolz machen!» versprach Mayla damals mit leuchtenden Augen.
Es kam jedoch ganz anders. Die Kinder waren in der Schule als wieder einmal der Bombenalarm los ging. Schon die ganze Woche über kamen von den israelischen Siedlungsgebieten her Raketen geflogen um ein Selbstmordattentat in Tel Aviv – Jaffa von letzter Woche zu vergelten. Und dieses Mal trafen die Geschosse auch die Innenstadt von Jabalia. Beide Eltern waren in der Bäckerei als das gesamte Gebäude in Schutt und Asche gelegt wurde. Niemand im Haus überlebte.
Als die Schule aus war, stand Tante Metha am Tor und überbrachte wehklagend die tragische Nachricht. Doch daran kann Mayla sich nicht erinnern. Der ganze Tag, ja die folgenden Wochen sind nur ein verschwommener, dunkler Fleck in ihrem Gedächtnis. Die nächste klare Erinnerung hat Mayla erst wieder an die intensiven Düfte, die vom Markt herauf in das improvisierte Kinderzimmer in der Wohnung von Onkel Moes und Tante Maryam strömten. Das kinderlose Paar, das in den 70er Jahren nach Marokko ausgewandert war, hatte sich bereit erklärt, die traumatisierten Geschwister bei sich in Marrakesch aufzunehmen. Dort versuchten Mayla und Omar zurück in den Alltag zu finden, gingen zur Schule und lernten Französisch. Wenn die Kinder aber wieder in Trauer verfielen oder von Alpträumen gequält mitten in der Nacht weinend aufschreckten, setzte Tante Maryam sich zu ihnen, nahm sie in die Arme und flüsterte ihnen zu «Alles wird gut. Ich weiss, ihr vermisst eure Eltern, aber sie freuen sich, dass ihr lebt! Eines Tages werdet ihr sie in der Dschanna, im Paradies wiedersehen».
Noch schlimmer als Mayla vermisste Omar die Eltern. Seine ganze Kindheit über konnte er den Verlust nicht verwinden und mit 17 Jahren ging er zurück nach Gaza, wo er sich der Hamas anschloss. Lange hatten die Ouchens in Marrakesch nichts mehr von den Verwandten in Jabalia gehört, bis die schreckliche Meldung eintraf - Omar hatte sich in einem Einkaufszentrum in Aschkelon in die Luft gesprengt. «Für Mama und Papa!» soll er gerufen haben, bevor er den Sprengstoffgürtel zündete. Für Mayla brach erneut die Welt zusammen. Alle ihre Liebsten hatte ihr dieser elende Krieg genommen, erst die Eltern und nun auch Omar. «Mein Brüderchen! Was soll ich denn noch anderes tun als selber zu kämpfen?» schrie sie schmerzerfüllt und reiste direkt am Folgetag, gegen den Widerstand der Zieheltern, ebenfalls zurück in die Heimat, wo auch sie sich der Hamas anschloss. Nach intensivem militärischem Training arbeitete Mayla erst im Versorgungslager und dann bei der Herstellung von Waffen mit. Als Freiwillige gesucht wurden, die mit der Entführung eines Flugzeugs im Herzen Europas die westlichen Mächte endlich zum Eingreifen zwingen sollten, meldete Mayla sich sofort. «Ich habe nichts mehr zu verlieren! Egal, auch wenn ich dabei sterbe!» stellte sie klar.
Dann, einen Monat später, im Meer treibend sich verletzt am Flügel eines abgestürzten Flugzeugs festklammernd ging Mayla nur noch eines durch den Kopf – die Worte von Tante Maryam.
«Bei Allah, ich will leben! Ich will studieren! Ich will, dass alles gut wird!» bricht es unvermittelt aus ihr heraus und die beiden Männer sehen sie noch verdutzter an als zuvor.
Ian übersetzt ins Englische, was die Frau eben auf Französisch gesagt hat und Franz antwortet in seiner Muttersprache «Ja! Alles soll gut ausgeh’n! Für Erna, für die Kinder! Bei der Asche von Grosstante Marie!». Und auch Ian stimmt ein «Alles wird gut! Grossmutter Mary steh uns bei!».
«Gut ausgeh’n, Marie» spricht Mayla auf Deutsch nach und zeigt auf Franz. «Gonna be all right, Mary» wiederholt sie in Englisch und zeigt dabei auf Ian. «Maryam, tout ira bien» ergänzt sie mit sanfter Stimme und legt dabei ihre Hand aufs Herz.
Die Männer haben das Gefühl, zu verstehen, was Mayla meint. Trotz all ihrer Unterschiede - idyllisch, privilegiert oder im Kriegsgebiet aufgewachsen, extravagant oder schlicht auftretend, Passagier oder Entführer - sie Alle tragen, trotz allem, tief in sich den Glauben, dass die Dinge gut ausgehen werden.
Doch dieser Glaube fusst nicht, wie die anderen jeweils annehmen, auf dem Glauben an die Mutter Jesu - zu Deutsch Maria, auf Englisch Mary, im Islam Maryam - sondern ist in ihrer Familiengeschichte verwurzelt.
«Wir werden das überstehen, bis Hilfe kommt!» sagt Ian zu Franz auf Englisch und auf Französisch zu Mayla, worauf beide nicken. So, mehrheitlich schweigend und ihrem eigenen Leben nachsinnend, abwechselnd schlafend oder nach Rettung Ausschau haltend, treiben die Drei den restlichen Tag und die kommende Nacht über auf ihrem improvisierten Floss im Mittelmeer.
Am nächsten Tag, wieder etwas bei Kräften, beginnen sie dann, sich gegenseitig zu erzählen, aus welchen Gründen und mit welchem Ziel sie die Unglücksmaschine der Air Lingus Irish am Shannon Airport bestiegen haben. Als Franz und Ian Maylas Geschichte hören, wird ihnen bewusst, wie viel Glück sie bislang im Leben hatten und sie beginnen zu verstehen, wie jemand dazu kommt, eine solche Schreckenstat wie eine Flugzeugentführung zu begehen. In der darauffolgenden Nacht beschliessen die Männer, es Mayla selbst zu überlassen, welche Rolle sie sich beim Verhör zum Unfallhergang - und das schreckliche Ergebnis der Flugzeugentführung war ja ein Unfall - zuschreibt.
Am Donnerstagmorgen ist es dann wieder Franz, der als erstes aus der Ferne ein Geräusch wahrnimmt. Er stupst Mayla und den schlafenden Ian an und zeigt in die Richtung, aus der das Brummen kommt. «Help is coming!» ruft Franz und sie alle beginnen zu schreien und zu winken. Tatsächlich! Am Horizont taucht ein weisser Fischkutter auf, von dessen Bug aus ihnen jemand zurückwinkt. «Rettung!», «Aide!», «Hurray!». Die drei Überlebenden fallen sich freudig in die Arme. «Alles wird gut ausgeh’n!», «Everything will be allright!», «Tout ira bien!», sichern sie sich so verschlungen gegenseitig euphorisch zu und blicken dann gen Himmel, alle in Gedanken daran, wozu sie das Geschenk des Überlebens künftig nutzen werden.
ENDE
Bei all den erfolgreichen Buchautoren, Filmemachern, Musikern, Künstlern und Unternehmern, sind viele junge Menschen geneigt, ihnen nachzueifern. Sie versuchen, es ihnen gleichzutun und beginnen, das Erschaffene dritter zu kopieren. Das ist der erste Fehlschritt eines Newcomers. Er lässt außer Acht, dass gerade die Erfolgreichen, mit eigener Kreativität zu Werke gingen und deswegen erfolgreich wurden. Deshalb unser Aufruf: Gehe Deinen eigenen Weg, verwirkliche Deine Ideen und erschaffe Deine eigenen Werke.
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