Christian Mutzel

Kurzbiografie

 

Christian Mutzel wurde am 01.04.1990 in Schwandorf, in der Oberpfalz, geboren. Sein betriebswirtschaftliches Studium mit der Vertiefung Marketing schloss er an der Fachhoch-schule Ansbach mit dem Bachelor of Arts ab. Seit 2016 ist er in einer Online-Marketing-Agentur als Content Marketing Manager und Texter tätig. Mit seiner Leidenschaft für das Schreiben gelangen ihm bislang Veröffentlichungen von Kurzge-schichten in verschiedenen Anthologien. Außerdem führt er seinen eigenen Blog. Der erste Roman ist in Arbeit.

 

Besuchen Sie Christian auf seiner Homepage:

 

https://federundgeist.blog/

 

 

 

DAS VERLANGEN NACH UNBETRÜBTHEIT

 

DIE GESCHICHTE ÜBER EINEN NÄRRISCHEN WUNSCH 

(Urheberrechte & Copyrights © by Christian Mutzel) 

  

  

Ohne Frage war Thomas Mogendorf eine faszinierende Persönlichkeit. Wenn er den Raum betrat, dann umgab ihn eine Aura der Würde und der Anmut, was sich bereits in seinem äußeren Erscheinungsbild spiegelte. Am markantesten war seine hochstehende Stirn, anderen Gipfel sein pechschwarzes Haar in geschwungenem Bogen nach beiden Seiten herabfiel und so starr saß wie das Kunsthaar einer Marionette, das von filigraner Meisterhand arrangiert wurde. Sein jugendlich wirkendes Gesicht war ohne Falten und von so sanfter Linienführung, dass kaum jemand erraten konnte, dass dieser schlanke, hochgewachsene Mann bereits weit über 30 war. Und seine wacholderblauen Augen. Wachsam und durchdringend waren sie – genauso wachsam und durchdringend, wie sein Verstand. 

 

Thomas war ein Genie, das musste man ihm neidlos zugestehen. Bereits im frühen Alter auf eine spezielle Schule für Hochbegabte geschickt, legte er in seinem Leben eine beispiellose akademische Karriere hin, die zu einer exzellent vergüteten Professur an einer renommierten Hochschule führte, wo er die hohe Kunst der Mathematik lehrte –hohe Kunst der Mathematik mag an dieser Stelle etwas hochtrabend klingen, doch genau diese Formulierung nutzte Professor Dr. Thomas Mogendorf stets, wenn er über sein Metier sprach. Und auch sonst war er nicht darum verlegen, sich eher affektiert zu artikulieren, was einerseits durchaus interessant war, ihm so zu lauschen, wie gewählt die Worte förmlich aus ihm sprudelten, es anderseits zuweilen schwierig machte, ihm dauerhaft zu folgen. Eine seiner positiven Angewohnheiten war es glücklicherweise, Geduld zu beweisen mit seinem Gesprächspartner und sich nicht in snobistischem Enervieren zu ergehen, wenn er sich noch einmal wiederholen musste. Und so gestaltete sich doch jede Debatte mit ihm sehr angenehm. Vor allem war es möglich, sich mit ihm über alle möglichen Angelegenheiten zu unterhalten. Von der Philosophie über Biologie bis hin zum aktuellen Zeitgeschehen – Thomas Mogendorf war kein Fachidiot, der es außerhalb des Elfenbeines der Mathematik an Bildung mangeln ließ – ganz im Gegenteil. Noch nie hatte ich einen Menschen kennengelernt, der so begierig darauf war, sich unentwegt neues Wissen anzueignen. Es war immer wieder eine Wonne, mit ihm zu debattieren, auch wenn, das musste ich mir einzugestehen, mein intellektuelles Level bei weitem nicht an seines herankam. Was nicht hieß, dass ich nicht intelligent wäre. Wir fanden rasch Zugang zueinander, die alsbald in Zuneigung überging. Bekanntschaft machten wir in der Universitätsbibliothek, in deren Verwaltung ich angestellt war. Eines Abends kam der dürre, große Mann kurz vor der Schließung noch herein und fragte nach einer Ausgabe des „Futuristischen Manifestes“. Zu jenem Zeitpunkt beschäftige er sich mit den Ursprüngen der Avantgardebewegung. Da ich mich für diese Thematik ebenso interessierte, kamen wir ins Gespräch. Dies war der Beginn einer Reihe von spannenden und stimulierenden Konversationen und wir wurden zu Freunden. Wir trafen uns regelmäßig. Auch wenn Thomas eher von ernster Natur war, so verbat er sich jedoch nicht komplett das eine oder andere Vergnügen, sodass es häufiger vorkam, dass unsere Zwiegespräche in einem kleinen Gelage mit viel Wein oder Scotch endeten. Die Zeit mit ihm war also durchaus unterhaltsam. 
Leider kam es so, dass Thomas eine Reihe von Schicksalsschlägen hinnehmen musste. Zuerst verstarb seine Frau bei einem Autounfall. Danach erlitt seine Mutter einen Schlaganfall und wurde zum Pflegefall in einem Heim. Als wäre dies nicht genug, stand zudem seine Anstellung an der Universität auf dem Spiel. Ich fragte mich ernsthaft, wie viel Unglück einen Menschen auf einen Schlag ereilen könne und wäre ich gläubig gewesen, hätte ich diese Serie an betrüblichen Ereignissen als ein Test, Gottes erachtet. Aber mit solchem metaphysischen Unsinn gab ich mich erst gar nicht ab. Thomas war schlicht ein Pechvogel.
 
Es war schwer zu übersehen, wie diese Aneinanderreihung von Unglücken am Gemüt des Professors nagte. Zuvor dachte ich, dass Thomas Mogendorf ein Mann gewesen wäre, den nichts erschüttern könne. Keine Ahnung, woher ich diese Mutmaßung bezog. Vielleicht war es eben diese würdevolle Aura, die er ausstrahlte. Aber es zeigte sich, dass auch er von den Emotionen übermannt wurde – womöglich sogar noch schlimmer als bei vielen anderen Menschen, hieß es doch immer, dass intelligente Personen schwieriger mit ihren Gefühlen klarkämen, da sie zu intensiv über diese nachdachten. Es war nicht schön, mit zu- erleben, wie mein Freund allmählich immer weiter in einen depressiv-lethargischen Zustand verfiel, der sich damit abwechselte, dass er all seinen Ballast auszuweinen versuchte. Ich fühlte mich ungut mit der Ohnmacht dem gegenüber, damit, dass ich zwar mit ihm reden und ihm zuhören konnte, aber letztendlich nicht wusste, wie ich ihm tatsächlich helfen konnte.
 

 

Als ich an jenem Mittwochnachmittag meinen Freund in seinem prachtvollen, Landhaus ähnlichen Anwesen besuchen wollte, erwartete ich bereits seufzend, ihn genauso in Gram verharrend vorzufinden, wie ich ihn die letzten Male erblickt hatte. Umso überraschter war ich, als sich die Tür öffnete und ich in ein freudig lächelndes Gesicht blickte, das voller Farbe war.

 

„Es freut mich sehr, dich zu sehen“, sagte Thomas, wobei seine Stimme wieder mit Leben gefüllt war. Die Begrüßung kam geradezu als stimmungsvoller Jauchzer. 

„Du siehst ja so froh aus“, sprach ich halb fragend, halb feststellend und konnte nicht verbergen, wie verdutzt ich war. Gleichzeitig war ich etwas verunsichert. 
   „Woher kommt das?“, fragte ich. Thomas bat mich herein.
 

„Über die Schwelle mit dir“, sagte er. „Lass mich dir etwas zeigen.“ 
Gespannt, was mein Freund mir zeigen wollte, trat ich ein und ein weiteres Mal stellte ich die Frage:
 

„Warum bist du so fröhlich?“   „Darf ich dies denn nicht? Hast du erwartet, einmal mehr ein Kind der Traurigkeit vorzufinden?“ 

Aufrichtiger Weise musste ich diese Frage bejahen.   „Du wirkst sehr verändert“, fuhr ich fort.  

„Was ich nicht schlimm finde, im Gegenteil. Es freut mich sehr, dich wieder lächeln zu sehen, nur unerwartet war es. Das letzte Mal ließ nichts darauf schließen, dass sich dein Gemüt ändert. Was hat sich getan?“    „Weißt du“, erwiderte Thomas, „ich bin schlicht darüber hinweg-gekommen. Meine Frau ist tot. Sei es so. Der Tod gehört zum Leben und meine Mutter …, nun ja, betrüblich, doch mein verehrter Vater ist noch da. Und das mit meiner Anstellung …“ Er lachte gekünstelt.  

   „Ich mein, du bist dir ja dessen bewusst, dass ich ein Mann mit Qualifikation bin. Wer mich verschmäht, der macht einem anderen Arbeitgeber einen Gefallen. Eine Anstellung werde ich wiederfinden und so denke ich, im Gesamten wird es wieder Zeit, etwas Optimismus walten zu lassen.“

  Ich stimmte ihm zu. Just in diesem Moment trat eine graue, schwarz gestreifte Katze von breiter Statur das Wohnzimmer.  „Du hast eine Katze?“, fragte ich erstaunt, war Thomas nie jemand, der sonst die Nähe von Tieren allzu hochschätzte. „Jetzt bin ich wirklich überrascht.“ 

„Ich wollte etwas Neues probieren und betrachte das Ganze als Experiment. Ich möchte sehen, ob wirklich etwas dran ist, dass Haustiere bei emotionalen Tiefs helfen können. Nun denn, sieh da.“ 

 

Ob die Katze ihm wirklich die Stimmung gehoben hatte, bezweifelte ich ernsthaft. Um nicht zu sagen, erachtete ich die Anschaffung des Tieres eher aus einer emotionalen Laune heraus, um die Trübnis in einem falschen Schein verschwinden zu lassen. Aber dazu wollte ich mir kein Urteil anmaßen und so beließ ich es dabei, dem schelmisch schnurrenden Tier, das sich an meinem Bein entlang schmiegte, sanft mit der Hand über den Kopf zu fahren. Zumindest aber machte ich der Katze ein Kompliment, das ich durchaus ehrlich meinte, denn das Tier war sehr schön. Letztendlich war alles besser, als hätte mein Freund selbstschädigende Affekthandlungen ergriffen. 

    „Wo hast du die Katze her?“, fragte ich. Thomas erzählte mir von einer kleinen Tierhandlung an der südlichen Stadtgrenze. Er verriet, dass er den Ladenbesitzer zufällig kennengelernt hatte, mit ihm ins Gespräch kam und dieser ihn auf die Idee brachte – wenngleich er sich dennoch ein paar Tage Bedenkzeit eingeräumt hatte.  „Ihr melodisches Maunzen entzückt mich sehr“, sagte er mit schwelgerischem Blick, nachdem das Tier einmal um den Sessel, auf dem Thomas saß, herumstolzierte und dabei sanft miaute, als würde es sich in ihre Konversation mit einhaken wollen. 

 

Wir unterhielten uns sehr lange und vergnügt, genossen einen 21 Jahre alten Glenfarclas. Es war eine Wohltat, endlich wieder unbeschwert zusammenzusitzen. Schließlich verabschiedete ich mich. Bevor ich ging, brachte mir mein Freund eine ansprechende Idee entgegen – ein Genießer-Abend sollte es mal wieder sein. Wir beide, anregende Gespräche, Kunst und Kultur und der edle Tropfen. Dem konnte ich natürlich nicht abgeneigt sein und wir verabredeten uns für das kommende Wochenende. 

 

Die ganze Woche über blickte ich dem großen Abend entgegen und da sonst nicht viel passierte, was nennenswert war, so erschien mir das freudige Beisammensein als ein wahrer Höhepunkt. Da ich nicht nur vom Spirituosenschrank meines hochgebildeten Freundes schnorren wollte, kaufte ich selbst einen recht hochpreisigen Brandy, den ich noch nicht kannte, den ich aber probieren wollte. Am Freitag rief mich Thomas noch an. Am Telefon klang er noch fröhlicher als an unserem letzten Treffen. Er jauchzte ausgelassen in den Hörer, inbrünstig, wie ich es noch nicht mal von der Zeit kannte, bevor ihn seine Unglücksserie ereilte. Zu jenem Zeitpunkt dachte ich mir aber weiterhin nicht viel dabei. Kurz kam in mir der Gedanke auf, ob sich Thomas in die Abhängigkeit von Psychedelika begeben hatte, die dieses ungewohnte Stimmungshoch verursachten. Doch diese abstruse Idee verwarf ich alsbald. Thomas fragt mich, ob ich Samstag Lust auf Hummer hätte, den er zubereiten würde. Dem war ich nicht abgeneigt und ich bejahte die Frage.  

   „Exzellent“ rief er beinahe singend in den Hörer. Ich verzichtete darauf, ihn nochmal zu fragen, was bei ihm für so gute Laune sorgte. Dass es ihm emotional wieder besserging, hatte für mich Priorität. Und redundante Gespräche vermied ich bestmöglich.

 

Der Abend selbst war überaus gemütlich. Wir aßen, schwatzten, tranken und philosophierten und hörten dabei klassische Musik. Allerdings bemerkte ich bereits, dass sich Thomas Gesichtszüge etwas verändert hatten. Er wirkte etwas abgekämpft. Ich dachte allerdings, dass er schlicht etwas müde gewesen wäre und so ganz über den Berg mit seiner Trauerverarbeitung war er sicherlich auch nicht. Und da war noch etwas Merkwürdiges: Seine Katze – ich traute ihr nicht, auch wenn es lächerlich anmutete, Misstrauen gegen ein Tier zu hegen. Zeitweise hatte ich den Eindruck, sie überwachte mich. Ich spülte diese Gedanken mit weiterem Whisky hinfort, bis der Rausch zu groß wurde und ich schwächelte. Schließlich verabschiedete ich mich ins Gästezimmer. 
Es war 3 Uhr in der Nacht, als unbändiger Durst mich weckte. Meine Kehle war staubtrocken und meine Stirn glühte. Beim Versuch, aufzustehen, kam ich ins Wanken – ohne Frage, so muss ich gestehen, habe ich mindestens zwei Gläser Whisky zu viel getrunken. Mit behäbigen Schritten und mit den Armen durch die Dunkelheit rudernd – ich fand den Lichtschalter nicht – tastete ich mich über die knarrenden und ächzenden Dielen auf der Suche nach der Küche. Dabei passierte ich Thomas Schlafgemach. Die Türe stand leicht offen, wahrscheinlich, damit die Katze ein und auskehren konnte. Was dann geschah, schob ich erst auf ein dem Alkohol bedingten Delirium oder auf einen unheimlichen Alptraum. Durch den Spalt erblickte ich ein bläulich-schummriges Licht, zu grell für den Mond und zu schwach für ein Nachtlicht. Ich konnte der Neugier nicht widerstehen und schob die Schlafzimmertür ein Stück weiter auf, um einen fixen Blick in Thomas Gemach zu erhaschen. Der Anblick, der mich erwartete, war irreal, so verstörend und erschreckend – ich war fest davon überzeugt, nur das Opfer einer Phantasmagorie zu sein.
 

 

Da saß die kleine Katze auf dem Bett dicht am Kopf des Schlafenden und ihre Augen leuchteten, als würde in ihnen blaue Flammen züngeln. Nicht nur das. Aus den Augen heraus bahnte sich ein blau-silbriger, nebelartiger Streifen seinen Weg durch die Luft und bedeckte Thomas Gesicht wie der Tau das Gras an einem kalten Morgen des frühesten Frühjahrs. Was geschah hier?

 

Es bedurfte keiner feinen Katzensinne, um mich zu bemerken. Denn bei dem, was ich sah, schnappte ich derartig laut nach Luft, dass niemand bei wachem Verstand mich überhören konnte. Die Katze hob ihren Kopf und ihre grellen, unnatürlichen Augen starrten mir entgegen. Das Licht, das von ihr ausging, war hell genug, um ihr Gesicht zu offenbaren – oh, dieser Schrecken. Die Zähne, die sich offenbarten, als sich das breite Maul hämisch grinsend öffnete. Zähne, es waren nicht die einer normalen Katze, Zähne, die noch einem Hai Respekt eingeflößt hätten, würde dieser über Vernunft verfügen. Unter der Last blanken Entsetzens stieß ich einen grellen Schrei aus, in dem meine ganze Stimmkraft lag und der meinen Hals aufzureißen schien. Es musste ein Alptraum sein. Es konnte nicht anders sein. Ich hustete und wankte einen Schritt zurück. Die Kreatur, die sich als treues Haustier meines Freundes ausgab, sprang vom Bett und schritt tänzelnd auf mich zu, ihr garstiger Blick fraß sich in mich und ließ mein Blut gefrieren. 
Eine scharrende Stimme sprach:
 
„Verschwinde! Du machst ihn nur unglücklich.“ Was für ein Wahnsinn ging in meinem Kopf vor? Sprach dies Tier, dieses Ding tatsächlich zu mir? Mein nächster Schritt war ungelenk gesetzt und ich verlor die Balance, stürzte und mein Kopf schmetterte auf den harten Boden. Ich keuchte auf.     „Verschwinde und komm nicht wieder“, sprach die ungeheuerliche Katze. Sie stand auf der Schwelle, hätte jederzeit mit einem Satz an meinem Kopf sein können, um mir das Gesicht zu zerkratzen. Ich erwartete ihren Angriff jeden Moment.  „Bitte, lass mich“, stammelte ich panisch.   „Was willst du?“ 

„Verschwinde, mach ihn nicht unglücklich.“  „Was ist denn los“, ließ eine angenehm vertraute Stimme verlauten, die mir meine Einsamkeit in diesem Alptraum nahm und neue Zuversicht verschaffte. Das Licht ging kurz darauf an und einen weiteren Moment später stand Thomas im Türrahmen. Sein Gesicht war innerhalb dieser kurzen Zeit, seit sie ins Bett gegangen waren, noch ausgemergelter, sodass es die Grenze zum Gespenstischen bereits erreicht hatte. Im Kontrast dazu klang er noch aufgedrehter, noch euphorischer. Es passte gar nicht zusammen. Thomas Mimik, seine Gesichtszüge, seine Körperhaltung und die Art, wie er sich bewegte – viel zu stockend für sein Alter – dies alles stand in einem klaren Antagonismus zu der aufgesetzten Fröhlichkeit, die er an den Tag legte, wenn er sprach. Es war keine aufrichtige Heiterkeit, dies konnte ich eindeutig erkennen – gespielt war sie, aufgesetzt wie bei den Protagonisten in Huxleys schöner neuer Welt, in der sich die Menschen mit einer Dosis Soma aus allen Tiefs befreiten.  „Deine Katze“, sprach ich fiebrig zitternd und überlegte, was ich denn sagen sollte, ohne dass ich mich anhörte, als wäre ich vollkommen dem Irrsinn verfallen. Ich beobachte schwer atmend das Tier, das wieder in seiner normalen Gestalt war und unschuldig die Beine seines Besitzers umschwärmte und dabei ein entzückendes „Miau“ von sich gab. Dieses falsche Biest.   „Sie ist böse“, brach es mir schließlich unbedacht heraus, ganz zu Thomas Vergnügen, der in schallendes Gelächter ausbrach.     „Dieses niedliche Tierchen.“ Er nahm sein Haustier in die Arme und hob es behutsam hoch. „Valencia ist so ein liebes Mädchen“, beschwor er und koste das gräuliche Fell, was das unheilvolle Ungetüm mit einem betörenden Schnurren quittierte.  „Du hast nur schlecht geträumt“, versicherte mir mein Freund, „und außerdem, viel zu viel getrunken.“ Doch beschwichtigen konnte er mich damit nicht. So voll des Alkohols konnte ich nicht sein, um mir so eine monströse Halluzination aufzubauen. Ich musste raus aus diesem Haus, fort von der Kreatur, die mir befahl, zu verschwinden. Das letzte, an dem mir gelegen war, war, sie herauszufordern. Ich entschuldigte mich kurz angebunden bei meinem Freund und verschwand eiligst ohne mich noch einmal umzusehen. 

 

Ich irrte länger durch die Nacht umher, als ich eigentlich sollte für den Weg bis zu meinem Haus, doch ging mir jede Orientierung verloren. Irgendwann schaffte ich es doch und just, als ich mein Heim erreichte, erhoben sich bereits die ersten Sonnenstrahlen am Firmament. Ich wollte mich zunächst zu Bett begeben, doch so müde ich auch war, meine Gedanken verharrten allein bei der mysteriösen Katze, die meinem Freund gehörte. Ich hatte Angst, dass mich das Vieh verfolgt hatte und jeden Moment in meinem Schlafzimmer stand. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich sie vor mir, das Leuchten aus ihrer Iris, welches das Dunkel gespenstisch durchdrang. Dann riss ich die Lider wieder auf und wälzte mich abgehakt umher, ließ meinen Blick panisch herumschweifen. Aber es war nicht nur die Katze, die mir sogar noch gedroht hatte – eine sprechende Katze, die drohte, man stellte sich das nur vor. Auch das Antlitz meines Freundes versetzte mich in tiefste Beunruhigung. Schrecklich sah er aus, als würde etwas das Leben aus ihm saugen. Etwas stimmte mit ihm nicht, das war mir klar. Doch was? Ich hätte das Gespräch mit ihm suchen können, doch zurück ging ich nicht. Noch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, was ich unternehmen sollte, klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete und stand meinem Freund gegenüber, der seinen Mund zu einem unnatürlichen Grinsen verzogen hatte und doch so matt und bleich war, als läge er in Fieberkrämpfen. Fröhlich sprach er mich an und fragte mich, was mich in der Nacht ergriffen hätte, dass ich ihn so eiligst verließ.  „Du musst deine Katze loswerden“, mahnte ich ihn einmal mehr. „Sie macht irgendwas mit dir.“ 

Thomas antworte mit einem Lachen an der Grenze zur Hysterie.  

   „Ja, das macht sie. Sie macht mich glücklich.“ 

„Du bist nicht glücklich. Das sehe ich dir doch an. Halbtot siehst du aus, da kannst du noch so viel lächeln und lachen und froh gesinnte Bonmots von dir geben. Du musst dieses Monster beseitigen.“ 

 

Noch während ich sprach, merkte ich, dass ich nur auf taube Ohren stieß. Mein Freund schüttelte den Kopf und auch jetzt, wo er mich als absonderlich bezeichnete,verdüsterte sich seine Stimmung nicht im Geringsten. Ich solle nicht zu viel scherzen und weniger der Fantastik frönen, gab er mir zu verstehen. Der Disput war rasch vorüber und Thomas verabschiedete sich letztlich mit der Bitte, ihn gerne wieder zu besuchen, wenn ich meine Katzenangst überwunden hatte. Dabei kicherte er infantil.

 

Nun blieb mir nur eine Möglichkeit: Ich musste die Tierhandlung aufsuchen. Womöglich erhielt ich dort die Auskunft, nach der ich suchte. Ich weigerte, anzuerkennen, dass ich den Verstand verloren hatte oder auch nur, dass ich mein Geist vom Schnaps so vernebelt war, dass ich mich in anderen Welten wähnte. Dafür war das, was ich gesehen hatte, zu real.

 

Ich suchte die Adresse auf, die mir Thomas damals nannte. Ich gelangte mit meinem Auto in ein recht heruntergekommenes Viertel und fragte mich, wie es Thomas überhaupt hier her verschlagen hatte. Aber halt, er erzählte, dass er den Händler wo getroffen hatte. Von alleine wäre er sicherlich nicht auf die Idee gekommen, hierherzukommen. Ich fand das Geschäft schnell und hielt am Parkplatz davor an. Die Dimension der Tiere stand auf einem vergilbten Holzschild. Merkwürdiger Name, dachte ich und überhaupt machte das Gebäude schon einen merkwürdigen Eindruck für eine Tierhandlung. Das alte Fachwerkhaus hätte vielmehr eine recht urige Wirtschaft abgegeben. 

 

Ich trat ein. Im Inneren wurden die Impressionen nicht besser. Es war eine schmale Räumlichkeit, die schon ziemlich aus der Zeit gefallen wirkte. Die Anzahl der Tiere war überschaubar. Ein paar Wellensittiche piepsten in rostigen Käfigen umher, Hamster machten es sich in ihrem Gehege gemütlich und hinter den Glasfronten der Terrarien züngelten ein paar Schlangen, deren Gattung ich nicht benennen konnte. Ich fragte mich, ob dieses Geschäft überhaupt legal war. 

 

Ein älterer Mann von hagerer Statur kam durch eine Tür hinter dem Verkaufstresen hervor. Die Reste seines Haares waren durchgehend ergraut und formte um den oberen Kopfbereich herum die letzten Anzeichen von Koteletten. Mit seiner runden Brille bot er einen kauzigen Auftritt.  „Guten Tag“, sprach der Mann zu mir und ich begrüßte ihn ebenso, auch wenn es mir nicht ganz gelang, Freundlichkeit zu bewahren. Dafür war ich zu aufgeregt und ich beschloss, schnell auf den Punkt zu kommen.  „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er. 

Ichantwortete: „Ich habe eine Frage zu einem Tier. Ich meine, zu einem ganz speziellen Tier.“  „Damit kann ich dienen. Wissen Sie. Ich kenne mich sehr gut aus in den Tierwelten. Jede Frage beantworte ich Ihnen. Und wenn Sie damit liebäugeln, einen neuen Begleiter zu kaufen, so können Sie tiefgehende Beratung erwarten.“    „Ich will nichts kaufen“, entfuhr es mir schroff, was nicht beabsichtigt war. Ich entschuldigte mich sogleich und kam zugleich auf meinen Freund zu sprechen. 

Ich beschrieb Thomas Mogendorf und fragte den Tierverkäufer, ob er sich noch an in erinnerte. Der Blick des alten Mannes verdüsterte sich. Er machte eine kurze Pause und antwortete:   „Oh ja. Ich erinnere mich sehr gut. Ihm habe ich etwas sehr Seltenes verkauft. Eine Jammerfraßkatze. 

Was zum Teufel, sollte das sein, fragte ich mich, eine Jammerfraßkatze? Meine Verwirrung musste mir offenkundig im Gesicht gestanden haben, denn diese Frage an den Mann direkt, nahm er mir bereits mit seiner Antwort vorweg.

„Eine Jammerfraßkatze dürften Sie in Ihrer Welt nicht kennen. Es handelt sich um ein Tier aus einer anderen Dimension.“ 

Es wurde wahrlich immer vertrackter, immer sinnloser und bizarrer. Was meinte er mit anderer Dimension? Ich schüttelte unverständig den Kopf. 
„Ihren unglücklichen Freund“, sprach der Alte, habe ich beizeiten in einer Bar getroffen und ich dachte, ich heitere ihn etwas auf …, mit einem Tier. Was gäbe es Besseres? Anfangs widerstrebte er sich gegen meinen Vorschlag, doch ich versicherte ihm, das ideale Tier für ihn. Er schien mir allzu unglücklich und so war es mir gleich klar, dass eine Jammerfraßkatze perfekt für ihn wäre. Und ich verkaufte sie ihm.“
 
Dies erklärte aber noch nicht, was für ein merkwürdiges Tier dies war und warum es meinen Freund immer schlechter ging, je fröhlicher er oberflächlich erschien. Ich protestierte, der Mann möge konkreter werden.     „Jammerfraßkatzen“, fuhr der Verkäufer fort, „ernähren sich von der Traurigkeit und vom Unglück. Mehr noch: Sie saugen alle negativen Gefühle ab, solange bis der, dem die Gefühle entzogen werden, nur noch freudige Empfindungen wahrnimmt. Danach ziehen die Tiere in der Regel weiter und suchen jemand Neuen, an dem sie sich weiden können.“      „Und warum geht es meinem Freund augenscheinlich so schlecht?“, fragte ich mit ansteigender Nervosität. 
  „Es klingt zunächst durchaus angenehm, keine Trauer mehr zu verspüren, jedoch sind es gerade diese Gefühle, die erst dafür sorgen, dass wir wirklich das Leben spüren. Ein vernunftbegabtes Wesen mit Bewusstsein, das sich jeglicher negativen Emotionen entledigt hat, ist nur noch eine degenerierte Hülle. Es wird immer schwächer, bis es nur noch dahinvegetieren kann, bis alle verbleibenden freudigen Gefühle nicht mehr als ein Trug sind, ausgelöst im Delirium. Ihr Freund wird schon bald nur noch daliegen und grinsen können. Vielleicht sogar ganz zugrunde gehen. Die abgesaugten Gefühle lassen sich auch nicht mehr zurücktransferieren.“ 

 

Diese Worte klangen zu absurd, als dass ein Funken Wahrheit dahinterstecken konnte. Ich wollte es nicht glauben und doch kam ich nicht darum herum, dass das blanke Entsetzen in mir ausbrach, als der Mann das Schicksal meines Freundes verkündete. 

   „Das ist eine Lüge“, schrie ich den Alten an. Er ging hinter dem Tresen vor und wies mich an, ihm zur Tür zu folgen. Ich versuchte, so gut es ging, meinen Zorn und meine Furcht zu mäßigen und ging mit ihm. Er öffnete die Tür und in dem Moment war es endgültig um mich geschehen. Statt der Straße, von der ich kam, offenbarte sich mir eine weitläufige und ebene Wiese mit rotem Gras, auf der Bäume standen, die ich noch nie gesehen hatte. Sie erinnerten etwas an zu Holz erstarrte Schlangen, so gewunden ragten sie in die Höhe. In der Ferne erhoben sich ein paar Hügel unter dem Banner dreier Sonnen. Inmitten dieses surrealen Szenarios wuselten ein paar Kreaturen umher, die den ungehemmtesten Fantasten zur Ehre gereicht hätten. Auf der Weite konnte ich sie nicht im Detail sehen, doch sie sahen aus wie eine Mischung aus Wiesel und Elefant im Miniaturformat. Versündigungen gegen jede Logik der Natur. Ich war fasziniert und schockiert zugleich. 
Der Mann schloss die Tür.
 

   „Bevor noch einer ausbricht“, merkte er an. 

„Was geht hier vor“, rief ich aus. In meinem Kopf wirbelten so viele Gedanken in einem Tornado durcheinander, dass ich keine Klarheit gewinnen konnte, geschweige denn eine Erklärung dessen, was meine Augen eben wahrnahmen. 

„Sehen Sie“, sprach der Verkäufer gelassen. „Ich habe viel mehr zu bieten, als ich in diesem kleinen Kämmerchen präsentiere und natürlich noch mehr Tiere als es in Ihrer Welt gibt. Ich verfüge über unzählige Freigehege, in denen ich Tiere aus allen möglichen Dimensionen halte. Aber nicht jedem verkaufe ich so ein Tier. Ich denke, Ihr Freund war dem aber würdig.“  „Aber warum verkaufen Sie so ein Ding, wenn es ihn zerstören oder gar umbringen könnte?“, fragte ich zittrig, apathisch. 

  „Ihr Freund hat den Wunsch geäußert, keine Trauer mehr zu verspüren und diesen Wunsch habe ich ihn erfüllt.“ In dem Moment verzog sich die Mimik des Verkäufers zu einer bösartig-hämischen Fratze, die noch einen Dämon in die Flucht geschlagen hätte.  

   „Keine Trauer zu spüren, bringt aber eben Konsequenzen mit sich, die Ihr Freund nun erdulden muss.“ Der Mann lachte so grässlich, dass ich mir die Ohren zuhalten wollte.  

  „Vielleicht war sein Wunsch so klug.“ 

„Ich werde Sie anzeigen“, drohte ich. Schon im selben Augenblick, als ich dies äußerte, war mir gewahr, wie albern diese Drohung war. Der Verkäufer sprach meine Bedenken aus:  

  „Was wollen Sie der Polizei sagen? Dass ich übernatürliche Tiere verkaufe, aus einer anderen Welt? Wer würde Ihnen glauben?“ 
Da hatte er recht. Die Erkenntnis, dass ich dem Ganzen gegenüber machtlos war, erschütterte meine Hoffnung, meinem Freund noch zu helfen. Was sollte ich machen?“
 

 

Der Verkäufer öffnete die Tür und auf wundersame Weise bot sich wieder das Straßenbild. Ich sah meinen Wagen auf dem Parkplatz. 
„Entschuldigen Sie nun“, sagte der Mann mit einem sardonischen Unterton.
 

  „Wenn Sie nichts kaufen möchten …, ich bin auch so noch beschäftigt. Aber beehren Sie mich gerne wieder. Ich denke, für Sie wäre ich auch bereit, ein seltenes Tier zu verkaufen. Ich wüsste etwas, das für Sie passend wäre.“ 

Ich warf ihm einen letzten Blick zu, der einen Mord hätte ankündigen können. 

Ich wähnte alles verloren und wankte verzweifelt auf dem Bürgersteig umher. Eine Träne rann über meine Wange. Was bliebe noch übrig? Außer …, außer, das Biest zu töten. Ein kleiner Funke kam ihn mir auf. Ja, warum nicht? Es würde sich wehren und mich attackieren, doch war Feigheit fehl am Platz, wenn das Leben eines Freundes auf dem Spiel stand. Der Funke wurde stärker und schwelte zur flammenden Glut an, die meinen Tatendrang wie in einem Dampfkessel befeuerte. 
Ungeachtet aller Verkehrsregeln raste ich mit meinem Wagen durch die Stadt zu Thomas’ Haus. Sollte ich um ein Haar einen Unfall verursacht haben, so habe ich dies definitiv nicht registriert.
 

Am Haus angekommen, klingelte ich sturm. Niemand öffnete. Ich hämmerte gegen die Tür, schrie und kreischte. Als immer noch niemand öffnete, rannte ich um das Haus. Zu meinem Glück erfüllte sich meine Hoffnung und ein Fenster stand offen.

Ich stieg ein und rief weiter aufgelöst nach Thomas. Ich rannte in die Küche und nahm ein Messer zu Hand. Noch einmal rief ich. Die Antwort blieb weiterhin aus und eine schreckliche Vermutung machte sich in mir breit. 

Diese schien sich zu bestätigen, als ich meinen Freund in seinem Schlafzimmer auf dem Boden liegen sah. Mein Puls raste und im Takt dazu stammelte ich immer wieder

„Nein, nein, nein, nein“. Ich flehte darum, nicht zu spät gekommen zu sein. Ich atmete erleichtert auf, als sich sein Körper sanft bewegte und Thomas ein zufriedenes Summen von sich gab. 

„Alles gut?“, fragte ich. Doch Thomas summte immer nur weiter und reagierte nicht im Geringsten auf meine Ansprache. Sein Gesicht sah nochmal ein gutes Stück grauenvoller aus. Er lachte wirr, summte und sang und wand sich wie eine tanzende Marionette am Boden herum. 
„Er ist vollkommen befreit“, sprach eine bekannte Stimme hinter mir, die mir einen Schauer über den Rücken jagte.
 

Es war die Katze, die auf der Fensterbank saß und sich die Tatzen leckte. „Die Gefühle seines Unglücks schmeckten fantastisch, aber jetzt ist er vollkommen davon befreit und gibt mir keine Nahrung mehr. Daher muss ich weiterziehen. Vielleicht schau ich mich mal in eurer Welt um oder ich gehe zum Alten in die Tierhandlung zurück. Das entscheide ich spontan. Also bis dann.“ 

 

Dann sprang die Katze aus dem Fenster und ich habe sie nie wieder gesehen. Ebenfalls nicht mehr gesehen habe ich den Besitzer der Tierhandlung, welche einfach nicht mehr da war. Das Gebäude war leer. Was meinen intelligenten Freund betraf, so hat es mich viel Zeit gekostet, zu akzeptieren, dass er für den Rest seines Lebens nur noch ein Schatten sein würde. Er wurde in ein Pflegeheim eingeliefert, wobei niemand außer ich eben sagen konnte, was ihn in seinen vegetativen Zustand versetzt hatte, in dem er nur noch Grimassen schneiden und die wirrsten Lobgesänge von sich geben konnte. Erkannte er mich, wenn ich ihn besuchen kam?

 

Manchmal lachte er, wenn ich ihm eine Geschichte erzählte, egal, ob sie von heiterer Natur oder ernsthaft war. So oder so, der alten Zeiten willen, wollte ich zumindest noch in den Erinnerungen schwelgen.  

  

 

ENDE