Michael Voß

 

Jahrgang 1961, ist Maschi-nenbauingenieur. Als Aus-gleich zu seinem von Technik geprägten Arbeits-alltag schreibt er Fantasy-Romane und Kurzgeschich-ten, tanzt Salsa und übt sich in koreanischer Kampfkunst. Der Patchwork-Familienvater von drei inzwischen erwachsenen Kindern lebt mit seiner Frau in Bielefeld.

Am Wendepunkt

 (Urheberrechte & Copyrights © by Michael Voß)

 

 

Seit dem Morgen tobte die Schlacht um den schmalen Zugang zum Rübenzwickel, einem eher unbedeutenden Stück Land im Grenzverlauf des Königreiches Bormet und dem freien Land Wenthan.

 

Ungeduldig wartete Rhajada mit ihren Schwertschwestern auf der Rückseite des Feldherrenhügels. Die Amazonen brannten darauf, in den Kampf zu reiten. Das freie Land hatte die unabhängigen Kriegerinnen zur Hilfe gerufen, doch immer noch hielt der Feldmarschall Wenthans die kampfstarken Frauen in der Reserve.

 

    „Typisch Männer!“, ätzte Neria, eine aschblonde Lanzerin aus der dritten Schwadron.

 

„Ertragen es einfach nicht, wenn es nachher heißt, die Weiber haben ihnen den Arsch gerettet!“

 

   „Geduld“, meinte Larys, die Kommandantin.

 

„Noch fünf Minuten, dann betteln sie um Hilfe.“

 

   „Was macht Euch so sicher, Obristin?“

 

„Der Kampfmagier, den der Feind jetzt nach vorne holt.“

 

Sofort schlug die Stimmung um. Leise gemurmelte Flüche und Verwünschungen machten die Runde unter den Amazonen, die ihr Leben der Kriegsgöttin Sadra geweiht hatten. In ihren Augen war der Gebrauch von Fernwaffen sowie Magie auf dem Schlachtfeld feige und daher verachtenswert.

 

Die Obristin sollte Recht behalten. Schon änderte sich der herüber schallende Kampflärm und selbst von ihrem rückwärtigen Platz aus konnte Rhajada sehen, wie der Feldmarschall blass wurde. Nervös blickte er kurz zu Larys, die gelassen das Kommando zum Aufsitzen gab. Vom Rücken ihres Hengstes Amir aus hatte Rhajada freie Sicht auf die Schlacht in der Senke unter ihr. Widerwillig bewunderte sie den Zauberer in seinem goldbestickten Umhang, der gänzlich unbewaffnet und ohne jede Rüstung auf das Heer von Wenthan zuging. Zwar wusste sie, dass sein Schildzauber ihn besser vor Pfeilen und Schwerthieben schützte als eine eiserne Rüstung, doch sie hätte nicht den Mut gehabt auf einen Schutz zu vertrauen, den man weder sehen noch anfassen konnte. Und sie musste zugeben, dass Magie eine mächtige Waffe ist, eine sehr mächtige Waffe. Bereits der erste Flammenstrahlzauber stoppte den Vormarsch des wenthanischen Heeres. Schreiend wanden sich ein Dutzend tapferer Männer mit schwersten Verbrennungen am Boden, jene Männer, die eben noch die Sturmspitze des Marschalls gewesen waren. Schon wob der Magier den nächsten Zauber, mit dem er einen Gefallenen wiederbelebte. Mühselig erhob sich der Untote, dann schwankte er, Entsetzen auslösend, auf die gegnerische Linie zu.

 

Verzweifelt sah der Feldmarschall die Obristin an:

    „Freifrau zu Wolfenstein, ich ersuche um Eure Hilfe.“

 

Befriedigt nickte Larys:

  „Genehmigt, Feldmarschall. Lasst die Flügel stehen, aber zieht Eure Haupttruppe zurück. Wir brauchen Raum.“

 

Der Marschall bellte ein paar Kommandos. Fanfaren ertönten, Signalflaggen wurden geschwenkt und auf dem Schlachtfeld kehrte sich eine Bewegung um.

 

Larys fixierte ihre Offizierinnen:

   „Rhajada – du tötest den Magier, diesen Sohn einer Kröte! Oda, Harani, ihr übernehmt das Ablenkungsmanöver. Und schlagt mir diesen Zombie in Stücke!“

 

Die Hauptfrauen salutierten, dann gaben sie mit ihren Speeren das Zeichen zum Angriff. 

 

Mit donnerndem Hufschlag fegte die Schwadron den Hügel hinunter. Dicht über den Kamm ihres Hengstes gebeugt, fasste Rhajada den Kampfmagier ins Auge. Er hatte sich zur Seite gewandt, wo Oda und Harani mit ihren Gefährtinnen jetzt einen Angriff gegen die Flanke des gegnerischen Heeres ritten. Als der Feind das Herannahen von Rhajadas Einheit bemerkte, war es zu spät: Mühelos durchstiessen die Amazonen im Keil die hastig aufgebaute Verteidigungslinie und fächerten wieder auseinander. Rhajada gab Amir die Sporen, ritt einen Landsknecht nieder und brach durch eine Gruppe von Pikenieren, die kopflos durch die zusammenbrechende Schlacht-ordnung irrte. Aus dem Galopp heraus ließ sie sich vom Pferd fallen, rollte ab und war mit einem Satz hinter dem Magier.

 

Überrascht drehte er sich um, dann lachte er abfällig:

   „Was willst du hier, einfältiges Weib?“

 

Rhajada verschlug es die Sprache angesichts dieser Dummheit und Arroganz. Wusste er denn nicht, was ihn erwartete? Zwar schützte ihn sein Schildzauber vor Hieben und Stichen, nicht aber davor, angefasst zu werden. Und Rhajada fasste zu, präzise, hart und unerbittlich. Mit einer einzigen Bewegung brach sie ihm das Genick. Die Überheblichkeit noch ins Gesicht geschrieben, sackte der Zauberer leblos zu Boden. Zweimal blitzte der Amazonensäbel auf, schon lagen die Leibwächter des Magiers erschlagen neben ihrem Herrn.

 

Um Rhajada herum brach das Chaos aus. Die Soldaten, darauf gedrillt, in Formationen gegen in einer Schlachtordnung kämpfende Gegner anzutreten, waren durch das plötzliche Auftauchen einer leicht bewaffneten Frau mitten in ihren Reihen aus dem Konzept geraten. Bevor sie sich neu ausgerichtet hatten, saß Rhajada schon wieder im Sattel und gab dem Vollblüter die Sporen, um zu ihrer abrückenden Schwadron aufzuschließen.

 

Staunend hatte Halvor, Kronprinz von Bormet, mitangesehen, wie die Amazonen von Cal Sadra den ganzen Plan zunichte gemacht hatten. Es war brillant gewesen: erst das Ablenkungsmanöver zweier Schwadronen und dann die beherzte Attacke aus der Gegenrichtung. Bemerkenswert, wie dicht die dritte Gruppe eine einzelne Kriegerin an den Magier herangebracht hatte, ohne aufgehalten werden zu können. Nahezu unglaublich jedoch war die Tat einer verwegenen Amazone, die sich furchtlos mitten in eine Übermacht hatte fallen lassen, den besten Magier des Landes getötet hatte und jetzt auf dem Rückzug war. Und reiten konnte diese Frau - wie der Teufel! Schade, dass sie auf der falschen Seite kämpfte.

Wobei sich die Frage stellte, welche denn nun die falsche Seite war...

 

Halvor wusste, dass man ihn nicht wegen seines militärischen Geschicks auf diesen Eroberungsfeldzug geschickt hatte. Sowohl sein tyrannischer Vater als auch sein intriganter Bruder würden lauthals jubilieren, käme Halvor der Großmütige, wie das Volk ihn nannte, bei dieser Gelegenheit zu Tode. Und wenn er diese Amazone entkommen lassen würde, wäre es Wasser auf den Mühlen derer, die seinen selbstsüchtigen Bruder auf dem Thron hieven wollten. Wohl oder übel musste er handeln. Er klappte das Visier herunter und bedeutete seinem Fahnenjunker, das Zeichen zum Sturmritt zu geben.

 

„Caramba!“

 

Rhajada fluchte. Sie hatte sich schon wieder im Kreis ihrer Schwestern gesehen, als dieser Ritter ihr mit einem ganzen Regiment den Weg abgeschnitten und sie eingekreist hatte. Egal, wohin sie ihren Hengst auch wendete, ringsherum starrten ihr die Spitzen langer Reiterlanzen entgegen. Es war aussichtslos. Der Ritter mit dem Löwenkopf im Wappen lenkte sein Pferd aus dem Kreis heraus und klappte sein Visier hoch.

 

Aus strahlend blauen Augen blickte er Rhajada an:

 

   „Ergebt Euch, Frau Amazone!“

 

Geringschätzig erwiderte die Kriegerin:

 

   „Ihr stellt mich, eine Einzelne, mit über hundert Lanzen und fordert, ich solle mich ergeben? Ist das eines Ritters würdig? Oder seid Ihr in Wahrheit nur ein gemeiner Emporkömmling oder gar ein Adelsbrieffälscher?“

 

Halvors Stimme klang gepresst:

 

   „Was zählt: Herkunft oder Gesinnung und Tun?“

 

„Doch wohl Letztere!“

 

   „So sagt mir: Was ist würdiger, als Euer Leben zu verschonen und Euch in ehrenvolle Gefangenschaft zu nehmen?“

 

Rhajada spuckte aus:

   „Was seid Ihr doch für ein infamer Lügner! Der König von Bormet ist landauf landab als Menschenschinder bekannt. Ehrenvolle Gefangenschaft! Dass ich nicht lache! Dort erwarten mich Schande und Tod. Vielleicht beliebt es Eurem feinen Herrscher gar, mich vorher nackt durch die Straßen seiner vor Dreck starrenden Hauptstadt treiben zu lassen, bevor er seine Schlächter und Folterknechte auf mich loslässt. Nein, Herr Ritter, Ihr könnt mir das Leben nehmen, hier und jetzt. Meine Ehre aber bekommt Ihr nicht!“

 

Betretenes Schweigen herrschte in der Runde und zu ihrer Verwunderung sah Rhajada Betroffenheit und Trauer im Gesicht des Ritters.

 

Ihre Worte hatten ihn erschüttert. Eine passende Erwiderung wäre fällig, doch Halvors Gedanken rasten bereits angesichts einer anderen Schwierigkeit. 

 

Wer sollte eines Tages das Land aus der Tyrannei führen, wenn man ihn jetzt wegen dieser Sache aus der Thronfolge drängte? Was immer er nun unternahm: Seine Gegner am Hofe, die ihre Spitzel auch unter den Kavalleristen hatten, würden ihm einen Strick daraus drehen. Blieb er bei der Festnahme, würden sie die Worte der Amazone aufgreifen und ihm unritterliches Verhalten vorwerfen, nämlich das Ausnutzen absoluter Übermacht. Würde er sie freigeben, würden sie ihm Landesverrat vorwerfen.

 

Da es ohnehin nur falsche Entscheidungen gab, fiel Halvor die Wahl jetzt wieder leicht:   

   „Ihr zweifelt an meiner Ehrenhaftigkeit?“

 

Er winkte seinen Reitern, die daraufhin den Kreis an einer Stelle öffneten:

 

„Nun gut! Nehmt meine Aufforderung zum ritterlichen Zweikampf an oder reitet meinetwegen unbehelligt davon. Aber denkt nie mehr in dieser Weise über mich oder meine Leute!“

 

Rhajada sprang vom Pferd:

   „Ich wähle den Kampf! Abgesessen und mit den Waffen, die ein jeder bei sich trägt! Gefochten wird bis zum Tod eines der Kontrahenten.“

 

Der Ritter stieg ab:

   „So sei es!“

Sie übergaben die Pferde einem hinzugeeilten Junker, dann kreuzten sie die Klingen.

 

Der Abend dämmerte heran. Die Schlacht war geschlagen, die Heere abgezogen, doch Halvor und Rhajada kämpften immer noch. Schließlich standen sie schwer atmend voreinander, Säbel und Schwert in den kraftlos gewordenen Händen.

  „Mehrmals schon hättet Ihr mich töten können, Ritter! Warum verschont Ihr mich?“, keuchte Rhajada.

    „Wenn Ihr Euch zu einem Nachtmahl einladen lasst, erkläre ich es Euch“, sagte Halvor ernsthaft.

Rhajada schob den Säbel in das Wehrgehenk und zog ihren Dolch:      „Wenn das ein Vorwand ist, um mich lebend gefangen zu nehmen, so seid gewarnt! Beim kleinsten Anzeichen werde ich mich erstechen!“

 

Er lächelte müde:

   „Ich schwöre beim Sonnengott, dass ich Euch weder töte, verletze, vergifte noch gefangen setze.“

Die Amazone überlegte:

  „Dennoch kann ich die Einladung nicht annehmen. Sadra, die Kriegsgöttin würde es nicht gutheißen, wenn ich mit dem Feind zu Tisch sitze.“

Der Ritter nahm seinen Helm ab.

Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein staubiges Gesicht:

    „Auch dann nicht, wenn Ihr die Gelegenheit wahrnehmt, Euch zu stärken, bevor wir den Zweikampf mit frischer Kraft

fortsetzen?“ 

 

„Das wäre fürwahr ein der Göttin gefälliges Tun“, sagte Rhajada matt.

Am Ende war es ihr alles gleich, so erschöpft wie sie war. Widerstandslos ließ sie sich von dem Ritter ihre Hand auf seinen Unterarm legen und zu seinem Zelt führen, das weitab des Schlachtfeldes hinter einem Gehölz errichtet war. Hier war es ruhig, das Wäldchen verschluckte das Stöhnen und die Hilferufe der Verwundeten. Zwei Knappen schlugen die aus schwerem Tuch gewebten Zelttüren zurück. Dann betrat Hauptfrau Caballera Rhajada von Agum, Anführerin der ersten Schwadron Cal Sadras, das Zelt des Ritters Halvor.

 

Silberne Kerzenleuchter erhellten den mit kunstvoll gewebten Teppichen ausgelegten Raum, in dessen Mitte ein goldverzierter Tisch aus norgardischer Eiche stand. Pagen in Livree verneigten sich ehrerbietig und ein Diener bot der Amazone einen mit Samt bezogenen Stuhl an.

 

Halvor winkte ab:

   „Danke Jonas, aber die Dame möchte sich vielleicht zunächst erfrischen, während die Wachteln zubereitet werden?“

 

  „Erfrischen? Wie soll ich das verstehen?“, fragte Rhajada verständnislos.

Kurz darauf saß sie in einem anderen Zelt in einer hölzernen Wanne in der Form eines Schwanes. Nie zuvor hatte sie in warmem Wasser gebadet, im Gegenteil: Auf der Burg wurde kaltes Wasser der Abhärtung als dienlich erachtet. Die Amazone seufzte wohlig. Mochte die Wärme sie ein wenig verweichlichen: Es war einfach zu guttuend, als dass sie die Wanne sofort wieder verlassen würde. So ließ sie es auch geschehen, dass ein Mann ihr die langen Haare wusch, ein anderer ihr sanft den Schmutz unter den Nägeln entfernte und sie nach dem Bad mit Nardenöl einrieb. Nur das Parfüm lehnte sie ab. Dann schlüpfte sie in ihr frisch gewaschenes, am Feuer getrocknetes Unterkleid, schnürte die geputzten Stiefel und legte die von Blut und Schweiß befreiten Armschützer und die Brünne aus gehämmerter Bronze wieder an. Schließlich wurde sie in das Hauptzelt zurückgeführt.

 

Bemüht, seine Bewunderung nicht durchklingen zu lassen, sagte Halvor:

   „Wenn die Bemerkung gestattet ist, Ihr seht sehr, hm, ansprechend aus, Frau Amazone.“

   „Versucht gar nicht erst, mich einzuwickeln, Herr Ritter“, brauste Rhajada auf.

Doch er sah sie einfach nur ernst an.

Die Amazone biss sich auf die Lippe:

   „Verzeiht, das war unhöflich. Ich danke Euch für das Kompliment, Euren Großmut auf dem Feld, Eure Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft.“

Sie atmete durch:

    „Rhajada von Agum.“

Halvor zögerte. Sollte er, der Sohn eines Despoten, ihr, einer Ehrenhaften, seinen wahren Namen nennen? Selbst wenn er hätte stolz sein können auf seine Herkunft, so wollte er diese Frau nicht mit seinem Stand beeindrucken. Sie sollte ihn so sehen, wie er war. Er deutete eine Verbeugung an:

   „Halvor von Weiden, zu Euren Diensten.“

Sie nahmen Platz.

Rhajada war unbehaglich zumute:

    „Eigentlich...“

Der Ritter nickte:

   „Eigentlich dürften wir nicht hier sitzen, dessen sind wir uns wohl beide bewusst. Ihr müsstest bei Eurer Schwadron sein und ich..., hm, ich bin Euch eine Erklärung schuldig.“

 

    „Allerdings! Warum habt Ihr mich verschont?“

 

„Nun, ich sah Euch, wie Ihr zu dem Magier vorgedrungen seid und ihn getötet habt. Eine außergewöhnliche Tat, fürwahr. Ich gebe zu, dass ich hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, Euch entkommen lassen und Euch kennenzulernen. Doch meine soldatische Pflicht gebot mir, Euch zu stellen. Und so...“

Er nahm einen Schluck Wein aus seinem Silberpokal:

    „Jedenfalls – ich finde es bedauerlich, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen. Was wäre wohl, wenn wir uns auf einem Ball begegnet wären, Ihr und ich?“

Rhajada antwortete steif:

    „Ich pflege nicht auf Bälle zu gehen!“

Halvor lächelte nachsichtig:

   „Nun, wie wäre es dann, würden wir bei Kerzenschein, Wein, Rebhuhn und Wachteln des Nachts in einem Zelt beisammen sitzen?“

 

Das Essen war überragend, genauso wie der schwere Wein, von dem sie jedoch nur nippte. Sie aßen, sie tranken und sie redeten. Verwundert bemerkte Rhajada, dass Halvors nicht einmal nach der Burg, der Truppenstärke, der Einsatzbereitschaft oder der Ausbildung der Amzonen fragte. Sein Interesse galt nur ihr und ihrem Leben unter den Kriegerfrauen.

 

„Es heißt, es gibt keine Männer auf Cal Sadra und auch, dass eine Amazone nicht heiraten darf. Warum ist dem so?“, fragte er.

    „Wir haben unser Leben der Kriegsgöttin geweiht, da ist kein Platz für einen Ehegatten.“

   „Wie kommt es dann, dass viele von Euch Töchter haben, aber keine Söhne?“

    „Die Leitung unseres Ordens sucht Männer aus der Umgebung für uns aus, mit denen wir uns dann paaren. Die so gezeugten Mädchen bleiben auf der Burg und werden zu Amazonen erzogen. Die Jungen werden nach der Geburt zu Pflegeeltern gegeben. Wir bekommen sie nicht zu Gesicht und wissen auch nicht, zu wem sie gegeben werden.“

Halvor war tief betroffen.

    „Wie schrecklich!“, flüsterte er.

 

Rhajada zuckte nur mit den Schultern. 

 

Doch dann erinnerte sie sich daran, wie es gewesen war, als man sie daran gehindert hatte, den kleinen Schreihals auch nur anzusehen. Geschwächt durch die Entbindung war sie nicht in der Lage gewesen, irgendetwas dagegen zu tun. Rhajada biss sich auf die Unterlippe, denn plötzlich war alles wieder da: die Wut, die Angst, die Hilflosigkeit und die Verzweiflung. Am schlimmsten aber war die Scham. Ihre Hände krampften sich um das Besteck, ihr wurde heiß und kalt zugleich, ihr Magen rebellierte und in ihrem Kopf dröhnte ein unerträglicher  Schmerz. In diesem Moment griff der lebenslange Drill: Ruckartig stieß sie den Atem aus und würgte alle Empfindungen hinunter.

 

Es waren nur wenige Augenblicke gewesen. Plötzlich war die Amazone kreidebleich

geworden und es hatte so ausgesehen, als würde sie bewusstlos vom Stuhl kippen. Halvor hatte sofort gewusst, dass er unwillentlich einen wunden Punkt berührt hatte. Für einen winzigen Moment hatte er in ihre Seele geschaut, in die Seele einer liebenden Mutter, der man ihr neugeborenes Kind weggenommen hatte. Bevor er aufspringen und sie stützen konnte, hatte sie sich wieder im Griff gehabt. Doch in dem winzigen Augenblick zuvor war es bereits geschehen: Halvor hatte sich in die Kriegerin mit den großen dunklen Augen verliebt.

 

Jetzt lächelte sie ihn höflich an.

Außen hart wie Stahl, innen weich wie Wachs, dachte der Ritter.

Er ließ ihr, die nie in ihrem Leben eine Süßspeise gegessen hatte, einen Nachtisch zubereiten. Dann sah er ihr still dabei zu, wie sie andächtig das Dessert aß.

 

Es hatte so gut geschmeckt und so gut getan. Deshalb verweigerte sie auch den heißen Gewürzwein nicht mehr, obwohl der Alkohol ihre Wehrfähigkeit herabsetzen würde. Schon längst beantwortete die Amazone nicht nur höflich seine Fragen, sie hatte begonnen, sich mit dem Ritter auszutauschen.  Rhajada sprach von dem Drill, dem sie schon als Kind unterworfen und wie es gewesen war, von klein auf zur Kriegerin herangezogen zu werden.

    „Ihr habt wirklich noch nie ein Kleid getragen? Wie bedauerlich! Ihr würdet umwerfend aussehen in caldanischem Satin!“

 

Rhajada konnte nicht anders, sie fühlte sich geschmeichelt. Doch dann erinnerte sie sich an ihr Gelöbnis, Sadra zu dienen. Der Göttin zu Ehren trugen die Amazonen außerhalb des Schlachtfeldes nur schlichte Leinengewänder über ihren gestählten Körpern.

 

Unbehaglich antwortete sie:

   „Nun, das vermag ich nicht zu beurteilen. Aber erzählt mir doch von Euch!“

   „Nun, ich wuchs am Hofe des Königs auf. Man sagt, dass ich bereits als Kind gerne reiten und fechten wollte. Doch ich erinnere mich nur daran, wie ich die Hofdamen erschreckte, auf Bäume kletterte und mich in die Küche schlich, um Leckereien zu erbeuten.“

Rhajada lachte.

 

Er erzählte ihr von seinen Jagdausflügen, welchen Ärger er sich eingehandelt hatte, als er seinen adeligen Eltern die Liebe zu einer Küchenmagd gestand, von seinem Stolz, als Heranwachsender einmal Zweiter beim Bogenschießen gewesen zu sein und welch diebisches Vergnügen es ihm bereitet hatte, nachts den Burggraben zu durchschwimmen, um inkognito das Scheunenfest in einem nahegelegenen Dorf zu besuchen.

   „Ich weiß nicht viel von Männern, überhaupt wenig vom Leben außerhalb des Schlachtfeldes und Cal Sadra. Doch ihr scheint mir ein außergewöhnlicher Mann zu sein, Ritter Halvor.“

Der Ritter füllte ihren Pokal auf:

 

„Wenn das ein Kompliment war, so kann ich es nur erwidern.“

Er suchte ihre Augen:

   „Wir sollten uns glücklich schätzen: Uns sind eine gar seltene Begegnung und ein friedvoller Abend geschenkt worden.“

Rhajada zögerte kurz:

     „Ja, auch wenn es anfangs nicht danach ausgesehen hat.“

Sie stießen an, wobei sich ihre Blicke erneut verfingen.

Halvor war es, der die beginnende Verlegenheit durchbrach:

    „Darf eine Amazone eigentlich auch tanzen, ich meine, mit einem Mann?“

 

Er winkte den Pagen und schon bald ertönten Laute und Flöte. Sie lachten, weil sie beide führen wollten und Rhajada erst in den Damenschritt wechseln musste. Der Anfang war hölzern und ungewohnt, doch schnell hatte sich die Amazone an den großen Mann mit den langen Schritten gewöhnt. Auch Halvor, der noch nie eine Kriegerin zum Tanz geführt hatte, war zunächst irritiert. Eine so ausgeprägte Körperspannung wie die der Amazone kannte er nur von Artisten und seinem Fechtmeister. Diese Spannung und ihr leicht animalischer Duft, gepaart mit der Anmut und Leichtigkeit ihrer Bewegungen, zogen den Ritter geradezu magisch an. Die Musik und der Wein taten ihr übriges:

 

Halvor und Rhajada begannen zu scherzen, zu lachen und zu singen. Der Ritter kam ins Grübeln.

 

Was ist nun rechtes Verhalten und was nicht? Dieser Krieg und die verfluchten Ränkespiele am Hof machen selbst die einfachsten Dinge zu einer heiklen Angelegenheit! Was soll ich nur tun?, dachte er.

 

Doch dann wusste er es. Er würde die Musikanten ins Bett schicken, Rhajada von Agum mit Proviant versorgen und ihr auf einer Karte den schnellsten Weg nach Cal Sadra einzeichnen. Er würde aufräumen zuhause und sich endlich dem alten Hofrat anschließen. Der Hofrat, der ihn seit Monaten bekniete, bei einem Umsturz mitzuwirken, der Halvor zum Wohle des Volkes an die Macht bringen sollte. Dann würde er nach Caldana reiten und dieser faszinierenden Amazone den Hof machen. In diesem Moment strauchelten sie über eine Teppichkante. Instinktiv hielten sie aneinander fest.

 

Halvor überlegte nicht lange und gab den Musikanten ein Zeichen. Dann standen sie allein im warmen Kerzenlicht. Überrascht stellte er fest, dass die Amazone sich eng an ihn geschmiegt hatte.

 

Sie wusste, dass sie zu viel getrunken hatte. Sie wusste auch, was mit ihr geschehen war. Wie sie sich dem Zauber dieser anderen Welt hingegeben hatte. Wie die respektvolle und höfliche Art des Ritters ihr schmeichelten. Wie seine Worte und Gedanken sie dazu gebracht hatten, ihre eigene Art zu leben in Frage zu stellen. Wie seine Herzenswärme und Souveränität sie zunehmend angezogen hatten. Wie sie begonnen hatte, gegen ihr Begehren anzukämpfen. Wie dieser Wunsch nach Berührung stärker und stärker geworden war. Wie sie aufgegeben hatte und diesen Mann einfach an sich gezogen hatte. Sie wusste es.

 

Halvors Verstand setzte aus.

Behutsam lud er Rhajada auf seine Arme und trug sie zu seiner Schlafstatt.

 

Als sie sich später wohlig in seinen Armen räkelte, musste sie plötzlich innehalten. Langsam fuhren ihre Hände über den Unterleib. Kein Zweifel:  Es waren das gleiche Gefühl und die gleiche Gewissheit wie damals, als sie ihren Sohn empfangen hatte. Nur, dass es diesmal ein Mädchen war.

 

Die Welt schien stehengeblieben. Rhajada wusste nicht, was schwerer wog: die Freude über das Kind oder die Erkenntnis darüber, was nun alles vor ihr lag.

    „Die beste Brücke zwischen Hoffnung und Verzweiflung ist eine gut durchschlafene Nacht!“, murmelte der Ritter neben ihr.

Mit diesen Worten im Ohr schlief sie ein.

 

Vom Zwitschern eines Buchfinken geweckt, sah sie in Halvors kornblumenblaue Augen über sich, die sie voller Zuneigung anstrahlten.

 

Betreten blickte sie zur Seite.

 

Der Ritter war irritiert: „Was ist denn, Liebste?“

Entschlossen sah sie auf:

    „Wir müssen heute unseren Zweikampf fortsetzen!“

Halvor lachte lauthals:

    „Ein Scherz!“

Als er die Blitze in ihren Augen bemerkte, stockte er:

    „Nicht doch – es ist dir wahrhaft ernst damit!“

Die Stimme der Amazone war fest:

    „So ist es vereinbart. Und ich sehe keinen ehrenhaften Weg da heraus.“

Ein Augenblick schwieg Halvor entsetzt, dann sagte er tonlos:

    „Nun gut, bringen wir es hinter uns!“

Stumm legten sie ihr Rüstzeug an und nahmen vor dem Zelt Aufstellung.

    „Auf denn! Sadra zu Ehren!“, sagte die Amazone und zog ihren Säbel.

Halvors Gesichtsausdruck war verzweifelt.

Plötzlich lächelte er, sank auf ein Knie und legte ihr sein Schwert zu Füßen:

    „Ich kapituliere!“ 

 

Rhajada war perplex:

   „Das kannst du nicht machen! Wir haben einen Kampf bis zum Ende vereinbart!“

„Ich breche die Vereinbarung!“

    „Das ist unehrenhaft!“

„Sei´s drum! Nenne mich einen wortbrüchigen Feigling, schlag´ mir meinetwegen den Kopf ab. Ganz gleich, was du machst: Ich kämpfe nicht mehr gegen dich.“

Rhajada stöhnte:

   „Meinem Kodex nach darf ich niemanden töten, der sich ergibt! Andererseits habe ich mein Wort gegeben, weiterzukämpfen! Du bringst mich in eine schreckliche Lage!“

     „Schrecklicher, als gegen mich bis zum Tode zu kämpfen?“

„Dann wüsste ich wenigstens, dass es richtig ist!“

     „Ist das wirklich wahr?“

Die Amazone starrte Halvor an, als ob er den Verstand verloren hätte:

    „So lauten nun einmal die göttlichen Regeln! Obendrein sind wir Feinde!“

 

Die Stimme des Ritters war fest:

   „Göttliche Regeln? Sadra belohnt Ehrenhaftigkeit und Mut, das wohl! Doch wer hat die Forderungen und Regeln gemacht? Niemand sonst als die Menschen! Was die Feindschaft angeht: Unsere Herrscher in ihrer Machtgier haben uns auf das Schlachtfeld gestellt und uns zu Feinden erklärt. Sei aufrichtig! Was siehst du, wenn du mich anschaust?“

 

Rhajada schwieg hartnäckig.

Halvor fuhr fort:

    „Nun, was mich angeht: Ich sehe die Frau an, der ich mein Herz schenken will. Es liegt bei dir, es anzunehmen.“

Rhajada schluckte. Dieser Ritter hatte ihr Weltbild auf den Kopf gestellt. Der Boden unter ihr schien zu schwanken und ihr wurde schwindelig. Verzweifelt suchte sie nach einem Halt.

Schließlich schrie sie:

    „Wenn du mich liebst, dann kämpfst du gegen mich!“

Halvor schüttelte den Kopf:

    „Niemals.“

Rhajada ballte die Fäuste, ihre Augen blitzten:

    „Du, du – Schuft!“

Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, machte kehrt, sattelte ihren Hengst und galoppierte zornig davon.

 

Traurig blickte Halvor ihr nach, bis sie hinter der Hügelkuppe verschwunden war. Dann gab er den Befehl zum Aufbruch.

 

Beinahe hätte sie ihr treues Pferd zuschanden geritten, so sehr war sie außer sich gewesen. Erst das Glitzern eines kleinen Wasserlaufes hatte sie wieder zur Besinnung kommen lassen. Sie hatte Amir zum Ufer des Baches gelenkt und den Hengst trockengerieben, während er in langen Zügen trank. 

 

Doch sie hatte Sadra ihr Leben geweiht, ihr die Treue geschworen und den Entsagungen zugestimmt. Was, wenn sie ihren Eid brach? Welche Strafe würde die Göttin über sie verhängen? Wie würden ihre Ahnen im Jenseits es aufnehmen, wenn sie, Rhajada, die lange Reihe der Generationen derer von Agum unterbrach? Was würde ihre Tochter dereinst zu ihr sagen? Und was, wenn ein Leben mit Halvor misslingen würde? Nur selten nahm die Schwesternschaft Abtrünnige wieder auf. Wovon sollte sie dann leben? Hin- und hergerissen zwischen Herz und Verstand, tiefer Angst und leiser Hoffnung, fiel sie schließlich in den Schlaf.

 

Geweckt von der Helligkeit und Wärme der aufsteigenden Sonne, setzte Rhajada sich auf. Verwirrt blickte sie um sich. Wo zum Teufel war sie? Gerade noch hatte Sadra vor ihr gestanden, hatte zu ihr gesprochen. Die Amazone schüttelte sich, nahm einen Schluck Wasser aus der Feldflasche. Erst jetzt merkte sie, dass die Kriegsgöttin ihr nur im Traum erschienen war. Ganze drei Worte hatte sie gesagt – aber mehr hatte Rhajada nicht gebraucht: „Folge deinem Herzen.“

Noch einmal rannen die Tränen, diesmal aus Dankbarkeit.

 

 

Sie stieg auf, wischte sich durch das Gesicht und wendete entschlossen ihr Pferd.

 

 

 

ENDE