Unsere literarische Schatzkammer

Hier ruhen ironische, sarkastische, Sci-Fi, bis hin zu makabren Geschichten. Auch Lyrik, geschrieben von früheren sowie neuzeitlichen, aber auch von noch unbekannten Neuautorinnen und Autoren. Wir machen alle Leserinnen und Leser dieser Werke darauf aufmerksam, dass sämtliche, hier geposteten Werke, urheberrechtlich geschützt sind.

 

Die mit w. bezeichneten Titel stammen aus Wettbewerbsbeiträgen.

 

Wir wünschen gute Unterhaltung.

 

 

 

Zurzeit lesen Sie in dieser Rubrik:

 

 

Luca M. Gerst:                  „Träume wahrmachen“

 

                             Karl Ehret:                        „Der etwas andere Wald“

 

Christine Todsen:     Kekezza und Kerensa in der Artusburg

 

Marina Hascher:                  „Das Ritual“ w.

 

Selina Kissmann:                 „Oltaime i’Strato“ w.

 

Michael Kothe:                     „DER GROVE" w.

 

Esther S. Schmidt:                „Die Zehn-Minuten-Romanze"

 

Doro Gorges:                        „Ellinors Traum"

 

Bernhard Horwatitsch:         „Frau Heidenreich ist cringe"

 

Nicole Kojek:                        „MONSTERJAGD" w.

 

Isabell Hemmrich:                „AUGEN AUF DEM HÜGEL" w.

 

Melanie Kleinschmidt:             „HARRISON UND JULIA"

 

Bernhard Horwatitsch:          „GESCHÄFTSSINN"

 

Jana von Fellenberg:                 „ABGELEBT"

 

Achim Hildebrand:                     „BIEDENBACH"

 

Michael Kothe:                          „KOSTÜME"

 

Bernhard Horwatitsch:              „DER FÜRST"

 

Dirk Tilsner:               „DIE UMGEHUNG DES KERNS" w.

 

 

 

 

 

 

 

Schmuckstücke aus allen Bereichen

Träume verwirklichen

 

 

Von den vielen Träumen, welche wir Menschen im Laufe unseres Daseins haben, gehen nur ein paar ganz wenige in Erfüllung.

 

Dabei gibt es die sogenannten Glückspilze, welche zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort sind oder gerade das Richtige tun, wenn sie von der Glücksfee heimgesucht werden.

 

Aber es gibt noch die anderen, die nicht auf die Glücksfee setzen oder hoffen. Es sind diejenigen, welche ihr endliches Leben analysieren und zu der Erkenntnis gelangen, Träume verwirklichen kann man auch selbst. Aber man muss es halt tun. Nur so kann ein Traum in Erfüllung gehen!                                                       Pierre M.

 

 

 

 

Luca M. Gerst

 

Die schönste Weihnacht überhaupt

 

(Urheberrechte & Copyright © by Luca M. Gerst)

 

 

Das letzte Weihnachtsfest lag uns allen noch bleischwer in den Knochen. Während die Nachbarskinder mit glänzenden Augen auf die Bescherung warteten und in den Kochtöpfen bereits das Weihnachtsessen duftete, standen wir in unserem halb leergeräumten Haus, in dem kein Leben mehr steckte. Es wirkte einsam – fast wie auf der Flucht zurückgelassen – und zeigte keine Spur von den wunderbaren Farben und Klängen, die es einst erfüllt hatten. Wir schauten auf die Wände, an denen nun keine Fotos mehr hingen. Sahen den Weihnachtsbaum, der traurig die Zweige hängen ließ und fragten uns, ob wir alles mitgenommen hatten, was wir auf unserem Weg in ein wahrhaft anderes Leben brauchen würden.

Ich erinnere mich an das Zittern in meinen butterweichen Knien, an die erschöpften Gesichter meiner Eltern und an die „Was-soll-der-Quatsch-Miene“ unseres Australian-Shepherd-Welpen Bailey. Meine Brüder waren schon draußen und starrten in den grauen Himmel.

 

Fast unwirklich erscheint es mir heute, wie wir an jenem Heiligabend vor nun bald 400 Tagen um 16 Uhr ein letztes Mal die schwere Haustür über die viel zu dicke Fußmatte kratzten und sie mit einem lauten Echo ins Schloss fallen ließen. Das Haus sah traurig aus, wie es dastand und uns dabei zusah, etwas völlig Verrücktes zu tun.

 

Auf der Straße erwarteten uns alle Nachbarn, die bis zum letzten Tag nicht geglaubt hatten, dass wir unsere Idee tatsächlich in die Tat umsetzen würden. Doch hier standen wir nun. Mit einem heftigen Knall zündete meine Mutter eine Konfettikanone. Bunte Papierstreifen regneten auf uns herunter und hinterließen einen seltsamen Nachgeschmack der Vergangenheit.

 

Nach einer ausgiebigen und tränenreichen Verabschiedung stiegen wir in unseren großen, zum Camper umgebauten, ehemaligen Polizeibus. Ein letztes Mal schauten wir auf das Haus zurück, in dem wir die letzten Jahre gelacht, geweint, Partys gefeiert und unseren Alltag bestritten hatten. Mein Vater startete den Bus. Der Dieselgeruch und das laute Brummen des alten Motors gehörten an einem Heiligabend um diese Zeit nicht in ein Dorf wie unseres. Doch war es nicht so, dass auch wir nun nicht mehr hierher gehörten? Ein Gedanke, der einen Schauer klitzekleiner Nadelstiche über meinen Rücken jagte.

   Wir rollten los. Einen Meter, dann zwei. Draußen weinende Nachbarn, im Radio der Song „Vanderlyle Crybaby Geeks“ von The National. Die Häuser zogen an uns vorbei wie Schatten aus einer anderen Welt. Während der Songtext „Leave your home …“ durch die Lautsprecher tönte, ließen wir schließlich die erste Kurve hinter uns. Und mit ihr alles, was wir je gekannt hatten. Fast augenblicklich begann die Vergangenheit zu verblassen.

 

 

Wir dachten nun an das, was kommen mochte. Das Wetter zeigte sich von seiner typisch norddeutschen Seite und nichts wäre passender für unsere Abfahrt gewesen als der dichte, undurchsichtige Nebel, der sich wie eine Wand vor uns herschob. Denn genauso sah unsere Zukunft aus: Ungewiss, beängstigend, aber mit der unbedingten Hoffnung, dass sich der Nebel schon bald lichten würde. Und so fuhren wir Richtung Süden davon.

 

 

 

Während wir normalerweise ein großes Weihnachtsessen in einem warmen, buntgeschmückten Haus genossen, gab es an diesem Heiligabend Spagetti mit Tomatensoße auf der Autobahnraststätte. Doch was soll ich sagen – es schmeckte erstaunlich gut. Mit jedem Kilometer, den wir hinter uns ließen, fielen die bedrückenden Gefühle unserer Abfahrt von uns ab wie Blütenblätter von einer welkenden Rose. Wir hatten es getan und langsam schmeckten wir das kommende Abenteuer auf unserer Zunge. Die Angst vor dem Unbekannten blieb, doch wir fuhren weiter … und weiter … und weiter

 

Eine Stunde verging, ein Tag, eine Woche und dann ein Monat. Sieben Länder und 15.000 Kilometer später schrieben wir den „360. Tag" in unser Reisetagebuch. Ein ganzes Jahr auf Reisen lag nun hinter uns. Ein Jahr voller unglaublicher Erfahrungen, wunderschöner neuer Orte, einzigartiger Freundschaften und so viel Abenteuern, wie sie sonst nur berühmte Romanfiguren erlebten.

 

Der Umzug in den Camper stieß uns mitten ins Leben des Minimalismus. Doch was am Anfang ein aufgezwungener neuer Lebensstil war, entwickelte sich schon bald zu einem Gefühl grenzenloser Freiheit. Selbst unser weniges Gepäck war noch zu viel. Und so ließen wir unser altes Leben Stück für Stück hinter uns.

 

Doch jetzt stand Weihnachten wieder vor der Tür. Die Gedanken an die furchtbar anstrengende Weihnachtszeit des vergangenen Jahres kamen ungebeten wieder hoch und stellten alles auf den Kopf. Wie würde Weihnachten in diesem Jahr verlaufen? Wieder Spagetti auf der Autobahn? Oder ein Käsesandwich auf dem Feldweg neben der Schweinemastanlage, bei der wir im Sommer einmal schlafen mussten, nachdem wir keinen Parkplatz gefunden hatten? Alles nicht unbedingt gute Aussichten.

 

Doch das „Pläne machen“ hatten wir schon vor Monaten über Bord geworfen, da es erfahrungsgemäß sowieso immer anders kam. Also blieb Weihnachten weiterhin das große rote Fragezeichen in unserem Kalender.

 

Meine Brüder saßen seufzend im Camper und bemerkten enttäuscht, dass wir nicht mal einen Weihnachtsbaum haben würden. Mit einem leichten Stechen kam der Gedanke an das vergangene Weihnachtsfest und den traurig zurückgelassenen Baum zurück in unsere Herzen. Aber würde der begrenzte Platz im Wohnwagen dafür reichen? Sieben Menschen, ein Hund und ein Weihnachtsbaum? Wohl kaum …

 

Die Tage verstrichen und mittlerweile war der 23. Dezember gekommen. Anspannung machte sich in uns breit. Würden wir wirklich gar kein Weihnachten haben? Keine Plätzchen, keine Deko, 

Kein Baum? Die Sonne begrüßte uns wie eine alte Freundin und es fühlte sich beim besten Willen nicht nach Weihnachten an. Doch das sollte sich ändern, als meine Mutter wie aus dem Nichts mit unserem Akkuschrauber in der Hand und einem verschwörerischen Lächeln im Gesicht an den Strand marschierte. Am Wasser deutete sie schließlich auf ein riesiges Stück Treibholz, welches bei der letzten Flut hoch an den Strand gespült worden war.

 

„Das wird unser Weihnachtsbaum“, verkündete sie. Mit langen Gesichtern schauten wir uns an – Weihnachtsbäume hatten wir anders in Erinnerung. Aber dann wurde es spannend. Der Bohrer kam zum Einsatz. Um die duftenden Pinienzweige aus dem nahegelegenen Wald an dem Ast zu befestigen, bohrten wir rundherum Löcher in das Holz, in die wir anschließend die Zweige steckten.

 

 

 

Die fast fünfzig Meter lange Lichterkette, mit den 400 bunten Lämpchen, um den Baum zu wickeln, war eine Herausforderung für die ganze Familie. Doch schließlich hatten wir es geschafft und begannen zu dekorieren. Zuckerstangen und Ketten aus Muscheln und alten Angelsehnen, die wir am Strand gefunden hatten, schmückten unseren Baum und alle warteten darauf, dass es endlich dunkel werden würde.

 

Aus dem unscheinbaren Stück Treibholz war ein Weihnachtsbaum geworden. Die leuchtenden Kinderaugen meiner Brüder bewunderten ihn stundenlang und plötzlich kamen Menschen von überall. Sie machten Fotos von und mit dem Baum und wünschten „Feliz Navidad“. Bei meinem abendlichen Spaziergang mit dem Hund sprach mich ein älteres Paar an, das mich als das Mädchen aus der Familie mit dem „Árbol de Navidad en la playa“  wieder-erkannte. Und so wurde unser Weihnachtsfest – von dem wir geglaubt hatten, es erneut ganz allein zu verbringen – unvergesslich. Zusammen mit Menschen aus aller Welt, guten Gesprächen, viel Gelächter, Kaffee und Kuchen hatten wir an der spanischen Atlantikküste die „schönste Weihnacht überhaupt“.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember geschah dann noch etwas Magisches. Normalerweise teilten wir unseren Schlafplatz mit Wildtieren – Otter, Wildschweine, Füchse und sogar Bären lebten hier. Doch in jener Nacht besuchte uns noch jemand anders: Plötzlich warf der leuchtende Weihnachts-baum sein Licht auf ein kleines pinkes Kinderfahrrad und eine Kiste voller Weihnachts-Essen. Wer unser geheimer Papa Noel war? Wir wissen es bis heute nicht.

 

Eines ist jedoch klar: Dieses Weihnachten und das gesamte vergangene Jahr auf Reisen waren etwas ganz Besonderes. Hätten wir den Schritt nicht gewagt, unser altes Leben zurückzulassen, wären uns unglaubliche Erlebnisse und Begegnungen entgangen. Ein Leben auf Reisen mit der Großfamilie?

 

                                    Geht denn das? Ja, das geht!

 

 

 

 


DER ETWAS ANDERE WALD

(Urheberrechte und Copyright © by Karl Ehret)

 

 

Jason Brown hatte es fast geschafft.

 

Der Wald war in Sichtweite.

 

Seit zwei Stunden stapfte er nun schon durch den kniehohen Schnee und hatte große Mühe, das Keuchen unter dem Schal, den er vor seinen Mund gebunden hatte, nicht zu laut werden zu lassen.

 

Seine blauen, zusammengekniffenen Augen, die zwischen Schal und Pelzmütze durch das dichte Schneetreiben sein Ziel fixierten, wirkten trotz der großen Strapazen entschlossen.

 

Jason trug einen alten Fellmantel, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte und in seinen Händen, die in zwei ebenso alten Handschuhen steckten, hielt er ein Gewehr.

Was für eins wusste er nicht, aber es hatte ihn noch nie im Stich gelassen.

 

Auf seinem Rücken trug er neben einem kleinen Rucksack noch eine schwere Axt.

 

Jetzt hatte er den Waldrand erreicht.

Es war ein Mischwald mit überwiegend Nadelhölzern.

Jason legte eine kurze Pause ein und dachte an seine Frau und seine beiden Kinder, die in einem kleinen Dreihundertseelendorf heute Abend auf ihn warten würden.

 

Es muss einfach klappen, brummte er in seinen braunen Vollbart.

 

Denn heute war Heiligabend und er hatte seiner Karen und den Kindern versprochen, einen Weihnachtsbaum und einen Weihnachtsbraten mitzubringen.

 

Geld hatte er keines.

 

Jason war seit einem halben Jahr arbeitslos, obwohl er sich für seinen Chef immer den Arsch aufgerissen hatte.

Doch das hatte den nicht davon abgehalten, ihn vor die Tür zu setzen.

Trotz Familie mit zwei kleinen Kindern.

 

Es muss einfach klappen, wiederholte er, bevor er in den Wald stapfte.

Es muss …

 

Nach kurzer Zeit sah er einen Hasen, der Jason im dichten Schneetreiben nicht zu bemerken schien.

 

Leise pirschte er sich an ihn heran.

 

Gerade als er angelegt und schießen wollte, sah ihn der Hase an.

   „Tu es nicht!“

Jason blickte nach rechts und links.

   „Tu es nicht!“ Er dachte, spinne ich …

 

Der Hase sah ihn immer noch an.

Dann hob er den Kopf.

   „Du wirst mich doch nicht erschießen, Jason. Heute ist doch Weihnachten. Das Fest der Liebe.“

 

Jason senkte verdutzt sein Gewehr.

    „Ich glaube wirklich, ich spinne“, Jason kratzte sich am Kopf.

„Ein sprechender Hase?“

    „Glaubst du, ich würde deinen Kindern schmecken? Heute?“

 

Jason schlug sich mit der Faust gegen den Kopf.

     „Ich spreche mit einem Hasen. Das glaubt mir kein Mensch.“

 

Der Hase hoppelte auf Jason zu und sagte:

  „Danke, Jason. Ich habe nämlich auch eine Frau und zwei Häschen. Danke.“ Und weg war er.

 

Jason sah ihm nach, bis er verschwunden war und rief ihm nach:

    „Und woher kennst du meinen Namen?“

Doch der Hase gab keine Antwort mehr.

 

Hm, brummte der Erstaunte und setzte seinen Weg fort.

 

Der Wald wurde nun dichter.

 

Ein Hirsch … Jason legte an und … fiel kopfüber in den Schnee.

Irgendetwas hatte ihm einen kräftigen Schubs gegeben.

 

Verdutzt rieb er sich den Schnee aus dem Gesicht und drehte sich um.

   „Weißt du, was heute für ein Tag ist, hm?“

Eine sprechende Hirschkuh, erschrak Jason, auch das noch …

 

Inzwischen war „Herr Hirsch“ herbeigeeilt.

   „Jason, Jason …“, sein Blick war vorwurfsvoll,

„…, du wirst doch nicht am Tag der Geburt deines Herrn jemanden töten, auch wenn es, deines Erachtens, nur ein Tier ist, oder?“

Jason saß im Schnee und starrte mit großen Augen auf das Hirschpaar, das unmittelbar vor ihm stand.

 

„Äh …“, stammelte Jason, fand aber keine Worte.

 

Ich habe nichts getrunken.

Ich stehe nicht unter Drogen.

Aber …

 

Langsam rappelte er sich auf.

 

… vielleicht halluziniere ich.

 

„Können wir nun zu unseren zwei Kindern oder willst du einen von uns töten?“

 

„Frau Hirsch“ sah ihn eindringlich an.

   „Ihr habt auch zwei Kinder“, Jason sah in diesem Moment ziemlich dämlich aus.

    „Ja, genau wie du.“

Diesmal antwortete „Herr Hirsch“ und scharrte mit den Hufen.

    „Na, dann mal los und schöne Grüße“.

Jason kicherte irre und machte mit seiner linken Hand eine Bewegung, die die beiden Hirsche veranlasste, das Weite zu suchen.

    „Wir richten es aus, Jason“, drang es aus der Ferne.

„Und danke.“

 

Bevor ich nun komplett durchdrehe, schlag’ ich mir erst einen schönen Christbaum … Jason holte die Axt hervor und nach kurzer Zeit fand er auch eine schöne Weißtanne.

 

„Na, denn“, Jason holte aus.

    „Aber Jason …“

Ihm fiel vor Schreck die Axt aus der Hand.

 

Jetzt reden auch noch die Bäume. Der Wald muss verhext sein …

    „Verflucht, hat’s Maul!“ Jason schrie die Tanne an.

„Du bist ein verdammter Baum. Und Bäume reden nicht, hörst du, du … du … blöde Tanne.“

 

„Nun mach mal halb lang, Jason, und hör bitte auf zu fluchen.

Was würden deine Eltern sagen, wenn sie dich jetzt hören könnten, hm?“

 

„Hi hihi …“, kicherte der Gescholtene und ließ sich rückwärts in den Schnee plumpsen.

  „… Meine Eltern würden sagen, du redest mit einer gottverdammten Tanne. Du musst in eine geschlossene Anstalt.“

Die Tanne neigte sich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr:

     „Wenn ich wirklich gottverdammt bin, wie du meinst, dann schlag zu.“ Wie durch Zauberhand hatte er wieder seine Axt in der Hand.

 

„Was ist denn das hier für ein Lärm?“

Ein gewaltiger Bär stand plötzlich vor ihm.

   „Du hast mich aus meinem Winterschlaf geweckt, Jason.“

 

Ein Bär. Und was für einer … Jason wollte nach seinem Gewehr greifen, aber es lag direkt vor dem Bären.

    „Und nun willst du mich auch noch erschießen.“

Der Bär fixierte Jason und schippte ihm mit seiner gewaltigen Pranke das Gewehr zu.

    „Na, los“, knurrte der Pelzriese.

 

Jason hatte seine beiden Waffen.

Das Gewehr in der rechten, die Axt in der linken Hand.

 

„Hast du auch Frau und zwei Kinder?“

Misstrauisch fragte Jason den Bären, obwohl er das komische Gefühl hatte, die Antwort zu kennen.

    „Woher weißt du das?“ Nun schien ihn der Bär misstrauisch zu beäugen.

    „Ach, weißt du …“, lächelte Jason versonnen.

„…, war nur so ein Gedanke.“

 

„Eigentlich glaube ich, dass unser Jason ein guter Mensch ist und keinem wirklich weh tun kann. Was denkst du?“

Die Tanne hatte sich in das Gespräch zwischen Jason und dem Bären eingeklinkt.

   „Wenn du das sagst“, antwortete der Bär und sagte zu Jason: „Frohe Weihnachten, ich gehe jetzt wieder schlafen.“

Sprach’s und trottete davon.

 

Jason war nun wieder allein mit der sprechenden Tanne.

    „Weißt du …“ Jason packte seine Axt wieder auf den Rücken,

„ich gehe jetzt nach Hause und wenn mich meine Frau fragt, wo der Braten und der Baum sind, sage ich ihnen, dass ich mich so lange mit ihnen unterhalten habe, bis ich es nicht mehr übers Herz brachte, sie zu erlegen. Was hältst du davon?“

    „Mit der Wahrheit fährt man immer am besten, Jason.“

Die Tanne hatte jetzt die Tonlage eines Psychiaters.

    ‚Na gut‘, ich wünsche dir alles Gute, Tanne.“

Jason machte sich auf den Heimweg.

    „Und verzeih mir meine harschen Worte.“

„Schon geschehen“, rief ihm die Tanne nach.

 

* * *

 

„Karen?“ Jason rief den Namen seiner Liebsten, als er sich vor der Haustür die Stiefel ausgezogen hatte.

 

Die Tür ging auf und ein Gemisch aus Bratenduft und Kerzen wehte ihm entgegen.

    „Frohe Weihnachten, Jason“, Karen hatte ihr schönstes Lächeln aufgesetzt und strahlte so hell wie der Weihnachtsbaum in der Ecke.

    „Daddy, Daddy“, die beiden Söhne von Jason stürmten zur Tür.

„Frohe Weihnachten“, stammelte Jason und betrat mit großen, staunenden Augen das Haus.

    „Äh … was riecht denn hier so gut? Und woher kommt der herrliche Weihnachtsbaum?“

    „Nun aber mal nicht so bescheiden, Schatz“, gurrte Karen.

 

„Die Hirschs waren da und haben uns den Baum gebracht und …“

Karen deutete in die Küche.

    „…, und einen wunderbaren, gefüllten Truthahn.“

 

„Die … die … die … Hirschs?“ Jason stotterte und schaute Karen ungläubig an.

    „Na, aber Jason“, Karen schüttelte lächelnd den Kopf, „sie haben dich in den höchsten Tönen gelobt.“

 

„Vielen Dank für die Teddybären, Daddy.“

Die beiden Kleinen von Jason und Karen hielten urplötzlich zwei freundlich lächelnde Teddybären in ihren Armen.

    „Wir haben sie Pat und Patti getauft, Daddy“, flöteten die beiden Kids unisono.

    „Pat und Patti, so, so …“, Jason rieb sich ungläubig die Augen.

„Ja, Daddy …“, fuhren die beiden frisch Beschenkten fort,

    „…, und sie wollen auch zwei Kinder haben. Wie wir.“

 

„Kommt in die Küche. Das Essen ist gleich fertig.“

Karens Stimme erklang aus der Küche.

Und sie schien glücklich zu sein. Richtig glücklich.

    „Ach, Jason …“, flüsterte sie ihrem Gatten zu,

„…, ich habe vergessen, die beiden Stoffhasen einzupacken.“

Sie hielt ihrem verdutzten Ehemann die beiden Hasen vor die Augen und lächelte:

    „Aber, was soll’s …“

 

Jason hielt vor dem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum kurz inne und betrachtete intensiv die Tanne.

Na, los. Rede mit mir …, forderte er sie stumm auf.

 

Aber die Tanne blieb stumm und Jason ging in die Küche.

Die Kinder hatten am gedeckten Tisch Platz genommen und Karen stellte den gebratenen Truthahn auf den Tisch.

 

„Lasst uns dem Herrn danken, dass er uns so reichlich beschenkt hat, an diesem Festtag.“ Karen faltete die Hände und die Kinder taten ihr nach.

 

Auch Jason faltete die Hände und senkte seinen Kopf.

Misstrauisch suchte er jedoch Blickkontakt zu dem Truthahn.

    „Ich war es nicht“, murmelte er.

 

„Ist schon okay, Jason.“

Der Teddybär!!!

    „Du bist ein guter Mensch, Jason. Lass es dir schmecken.“

 

 

ENDE

 

 

 


Christine Todsen

 

bekennt sich zum Mysteriösen. Ihre Kurzgeschichten enthüllen Unheimliches, mitunter sogar Atemberaubendes.

 

Lesen Sie, wie es Kekezza und ihrer Zwillingsschwester Kerensa in der Burg des Königs Artus in Cornwall ergeht.

 

 

Kekezza und Kerensa in der Artusburg

 

Die eineiigen Zwillingsschwestern Kekezza und Kerensa Müller verdankten ihre Vornamen dem Faible ihrer Eltern Carola und Peter für Cornwall und seine ausgestorbene und jetzt wiederbelebte keltische Sprache, das Kornische. Wobei „verdanken“ nicht der ganz richtige Ausdruck ist, denn dankbar waren die Mädels für die Namen keinesfalls. Dauernd mussten sie erklären, wie sie ausgesprochen wurden („Betonung auf der zweiten Silbe!“) und was sie bedeuteten (Kekezza = Heidekraut, Kerensa = Liebe).

  „Mama, Papa, warum habt ihr uns keine normalen Namen gegeben? Wir wohnen schließlich nicht in Cornwall, sondern hier in Deutschland und heißen Müller!“

Die Eltern pflegten dann zu entgegnen: „Hättet ihr denn lieber Schantall und Schackeline heißen wollen? ‚Normale‘ Namen gibt es doch heute kaum noch. Eure sind doch wunderschön.“

 

Selbstverständlich verbrachte die vierköpfige Familie jeden Sommerurlaub in Cornwall. Die Zahl der Kornisch-Sprecher hält sich noch immer in Grenzen, sodass man sich in der Regel auf Englisch verständigen muss. Dies betrübte Carola und Peter, aber andererseits führte es dazu, dass Kekezza und Kerensa ihren Mitschülern in Deutschland im Fach Englisch weit voraus waren. Ein wenig Kornisch konnten sie ebenfalls, wenngleich sie die Begeisterung ihrer Eltern für die Sprache nicht teilten.

 

Eine der touristischen Hauptattraktionen Cornwalls ist Tintagel Castle (kornisch: Kastel Dintagel), die Burg, in welcher der mythische König Artus gezeugt worden sein soll. Heute ist Tintagel Castle nur noch eine Ruine.

 

Im August 2019 wurde eine neue Fußgängerbrücke fertiggestellt, die die Halbinsel, auf der die Burgruine liegt, auf der Höhe des mittelalterlichen Zugangs mit dem Festland verbindet. Die vier Müllers kannten Tintagel Castle bereits, wollten aber auch die neue Brücke kennenlernen und gehörten zu den ersten, die sie benutzten. Carola und Peter hatten ihre Tischnachbarin im Hotel, die alte Mrs. Smith aus London, eingeladen, mit ihnen zu kommen. Diese war dafür sehr dankbar und revanchierte sich mit vielen Anekdoten über Tintagel.

 

Kekezza und Kerensa – inzwischen vierzehn Jahre alt – langweilten sich bald, zumal ihr Englisch noch nicht ganz ausreichte, um alle Einzelheiten der Anekdoten zu verstehen.       

   „Was meinst du“, flüsterte Kekezza ihrer Zwillingsschwester zu, „sollen wir durch die Burg gehen, während Mama und Papa Mrs. Smith zuhören?“

 

Kerensa nickte begeistert, und unbemerkt von den Erwachsenen schlichen sie sich davon. Als sie außer Seh- und Hörweite der Eltern waren, sagte Kekezza:

  „Erinnerst du dich an den schmalen Durchgang, der uns bei unserem vorigen Besuch hier auffiel? Er schien nicht für Touristen gedacht zu sein …“

 

Bald hatten sie ihn wieder-gefunden. Es handelte sich um einen Spalt zwischen zwei Felswänden. Er ähnelte einem Weg, aber man konnte nicht sehen, wohin er führte.

„Wenn wir hintereinandergehen, passen wir rein“, entschied Kekezza, die – als die 15 Minuten Ältere – meist die Anführerin war. „Ich gehe vor, und du bleibst direkt hinter mir. Los! Wir haben ja unsere Handys dabei für den Fall, dass was nicht in Ordnung ist.“ 

 

Die Mädchen guckten sich noch einmal um, aber niemand beobachtete sie, und sie betraten den Weg. Schon nach wenigen Metern merkten sie, dass es immer dunkler wurde.

   „Lass uns lieber umkehren“, bat Kerensa, „es ist wohl gar kein Durchgang, sondern eine Art Sackgasse oder Höhle!“

 

Als Kekezza unbeirrt weiterging, rief sie:

   „Wenn du nicht willst, dann gehe ich eben allein zurück!“ Sie drehte sich um – und schrie im nächsten Augenblick:

    „Ich kann nicht!“

 

Eine unsichtbare Wand schien sich vor Kerensas Füßen aufgerichtet zu haben. Es drang auch kein Licht mehr von draußen hinein, obwohl der Eingang nur rund zehn Meter entfernt lag. Ohne Kekezza zu fragen, ergriff sie in Panik ihr Handy und wollte ihre Mutter anrufen. Doch das Telefon funktionierte nicht.

   „Versuch’s mal mit deinem!“, flehte sie Kekezza an. Auch dieser schien es inzwischen mulmig geworden zu sein, denn sie holte ohne Widerrede ihr eigenes Handy hervor. Einige Minuten später stand fest, dass auch ihres nicht ging.

 

Wenigstens leuchten konnten sie noch mit beiden Handys. Aber wie lange?

   „Was tun wir nur?“, überlegten sie verzweifelt. „Hierbleiben? Weitergehen? Offenbar gehört der Weg zu einer Geisterwelt, die wir nicht hätten betreten dürfen. Und die Herrscher dieser Geisterwelt rächen sich jetzt.“

Plötzlich sagte Kerensa:

   „Mir fällt gerade die Fee Morgana ein. Ob sie uns helfen könnte?“

„Die Fee Morgana? Ich weiß, sie gehört zur Artussage. Eine mächtige Zauberin. Aber nicht immer gut.“

   „Immer böse aber auch nicht. Auf Kornisch heißt sie Morgen an Spyrys. Wenn wir sie auf Kornisch anrufen, hilft sie uns vielleicht, auch weil wir kornische Namen haben. Mama und Papa sind uns mit ihrem Kornisch ja oft auf die Nerven gefallen, aber wer weiß, wozu es gut ist.“

Nachdem sie sich geeinigt hatten, was sie sagen wollten, und versucht hatten, dies ins Kornische zu übersetzen, riefen sie die Fee Morgana an. In der keltischen Sprache baten sie:

   „Morgen an Spyrys, hier sind Kekezza und Kerensa. Bitte hilf uns, dass wir wieder heraus zu unseren Eltern kommen!“

Einige Minuten lang geschah nichts. Dann erspähten sie dort, wo der Eingang lag, ein schwaches Licht, das stärker und stärker wurde. Es war das Tageslicht. Als der Weg zwischen den Felswänden genügend erhellt worden war, versuchte Kerensa erneut, zum Eingang zu gehen – und diesmal hielt keine unsichtbare Wand ihre Füße mehr auf.

 

Weinend vor Erleichterung traten die Zwillingsschwestern ins Freie und wollten sofort zu ihren Eltern und Mrs. Smith zurücklaufen. Doch was war das? Alle Menschen, denen sie begegneten, hatten sich merkwürdige Tücher vors Gesicht gebunden. Ein Mann fuhr sie auf Englisch an:

   „Hier ist Maskenpflicht!“

Die beiden begriffen nichts.

   „Wie bitte?“, fragte Kekezza.

„Was für Masken? Wir sind aus Germany …“

Inzwischen hatten sich weitere Tuchträger angesammelt und schimpften.

   „Diese Europäer! Nur gut, dass wir aus der EU raus sind!“

Nun zweifelten die Mädchen völlig an ihrem Verstand.

   „Aus der EU raus?“

„Ihr habt wirklich von nichts eine Ahnung! Schon seit dem 31. Januar 2020.“

   „Aber heute ist doch erst …“ Entsetzt starrten die Schwestern sich an. Dann fragte Kerensa mit bebender Stimme:

   „Welches Datum ist denn heute?“

Jemand hielt ihnen eine Tageszeitung unter die Nase. Sie zeigte das Datum 14.07.2021.

Auf Deutsch flüsterte Kekezza fassungslos ihrer Schwester zu:

   „Wir müssen fast zwei Jahre lang in der Geisterwelt gewesen sein.“

Einer der Umstehenden merkte, dass die Mädchen Hilfe benötigten, und rief einen Rettungswagen und die Polizei.

 

* * *

 

Carola und Peter Müller hatten nichts unversucht gelassen, ihre Töchter wiederzufinden. Erst nach Monaten waren sie notgedrungen nach Deutschland zurückgekehrt, betrieben die Suche aber von dort aus weiter. Als dann am Abend des 14.07.2021 das Telefon schellte, hatte Carola gleich ein gutes Gefühl.

 

Tatsächlich meldete sich eine Polizistin aus Cornwall.

   „Good News! Ihre beiden Töchter sind wieder da. Körperlich unversehrt und in guter Verfassung, allerdings sehen sie merkwürdigerweise noch immer wie Vierzehnjährige aus. Sie wurden in die Psychiatrie eingeliefert, weil sie behaupteten, sie seien im Geisterreich gewesen –“

   „Bitte entlassen Sie sie aus der Psychiatrie! Mein Mann und ich kommen, so schnell es unter den Corona-Bedingungen geht, und holen sie ab. Das mit dem Geisterreich stimmt. Ich habe gewusst, dass Sie anrufen würden, denn diese Nacht hat mir im Traum die Fee Morgana alles erzählt.“

 

 

 

ENDE

 

 


Hallo lieber Leser, ich bin Marina, Jahrgang 1989 und schreibe hobbymäßig zur Entspannung. Für gewöhnlich über Tiere, Fantasie oder Gruseliges. Außerdem gehe ich reiten, tanzen und bastle das ein oder andere, je nachdem wonach mir der Sinn steht. Aktuell mag ich Arbeiten mit Licht und Blumen, in meinem Halloween LED-Tür-Kranz habe ich zudem noch eine Raben-Figur eingearbeitet, die kleinen Geister müssen ja wissen, wo sie klingeln dürfen. Beruflich betätige ich mich in der Verwaltung der Behinderten-hilfe, da trifft man zu Halloween ebenfalls Geister aller Altersstufen, schon mal mit einem Vampir zu morgen Kaffee getrunken? Nichts, was es hier nicht gibt und mein nächstes Projekt steht schon in den Startlöchern, dieses Mal etwas Tänzerisches, ein Feuerschalen-Tanz soll es sein, wer weiß, vielleicht handelt meine nächste Geschichte von einer Feuermagierin?

 

 

Marina Hascher  

Aus Halloween-Wettbewerb 2022 

(Urheberrechte & Copyright © by Marina Hascher) 

 

 

Das Ritual 

 

Sie kommen. Ich kann es hören, sie kommen, sie kommen. Schritte hinter der Türe, dutzende, hunderte, sie kommen, sie kommen. Lachen, Schreien, Wimmern hinter der Türe. Stimmen, ich verstehe sie nicht. Immer lauter, immer näher. Sie kommen, sie kommen. Warum ich? Warum verdammt nochmal ich? Ich drücke mich in die Schatten, der Raum ist dunkel, ruhig, davor hallen die Stimmen, die Schritte, das Lachen …, und der Gesang. Wie jedes Jahr, dieser unheimliche Gesang, er gräbt sich in meinen Kopf, sticht mir in den Leib und er kommt näher, immer näher, immer lauter. Mein Körper bebt vor Entsetzen, knarrend öffnet sich die Türe, kaltes Licht quillt ins Zimmer. Es fließt über den Boden, vertreibt die Dunkelheit, vertreibt die Schatten, vertreibt mein Versteck. Etwas steht im Licht, etwas Grässliches, hager, fleischig und es stinkt. Der Gestank ist überwältigend, nach Fleisch und Metall und dabei so penetrant süß, dass ich würgen muss. Der Geruch setzt sich in meinem Gaumen fest, im Raum, breitet sich aus und steht dann wie eine Wolke zwischen uns.

 

Das Ding sagt etwas, ich ächze lautlos, drücke mich verzweifelt weiter in die letzten Reste der Dunkelheit, dann erhellt eine Laterne das unförmige Gesicht. Beinahe weiße Augen stieren in den Raum, quellen fast aus den Höhlen, Zotteln wachsen aus dem Kürbis artigen Kopf und während es spricht, kann ich zwei Reihen stumpfer Mahlzähne sehen. Eine weitere Kreatur erscheint und noch eine, sie stehen im Licht, reden miteinander, jaulen und schnarren und endlich zieht das kleinere Wesen die beiden anderen fort. Sein schrilles Keifen wird leiser und leiser, während die Stufen ins Obergeschoss unter den Kreaturen ächzen. Sie gehen nach oben und ich wage kaum zu hoffen, sitze im Dunkeln und drücke mich in die Schatten. Der Pest Gestank ist immer noch im Raum, doch ich wage nicht mich zu bewegen, wage nicht das Haus zu verlassen. Wage kaum zu atmen. Über mir höre ich Kratzen auf dem Boden, Scharren und wieder diesen grauenvollen Gesang. Ich halte mir die Ohren zu, es dröhnt in meinem Schädel, es tut fast weh und doch, ich werde diese Nacht überstehen.

 

 

Illustration 1*

 

 

Der Gesang über mir schwillt an, zu einer manischen, aufgeregten Sinfonie, grauenhaft, Nerven zerreibend und dann spüre ich wie etwas an mir zerrt. Symbole beginnen auf dem Boden zu glühen, unter mir, um mich herum. Ich will aufspringen, fliehen, doch unsichtbare Hände zerren mich zurück. Mein Herz scheint zu bersten, Ketten binden mich, ich sehe sie nicht, aber ich fühle sie, kalt und fest um meinen Körper. Ich will schreien, doch kein Laut dringt aus meiner Kehle, dann weiten sich meine Augen, meine Beine versinken im Boden. Mein Körper verschwindet, Ketten zerren mich ins Holz, kalt, schneidend. Meine stummen Schreie füllen den Raum, dann verschwinde ich vollständig und bin umgeben von völliger Finsternis. Keine schützende, freundliche Finsternis, sondern kalte Einsamkeit. 

 

Es scheint mir wie eine Ewigkeit, dann zerren die Ketten wieder an mir, glühen, brennen sich in meinen Leib. Es schmerzt, wieso? Licht umgibt mich, Feuer, Kerzen, mein Kopf bricht durch das Holz. Ich starre zu den drei Kreaturen auf, die undeutbar auf mich herabblicken. Sie haben mich gefunden. Sie haben mich zu sich gerissen? Ich brülle vor Wut, ich brülle vor Verzweiflung und dann weicht eines davon zurück. Sofort ertönt wieder schrilles Keifen, sie schreien einander an, während ich immer mehr aus dem Boden gezogen werde. Die Kälte schwindet, Ketten binden mich an die Dielen, doch alles ist besser als diese drückende Finsternis. Ich starre zu den Wesen auf, die auf mich herabblicken, dann sprechen sie wild durcheinander, schnatternd, schrill und vollkommen wirr. Ich verstehe sie nicht, eines blättert hektisch in einem Buch, deutet auf mich, sie reden wieder durcheinander und aus irgendeinem Grund kommen sie nicht näher. Sie stehen in Salzkreisen, ich bin in einen Salzkreis gekettet und langsam verstehe ich, sie können nicht aus diesen Kreisen treten. Sie sind gefangen, wie ich. Wütend zerre ich an den Ketten, winde mich, brülle sie an und sie keifen zurück. 

 

 

Fleischige Hände werden mir entgegengestreckt, widerliche Finger, wie Maden, hektisch durchblättern sie das Buch, Schreie liegen in der Luft, wütend, verzweifelt und dieses Mal nicht meine. Sie fürchten sich, werde ich mir bewusst. Diese Monster fürchten sich vor mir.

 

Illustration 2*

 

Wieder brülle ich, blecke die Zähne, senke drohend mein Geweih und meine Augenhöhlen beginnen rot zu glühen. Die Wesen zittern, brüllen zurück, dann trifft mich das Buch, es hat es nach mir geworfen. Wieder Keifen, Schreien und schließlich durchfährt mich ein Beben. Einer der unförmigen Füße tritt aus dem Salzkreis und die Ketten lösen sich. Die hervorquellenden Augen werden noch größer, die Kreatur ächzt und will fliehen, sie tritt vollends aus dem Kreis und ich knurre triumphierend. Die Ketten lösen sich, fallen von meinem Körper, als ich mich schüttle, dann schnelle ich auf, stürze mich auf das Wesen und schlage die Fänge in seinen Leib. Mein Kiefer fährt durch die rosa Masse wie durch Wolken, roter Saft quillt daraus hervor und ich zerre das Ding an mich, es schmeckt herrlich. Der Gestank ist überwältigend, aber es schmeckt herrlich. Schreie erfüllen den Raum, von dem Wesen in meinen Klauen, von den Wesen in den verbliebenen Kreisen und schließlich ist zumindest das Vieh in meinen Händen still. Gierig schlinge ich es herab, lecke den roten Saft vom Boden und fixiere dann die beiden anderen Kreaturen. Auf einmal wirken sie nicht mehr bedrohlich, auf einmal wirken sie verängstigt, überfordert und …, lecker. Fauchend nähere ich mich den Kreisen, versuche hindurchzubrechen. Es geht nicht, das Salz schützt die Wesen vor mir, die schreiend zurückweichen, wieder tritt ein Fuß über das Salz. Sofort schnappe ich danach, doch das Ding ist geistesgegenwärtig genug, um sein Bein zurückzuziehen. Frustriert fauche ich und umkreise die beiden Kreaturen, irgendwann müssen sie dort rauskommen und dann werde ich da sein.

 

Wimmernd sahen die beiden Teenager mit an, wie das Monster, das sie beschworen hatten, sich mit den ersten Strahlen der Sonne auflöste. Es wirkte frustriert, fauchte böse und bleckte nochmals drohend die Zähne, dann war es verschwunden. Goldene Sonnenstrahlen fielen in den blutverschmierten Raum, Staub tanzte darin und rieselte lautlos in die Blutlache, welche sich in die alten Dielen arbeitete.

 

Stumm sahen sich beide an, was sollten sie tun? Wer sollte ihnen glauben? Wem sollten sie sagen, dass im verlassenen Haus, weit ab der Straße, ein Monster lebte? Dass es ihren Bruder gefressen hatte? Dass sie es selbst beschworen hatten? Dass es laut dem alten Buch zur Halloweennacht sichtbar wurde und sie es unbedingt hatten sehen wollen? Dass sie Schuld am Tod ihres Bruders hatten? Still erhoben sie sich, das Mädchen hob das Buch auf und verließ stumm das Zimmer, hörte wie ihr kleiner Bruder folgte. Wie in Trance verließen sie das Haus, verließen den verwilderten Garten darum herum, traten auf die Straße und kehrten nach Hause zurück. Wer sollte ihnen jemals glauben? 

 

 

Illustration 3*

 

Es flimmert um mich herum, ich bebe, ich brenne regelrecht, ich fühle, wie das Haus sich verändert. Ich fühle, wie ich in die Welt dieser Wesen eintrete, oder sie in unsere? Leise fauche ich, sehe mich um, die Salzkreise sind vom Boden verschwunden, die Holzdielen sind dunkel verfärbt, wo ich vor genau einem Jahr die Kreatur gerissen habe. Ich bin allein, niemand ist hier, also haben es die beiden anderen Wesen geschafft aus den Kreisen zu treten. Lautlos sehe ich mich um und starre dann überrascht auf die große Malerei in der Eingangshalle. Was ist das? Das bin ich. Knochiger Schädel, schwarzes Geweih, großer schlanker Körper und feste Hufe. Gut getroffen, interessiert kratze ich über die bemalte Wand, neben meinem Bild wurde ein fremdes Wort in roter Farbe geschmiert. Eine Warnung? Ich lache leise, wie herrlich, die Monster fürchten sich … zurecht. Grinsend fixiere ich die Türe, höre Lachen, Stimmen, Schritte und diesen nervtötenden Gesang. Letztes Jahr habe ich mich versteckt, dieses Jahr werde ich jagen und dafür sorgen, dass das Singen endlich verklingt. Ich zittere vor erregter Spannung, als ich mich der Türe nähere, endlich, endlich ist es so weit.

Endlich wieder diesen herrlichen roten Saft kosten, endlich wieder meine Zähne in etwas anderes schlagen als knochige Gerippe. Ich trete aus dem Haus, kühle Nachtluft weht mir entgegen, trägt das Lachen mit sich, dutzende Stimmen, hunderte Stimmen. Hungrig setze ich mich in Bewegung, die Nacht ist noch jung und wie lange habe ich hierauf gewartet? In der Ferne funkeln Lichter, ein Meer aus Licht in der Dunkelheit, ein Gewirr aus Stimmen, ein Festmahl und ich werde da sein bis zum Morgengrauen. 

 

  

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

*Urheberrechtlich geschützte

 

Illustrationen von

 

Jennyfer Brösicke


Selina ist 20 Jahre jung und hat mit 14 angefangen zu schreiben. Viele Ideen kreisten in ihrem Kopf umher, doch bei dem Versuch, diese niederzuschrei-ben, merkte sie schnell, dass sie etwas Schwierigkeiten mit den Formulierungen hatte. Eine Freundin sprang ein, die ihr einige gute Tipps liefern wollte. Doch aus der sporadischen Unterstützung wurde mehr. Bald entwickelten sie sich zu einem guten Team, was schließlich in einer neuen Buch-Idee gipfelte.

 

Nach dem 13. Kapitel verlief das Projekt im Sande und Selina schrieb wieder alleine. Mittlerweile beendet sie ihr 2. Buch.

 

Schreiben ist jedoch nicht alles in ihrem Leben. Ihr Zukunftstraum besteht darin, eines schönen Tages Psychologin genannt zu werden. Dazu steckt sie mitten in einem freiwilligen Sozialen Jahr an einer Schule für psychisch kranke Kinder und hofft, dass sie danach das Studium antreten kann.

 

Der freizeitliche Bereich widmet sich ihrem Hündchen, Percy, den sie sehr liebt. Um das Geistige zu pflegen, erzählt sie stolz: 

 

„Ich besuche die Volkshochschule, einfach, weil ich Lust hatte, Niederländisch zu lernen! Das Land hat mir schon als Kind immer gefallen.“ Natürlich ist Hund Percy stets dabei. „Sport hingegen“ – gesteht sie – „findet in meinem Leben kaum Platz. Ich zähle mich eher zu den »Couch-Potatoes«.“

 

Was in ihrem Fall nicht heißt, dass sie ausschließlich vor dem Fernseher sitzt.

    „Ich bin eher kreativ unterwegs.“ – erklärt sie –

„Nebst basteln, lesen, malen und nähen, schreibe ich natürlich. Meistens nachts, wenn die Familie zu Bett gegangen ist. Dann kann ich ordentlich in die Tasten hauen, denn nachts schreibt es sich am besten!“

   „Was war die Inspiration für Ihre Geschichte Oltaime i`Strato, die wir nun anschließend lesen dürfen?“

 

Die Geschichte kam durch meine Vorliebe für Krimidinners. Gemeinsam überlegen, wer der Übeltäter sein könnte, verschiedene Hintergründe aufdecken, jeder hat ein Motiv, doch gibt vor, ein Alibi zu haben – diese Art von Geschichten gefällt mir einfach, daher habe ich Oltaime i`Strato ähnlich aufgebaut.“

 

 

„Danke Selina, wir freuen uns auf weitere Texte von Ihnen.“

 

 

Oltaime i’Strato 

(Urheberrechte & Copyrights © by Selina Kissmann)

 

»Wir sind uns also alle einig?« Einstimmiges, wenn auch schlaffes Nicken aller Beteiligten.

   »In diesem Fall schlage ich vor, dass wir uns nun alle etwas entspannen und morgen reden wir darüber, wie wir die Elixiere vernichten werden. Ich wiederhole, dass die Öffentlichkeit keinerlei Informationen erhalten darf. Ich kümmere mich um die Reporter, während ihr unser Lager aufräumt. Soweit klar?« Erneutes, geknicktes Nicken ging durch den großen Konferenzraum. Niemand schien wirklich glücklich mit den Entscheidungen zu sein. Alexej schnippte bereits seit einer halben Stunde unbeteiligt zusammengeknüllte Papierfetzen durch die Gegend. Amanda hatte am längsten nach Alternativen gesucht, doch auch sie musste einsehen, dass es keine gab und sah seitdem aus, wie ein geschlagener Hund. Selbst Linn, die fest davon überzeugt war, dass ihre Entscheidung, die Überreste von Oltaime i’Strato, der wohl bemerkenswertesten Pflanze, die jemals gefunden wurde, zu vernichten, die richtige Entscheidung war, hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. Das war schließlich ihr Lebenswerk. Das hatte sie zu einer Gruppe gemacht. Mehr noch: Das hatte sie zu Freunden gemacht. Es war nicht leicht, sich davon zu trennen.

 

Sie dachte daran zurück, wie begeistert sie waren, als Amanda mit einigen Proben ihres Fundes in den Taschen zurückkehrte und sie die ersten Untersuchungen durchführten. Als Alexej und Amanda das Elixier extrahierten und Linn es dem ersten Tier verabreichte, blieben sie alle die ganze Nacht lang wach, selbst Alvar, der schon viereckige Augen von all der Computerarbeit hatte. Sie blieben alle wach und warteten ab.

 

Es war ein langer Weg, doch er funktionierte. Ihre Erfolgsgeschichte schrieb sich quasi von selbst, doch sie waren schlau genug, um die Konsequenzen im Blick zu behalten. 100.000 Menschen hätten ein Privileg wie keiner sonst erhalten können, doch wer sollten diese Menschen sein? Ihre Familien und Freunde? Die klügsten Köpfe und die stärksten Muskeln? Diejenigen mit dem meisten Geld? Die Alten oder die Jungen? Hätte ein Los diese wichtige Entscheidung fällen sollen? Es gab zu viele unberechenbare Variablen. Jeder wollte es, doch nicht jeder konnte es erhalten. Es war nur vernünftig, auch aufgrund von nach wie vor fehlender Forschung, das Projekt einzustellen. Alle oder keiner – in diesem Fall also keiner.

 

Nach Alvars Ansprache verließen alle Mitglieder der World-Bio-Tech-Incorporated Ltd. das Konferenzzimmer und gingen ihre eigenen Wege. Linn konnte nur vermuten, was die anderen nun taten. Alvar schrieb vermutlich eine kurze, verschleierte Presserede, Amanda war zumeist im Gewächshaus zu finden und Alexej im Fitnessraum, um den Frust herauszulassen. Linn hingegen begab sich auf ihr Zimmer und schrieb in ihr Tagebuch, um die Ereignisse der letzten Stunden festzuhalten.

    Stundenlang debattierten wir über die verschiedenen Möglichkeiten, die wir hatten und die damit verbundenen Konsequenzen. Wir sind als Gruppe über die letzten Jahre wirklich zu einem Team avanciert, wodurch die Diskussionen angenehm und sachlich blieben. Trotzdem bin ich erstaunt, wie wir uns in nur einer Sitzung einig werden konnten. Ja, sie beanspruchte mehrere Stunden, doch ich hätte mit Tagen gerechnet, in denen wir abwägen, was das Beste für uns, das Unternehmen und die gesamte Menschheit bedeutet. Ich bin froh, dass wir zu diesem Entschluss kamen. Die Öffentlichkeit wird niemals erfahren, dass wir noch Elixiere – und davon auch noch eine beachtliche Menge – aufbewahrt hatten. So kann es zu keinen Auseinandersetzungen oder außenstehenden Aufständen kommen. Es war die fairste und sicherste aller Lösungen, auch wenn unsere Herzen darunter leiden. Wir tun das Richtige.

 

Am nächsten Morgen wachte Linn unter tobenden Umständen auf. Schnelle Schritte liefen den Flur vor ihrem Zimmer entlang. Unverständliche Sätze wurden durch das ganze Gebäude geschrien. Es schien sogar etwas kaputtgegangen zu sein.

 

Müde, aber neugierig zog sich Linn einen Morgenmantel über, versteckte ihre nackten Füße in den kuschlig weichen Pantoffeln und bewegte sich, die Augen reibend, auf den Lärm zu, welcher dem Anschein nach aus dem Konferenzraum kam.

    Als sie besagten Raum betrat, fiel ihr sofort die am Boden liegende Tasse, welche in ihre Einzelteile zerlegt wurde, sowie die angespannte Stimmung auf, die allerdings weder zu übersehen, noch zu überhören war. Bereits auf dem Flur war ein Streit zwischen Amanda und Alvar zu vernehmen. Laute Anschuldigungen fielen, die Linn allerdings, unklar, was überhaupt passierte, nicht nachvollziehen konnte. Als sie die Türschwelle überschritt, war Alexej der Einzige, der sie wahrzunehmen schien. Für seine sonst so gelassene Art schien auch der Chemie-Experte recht unruhig. Er konnte Linn nicht einmal in die Augen blicken, als sie ihn besorgt fragte, was los sei.

    »Die Elixiere, alle 100.000 Einheiten, wurden gestohlen.« Gestohlen?! Das war völlig ausgeschlossen. Die einzigen Menschen, welche Zugang zu dem Lagerraum hatten, waren die drei Doktoren um Linn herum und sie selbst. Hieß das, einer von ihnen hatte die Einheiten gestohlen? Das konnte nicht sein. Es gab doch keinen Grund für solch ein Handeln. Sie hatten sich doch geeinigt.

    »Auf keinen Fall. Das kann nicht sein.«

»Tja, so ist es aber. Geh doch ins Lager und überzeuge dich selbst. Alles ist weg.« Nun drehten sich auch Amanda und Alvar zu uns um. Ihre Augen waren rot unterlaufen, als hätte keiner von ihnen ein Auge in der Nacht zugemacht. War Linn die Einzige, die tief und fest geschlafen hatte?

    »Wann soll das passiert sein?«, fragte sie in der Annahme, dass sie die Antwort bereits wusste. Wie zu erwarten war, meldete sich der Faktenmeister Alvar zu Wort. Ebenfalls erwartet kam die Antwort, dass es irgendwann in der Nacht gewesen sein musste. Darauf war Linn auch gekommen, sie hatte lediglich auf mehr Informationen gehofft. War in der Nacht jemand im Lagerraum gewesen, bevor die Proben gestohlen wurden? Hatte jemand anderes einen von uns in der Nacht in den Lagerraum gehen sehen? Irgendetwas mussten sie doch wissen.

»Habt ihr alle die Nacht durchgeschlafen?«

    »Alvar jedenfalls nicht«, kam prompt von Amanda. Was hatten die beiden nur miteinander? Vielleicht fehlte Linn bisher auch einfach der Kaffee und damit die Auffassungsgabe, um wirklich zu realisieren, dass einer von ihnen sie verraten hatte und nun im vollen Besitz der 100.000 letzten Proben war. Mit diesen konnte jeder sein eigenes Ziel auf eigene Faust erreichen, ohne durch die Meinungen und Ideen der anderen behindert zu werden. Linn konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass einer von ihnen tatsächlich zu so etwas imstande war.

    »Und das weißt du woher, Amanda? Ach, hast du etwa auch nicht gut geschlafen? Sag mir doch nochmal, wo du hin bist, nachdem wir uns im Flur begegnet sind!«

»Wie oft denn noch? Ich war auf der verdammten Toilette, das ist kein Verbrechen!« Das durfte alles einfach nicht wahr sein. Erst das plötzliche Aussterben der Pflanze und dann das hier. Innerhalb von gerade mal 46 Stunden hatte sich ihr Traum in einen regelrechten Albtraum verwandelt, der einfach kein Ende nehmen wollte. In der leisen Hoffnung, aufzuwachen, oder zumindest etwas besser mitdenken zu können, entfernte sich Linn von den Streithähnen und besorgte sich erst einmal einen schwarzen Kaffee. Normalerweise war sie eher der „Mit-Milch-und-Zucker-Typ“, doch an diesem Morgen – es war gerade mal ein Viertel vor sieben, brauchte sie eindeutig etwas Stärkeres.

    »Machst du mir auch einen?« Alvar muss ihr gefolgt sein, ohne, dass sie es mitbekommen hatte.

    »Warst du es etwa, der seinen ersten auf den Boden geschmissen hatte?«

    »Nein, das war Alexej, als wir ihm die Nachricht mitgeteilt hatten.« Komisch. Das war überhaupt nicht typisch für Alexej. Auch im Fitnessraum entschied er sich immer für das Laufband, nie für den Boxsack oder anderweitige Mittel, um versteckte Aggressionen herauszulassen. Doch die Nachricht war natürlich für ihn, wie für uns alle ein Schock. Linn war sogar der Meinung, dass er am meisten auf persönlicher Hinsicht von dieser Gruppe profitiert hatte. Vorher war er ein ziemlicher Einzelgänger, ohne Freunde oder familiäre Unterstützung. Er war nach all den Jahren immer noch etwas verschlossen, doch er hat hier etwas gefunden, was er lange gesucht hatte. Und nun? Was passierte nun mit der World-Bio-Tech-Incorporated Ltd.?

    »Wer hat denn herausgefunden, dass die Proben weg sind?« Linn übergab den ersten Kaffee, der für sie gedacht war, an Alvar weiter und startete die Maschine erneut, für ihren eigenen. Dabei versuchte sie unauffällig die Gesichtszüge ihres Gegenübers zu begutachten, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagte und falls ja, ob es auch die ganze Wahrheit war.

    »Das war ich.« Kein Anzeichen einer Lüge. »Ich bin um kurz nach fünf aufgestanden, bin runter in den Konferenzraum und habe den Hauptrechner eingeschaltet.« Eine normale Routine in seinem Morgen. Nichts Ungewöhnliches bisher.

    »Sofort wurde mir ein Alarm angezeigt, dass in der Nacht für mehrere Stunden die Überwachungssysteme ausgefallen sind.« Alle fanden es unnötig, Überwachungssysteme anzubringen, wenn ohnehin nur sie selbst Zutritt zu allen wichtigen Räumlichkeiten hatten, doch ihre Investoren bestanden darauf. Sie mochten richtig gelegen haben, dass Überwachung vonnöten war, doch da jeder von ihnen schlau genug war, um die Kameras lahmzulegen, hatte es absolut nichts gebracht.

 

»In der Nacht bin ich Amanda begegnet. Ich hatte Einschlafprobleme und wollte daher lediglich eine Tablette und ein wenig Wasser besorgen.« Hier war etwas Ungewöhnliches. Alvar hatte noch nie Schlafprobleme, seit sie sich kannten. Er schlief für gewöhnlich wie ein Stein.

    »Amanda sagte, sie müsse auf die Toilette, doch sie lief in Richtung Konferenzraum. Warum sollte sie extra hinuntergehen, wenn doch zwei Räume neben ihrem Zimmer ebenfalls eine Toilette war? In der Nacht war ich zu müde, um diese Logik infrage zu stellen, doch als ich zur Kontrolle heute Morgen in den Lagerraum ging, wurde es mir klar. Und wer sonst, hat so ein gutes Motiv, wie sie?« Es stimmte schon, dass Amanda auf den ersten Blick das beste Motiv hatte. Sie setzte sich am meisten für Alternativen ein, die nicht bedeuteten, dass ihr Lebenswerk, die Entdeckung des Jahrhunderts, die sie selbst gemacht hatte, einfach vernichtet würde. Von allen Anwesenden, denen dieses Projekt am Herzen lag, schien es ihr doch am wichtigsten zu sein. Doch sie war nicht die Einzige.

 

Alvar, ein durchaus freundlicher, höflicher Mann, hatte ebenso für einen Erhalt und Verkauf der Proben argumentiert. Er hatte einen eben würdigen Rang in den Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin wie die anderen, doch hatten sie bessere Qualifikationen in den einzelnen Teilgebieten, während Alvar die Zuständigkeit für die Finanzen übernahm. Er etablierte sich als hervorragender Unternehmer, welcher, wie die meisten Unternehmer, auf den größtmöglichen Profit und die bestmögliche Anerkennung aus war.

 

Und Alexej hatte einen kranken, alten Vater. Oltaime i’Strato konnte den Alterungsprozess zwar anhalten, doch es konnte keine Krankheiten heilen. Alexej sollte sich dessen bewusst sein, doch ein liebender Sohn klammerte sich an jeden Grashalm, um eine Lösung zu finden.

In ihrem Kopf durchforstete Linn weiterhin die Motive der Verdächtigen, die sie noch vor einigen Stunden ihre Freunde nannte, während sie, gemeinsam mit Alvar zu den anderen zurückkehrte. Erwartet hätte sie eigentlich, dass die beiden genauso wild diskutierten, wie Amanda und Alvar vorhin, doch es schien eher, als redeten sie absichtlich leiser als sonst, um nicht gehört zu werden.

    »Was machen wir jetzt? Ignorieren wir es?«, flüsterte Amanda. Linn und Alvar blieben hinter der Tür versteckt, um lauschen zu können.

    »Nein«, kam als Antwort zurück.

»Was dann? Soll das alles umsonst gewesen sein?«

    »Lass mich doch mal nachdenken.« Ein lauter Klingelton unterbrach die beiden in ihrem Getuschel. Es war Alvars. Auf seinem Display konnte Linn erkennen, dass es sich um ihren wichtigsten Sponsor handelte. Wieso rief er so früh morgens an? Während Alvar den Anruf annahm und sich entfernte, trat Linn wieder ein, in die Folterkammer, wo sie direkt beschuldigt wurde, sich angeschlichen zu haben – was ja auch stimmte – und zusätzlich wurden ihre Absichten infrage gestellt. Sie hatten wohl herausgefunden, dass sie bereits vor Wochen geplant hatte, das Unternehmen zu verlassen und ein eigenes zu gründen. Sie hatte allerdings nicht vor, weiter an dem Elixier zu forschen. So interessant es auch war, sie hielt es für gefährlich und unnatürlich. Ihre Zweifel wurden zunehmend größer, doch genauso auch die Verbundenheit ihrer Gruppe, weshalb sie ihren Austritt ständig vor sich hinschob. Doch darum ging es überhaupt nicht!

    »Hört auf abzulenken und sagt mir, worüber ihr euch gerade im Geheimen unterhalten habt!« Amanda setzte merklich zum Gegenschlag an, doch Alvar, der gerade wieder zu ihnen trat, kam ihr zuvor.

    »Es ging um die neusten Umstände, nicht wahr? Das gerade war Jefferson. Er erklärte mir, dass es zu Todesfällen ihrer Vorführtiere kam. Und nicht nur das. Unsere ersten Probanden hat es ebenso getroffen. Zunächst sah es aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte nach einem Zufall aus, doch nun werden auch die anderen 40 nach und nach krank, keiner kann erklären, was sie haben. Sie sind alle betroffen. Und wir vermutlich auch.« Nicht das auch noch. Linn hatte von Anfang an das Gefühl, dass sie viel zu schnell in die Testphase übergegangen sind, doch nach den ersten positiven Rückmeldungen vergaß man solche Gefühle und dass tatsächlich jederzeit Rückschläge folgen konnten. »Wir sind offiziell und ab sofort in Quarantäne.« Und damit eingesperrt mit dem Verräter. Oder besser gesagt, den Verrätern.« »Die Krankheit fängt harmlos an, sagte Jefferson, und hört mit dem Tod auf. Das steht uns allen bevor, wenn wir kein Heilmittel finden.« Alvar pausierte kurz, als fiele es ihm schwer, fortzufahren.

    »Und Alexej wusste es. Jefferson hatte ihn schon vor einer Dreiviertelstunde benachrichtigt« Alexej und Amanda tauschten einen unsicheren Blick aus.

    »Wieso habt ihr es getan?«, fragte Linn mit glasigen Augen. Es war offensichtlich und doch schwer auszusprechen. Amanda und Alexej hatten sie verraten. Amanda hat das Überwachungssystem ausgeschaltet, während Alexej die Proben gestohlen hat. Immerhin mussten sich diese noch in diesem Gebäude befinden. Das einzig minimal Gute an der ganzen Geschichte. Die einzige Frage die blieb war, Weshalb?

    »Wir glaubten –«

»Alexej, nicht!«

    »Es ist vorbei, Amanda. Das war’s. Wir wollten ein neues Unternehmen gründen und die Pflanze nutzen, um tödliche Krankheiten zu heilen, wie die von meinem Vater. Dabei konnten wir allerdings keinen Besserwisser gebrauchen, der alles verkaufen möchte, bevor es so weit ist, noch eine Moralpredigerin, die uns bei den Versuchen hindern würde. Ja, es wäre wohl zu Todesfällen gekommen, doch das wäre nichts im Vergleich zu den Menschenmengen gewesen, die wir glaubten heilen zu können, solange das Projekt unter Verschluss blieb.« Es war unfassbar. Sie hätten ihre Ideen einfach preisgeben sollen. Sie alle hätten gemeinsam weiterarbeiten können, aber nein, sie wollten das Projekt für sich haben. Sie hatten Linn und Alvar eiskalt hintergangen, doch ihr Verrat spielte keine Rolle mehr. Nichts spielte mehr eine Rolle, wenn sie nicht ihren Groll ablegen uns zusammenarbeiten konnten.

 

»Dann fangt mal an, zu forschen. Das erste Heilmittel auf der Liste ist eines für die Krankheit, die wir erschaffen haben.« Linn musste für die nächsten Sätze einen tiefen Atemzug nehmen. »Ich kann nicht in Worte fassen, wie wütend ich bin, doch wir sitzen hier fest, alle zusammen und uns läuft die Zeit davon. Entweder wir alle schaffen es oder keiner. Also bringen wir es hinter uns. Danach trennen sich unsere Wege.« Einstimmiges, wenn auch schlaffes Nicken aller Beteiligten.

 

Das Rennen um die Zeit hatte begonnen!

 

 

 

ENDE

 

 

 

 


Die allgemeine Ankündigung zur Abschaffung des Geldes bewirkte nicht nur bei Banken und Unternehmen großes Kopfzerbrechen, sondern auch bei klei-neren Kommunen wie Gemeinden bis hin zum Zimmermädchen und anderem Service-Personal, welches seine künftigen Trinkgelder davonschwimmen sah.

 

 

Lesen und schmunzeln Sie, wie ein kleines galicisches Dorf der Sache entgegentritt. Für weitere interessante Werke des Autors MICHAEL KOTHE, besuchen Sie seine Seite:

 

                                     https://das-buch-quer-beet.jimdosite.com

 

 

Michael Kothes Satire zur

Abschaffung des Geldes

 

 

Der »Grove«

(Urheberrechte und Copyright © by Michael Kothe)

 

Ganz Europa bereitete sich auf die Einführung des digitalen Euro vor. Ganz Europa? Nein, ein kleines galicisches Dorf leistete Widerstand.

»Juan Manuel!«

Befehlsgewohnt hallte die Stimme der Bürgermeisterin durch das Obergeschoss, als sie ihren persönlichen Referenten rief. Nach ihrer Wahl hatte sie es sich nicht nehmen lassen, das neue Bürgermeisterbüro in dem schmucklosen Gebäude gegenüber dem Supermarkt zu verlassen und ihren Arbeitsplatz im romantischen, antiken Rathaus einzurichten.

»Juan Manuel!«

    »Señora?«

»Bitte überarbeiten Sie den Textentwurf für die Einladung an die Direktoren und die Druckereibesitzer. Es ist so weit. Der Termin ist entschieden, die Europäische Zentralbank hat sich im Zuge der weltweiten Bargeldabschaffung auf den ersten Januar festgelegt. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«

»Señora, hier ist der Text mit der Anlage. Ich hatte ein paar Daten nachzutragen, deswegen mussten Sie mich zweimal rufen. Den Vorsitzenden des Verbandes der Einzelhändler habe ich mit auf den Verteiler gesetzt.«

Angélica García Fernandez hob die Brauen. Sie kannte den vorauseilenden Gehorsam und die Sorgfalt ihres Referenten, aber dass er diese Anlage selbständig zusammenstellte, rang ihr großen Respekt ab. Mit einem Lob nahm sie ihm die Ausdrucke aus der Hand und nickte ihm zu. Bevor sie sich in den Text und die Tabellen vertiefte, lehnte sie sich in ihrem Ledersessel zurück und blickte aus dem Bürofenster auf den Marktplatz der zehntausend Seelen-Gemeinde O Grove, der außer freitags als Parkplatz diente. Am linken Rand ihres Blickfeldes nach draußen nahm sie ein Stück vom Hafen wahr, in dem sich bunte Fischerboote auf den flachen Wellen wiegten. Der Atlantik wagte sich mit seinem heftigeren Seegang nur selten durch die Ría de Arosa hierher ans südliche Ende der Bucht.

Angélica seufzte. Zu oft hatte sie sich in der letzten Zeit mit den Zweigstellendirektoren der im Ort vertretenen Banken über die Einführung des digitalen Euro und die Abschaffung des Bargelds ausgetauscht. Mit Vertretern aus Handel und Gastronomie hatte sie gesprochen und sich auch deren Befürchtungen angenommen. Bürgerinnen und Bürger waren von sich aus auf sie zugekommen, auch Vivencio, der Präsident der lokalen Rentner- und Pensionärs-Vereinigung, hatte seine Aufwartung gemacht und das Unbehagen seiner Senioren vorgetragen. Auch ihre eigenen Gedanken zu dem Thema waren nicht angetan, sie sorgenfrei in die Zukunft blicken zu lassen. Zwar würde sich im Lauf der Zeit alles einspielen, alle würden sich irgendwann an den neuen Zahlungsverkehr gewöhnen. Kreditkarten nutzten ja heute schon viele, aber es gab Gruppen, die der Verzicht auf Münzen und Scheine im Portemonnaie schmerzen würde ..  .

 

Sie straffte die Schultern und widmete sich dem Vortrag, den Juan Manuel ausgearbeitet hatte.

 

»Chef, wenn es ab dem nächsten Jahr kein Bargeld gibt, brauche ich eine deftige Lohnerhöhung. Mit dem Stundenlohn, den du mir zahlst, kommt meine Familie nicht über die Runden. Du weißt selbst, wie sehr wir auf das Trinkgeld angewiesen sind. Schließlich hast du ja selbst gekellnert, bevor du dein Lokal aufgemacht hast. Und Galicien lebt zum großen Teil vom Tourismus.«

»Ramón, versteh doch!« Verlegen kratzte sich der Pächter des Straßenrestaurants hinter dem Ohr. Lange schon hatte er gewusst, dass dieses Gespräch unweigerlich auf ihn zukäme, und sich bis zuletzt davor gefürchtet. Die Entscheidung der EZB war seit Tagen Nummer eins in den Medien. Eine Lösung für das Problem all seiner Angestellten hatte er nicht parat. Damit ging es ihm wie vielen Arbeitgebern im Dienstleistungsgewerbe. Nicht nur in dem pittoresken Küstenort, sondern europaweit. Eine Erhöhung des Grundlohnes bei gleichem Einkommen gerade der Kleinbetriebe würde Arbeitsplätze kosten! Und warum sollte der Umsatz steigen? Daran hatten die Damen und Herren in Brüssel sicherlich nicht gedacht. Halblaut sprach er zu sich selbst, denn Ramón hatte sich beim Anblick seines ratlosen Chefs wortlos umgedreht und widmete sich mit hängenden Schultern wieder seinen Gästen. »Mal wieder nicht über den Tellerrand hinausgeschaut und sich nur auf die Lösung eines einzigen Problems konzentriert, ohne die Auswirkungen auf anderen Gebieten mit einzubeziehen!«

 

Man prostete sich nicht zu, aber mit einem Nicken und einem Anheben der henkellosen Porzellantassen begrüßten Gabriel und Javier den Neuankömmling in dem winzigen Furancho, der idyllischen Besenwirtschaft. Hier wurde der Wein aus eigenem Anbau ausgeschenkt und aus ebendiesen Porzellanschalen getrunken, dazu wurden Tapas gereicht, kleine Snacks, die mal aus in Häppchen geschnittener Tortilla bestanden, mal aus einem Schälchen Miesmuscheln oder aus einer Tonschale mit Kichererbsensuppe. Manolo zwängte sich auf die Bank und dirigierte mit einem kurzen Heben des Kinns Antonio, den Wirt, zu sich. »Bringst du mir ein Glas Albariño? Auf den derben Roten habe ich heute keinen Appetit.«

»Nun, Manolo, welche Laus …«

Bevor Gabriel seine Frage vollenden konnte, fiel ihm sein Freund schon ins Wort.

»Na, rate mal! Dich betrifft es doch genauso. Ja, es ist richtig, dass die Regierung mit dem elektronischen Zahlungsverkehr die Schwarzarbeit eindämmen will. Das gibt aber dann noch mehr Vernetzung und lückenlose Kontrolle aller Bürger. Mit Sicherheit nimmt das Finanzamt Zugriff auf die Kontobewegungen. Und auch wenn du ehrlich bist und alles richtig machst, siehst du dich einer Flut von Fragen seitens der Behörden konfrontiert. Alles Dinge, die dir bisher erspart geblieben sind, denn was der Fiskus nicht sieht, darüber wird er auch nicht neugierig.«

   »Du hast ja recht.« Resigniert zuckte Javier die Schultern, bevor er weitersprach. »Jede Vorauszahlung muss in das eigene Geld und die Umsatzsteuer aufgespleißt werden, jeder Materialeinkauf wird hinterfragt, zu welchem Auftrag er gehört.«

   »Und das ist nur unser Blickwinkel. Mehr Arbeit, mehr Erklärungen, mehr Rechtfertigung. Aber auch die Behörden kommen nicht ungeschoren davon. Die wollen die Informationsflut quasi in Echtzeit auskosten, was zu endlosen Nachfragen führt und die eigentliche Arbeit behindert. Unsere Steuererklärungen werden noch später bearbeitet, und wir müssen noch länger Rücklagen für mögliche Nachzahlungen vorhalten.« Mit einem Seufzer hob Gabriel seine Tasse an den Mund und gönnte sich einen Schluck des in der Umgebung angebauten Barrantes. Ob er das Gesicht wegen des säuerlichen Rotweins verzog oder in Gedanken an den erhöhten Verwaltungsaufwand, der zum Jahreswechsel auf seinen kleinen Handwerksbetrieb zukam, hätte er selbst nicht zu beurteilen gewusst. Und wie er sich darauf vorbereiten sollte, konnte ihm auch niemand sagen.

Raquel hob die Brauen. Wieder einmal hatte sie einen Zehn-Euro-Schein entgegengenommen und eine Münze als Wechselgeld über den Verkaufstisch zurückgereicht. Es war Freitag, und als ambulante Schuhverkäuferin hatte sie ihren Marktstand innerhalb ihres Heimat-  städtchen aufgebaut. Seit Kurzem prangte an einer der Stangen, die das Sonnensegel hielten, ein Schild, das Kunden auf die Möglichkeit der Zahlung mit Kreditkarten hinwies.

  »Noch funktioniert das ja.« Sie sah zu ihrem Standnachbarn hinüber, der zwischen dem Geldschein in ihrer Hand und dem Plastikschild hin- und her blickte. »Aber ich habe auf manchen Wochenmärkten schon erlebt, dass die Lesegeräte ausfallen. Ob das an technischen Defekten liegt oder an einem Funkloch, kann ich dir nicht sagen, José.«

Der zuckte die Schultern.

   »Das ist doch wieder etwas, an dem die Großen verdienen. Wenn künftig alles nur mit Karte bezahlt wird, ziehen uns die Banken wirklich von jedem Verkauf ihren Prozentsatz ab. Die Politiker denken auch nur daran, den Lobbyisten gefällig zu sein. Klar, so sichern sie sich ihre Pöstchen nach ihrer Karriere in der Regierung.«

Die Abschaffung des Bargeldes würde als weiterer Grund für die Politikverdrossenheit und das Gefühl des Ausgeliefertseins herhalten müssen. Die erwarteten erhöhten Lebenshaltungskosten einmal ganz außer Acht gelassen.

Pünktlich um zehn Uhr hatte das Stühlerücken im Sitzungssaal des alten Rathauses ein Ende. Als Letzte hatte Angélica den Raum betreten, nachdem sie sich der Vollzähligkeit der Besprechungsteilnehmer vergewissert hatte. Als Hausherrin beugte sie so der Peinlichkeit vor, die eine Verspätung eines ihrer Gäste mit sich gebracht hätte. Entsprechend der spanischen Gepflogenheit fiel die Begrüßung herzlich aus, wurde jedoch nicht über Gebühr in die Länge gezogen.

  »Da jeder weiß, was uns bevorsteht, wollen wir uns direkt ins Thema begeben. Mein Referent hat interessante Aspekte zusammen-getragen.«

Sie wandte kurz den Kopf. »Juan Manuel, würden Sie bitte die Jalousie herunterlassen.«

Sofort widmete sie sich wieder ihren Gästen.

   »Obwohl alles bekannt ist, werde ich kurz zusammenfassen, damit unsere Absichten leichter zu verstehen sind und wir uns genauer auf Art und Menge unserer Maßnahmen festlegen können und auf einen Zeitplan für deren Umsetzung.

Die EZB schafft in einem Vierteljahr zum ersten Januar 2022 das Bargeld ab. Die politische Begründung ist die Eindämmung von Betrug, Diebstahl und …«, Angélica blickte in die Runde, »die Eindämmung von Schwarzarbeit.«

Warum die Vertreter der Gastronomie und des Einzelhandels sich gegenseitig mit einem Gefühl des Ertappt seins anblickten, sollte ihr Geheimnis bleiben.

   »Aber«, setzte die Bürgermeisterin wieder an, »wir dürfen bei all der vorgetragenen Euphorie nicht vergessen, dass es auch bei einer rein digitalen Währung die andere Seite der sprichwörtlichen Medaille gibt.« Die ersten Bilder von Juan Manuels Präsentation erschienen auf der Projektionswand: eine Liste digitaler Währungen, die zum Teil schon länger im Umlauf waren. Bitcoin, Ethereum, Lightcoin, Dash, Monero und andere waren gelistet. Hinter dem letzten Namen einer Kryptowährung standen die bekannten drei Punkte und der Zusatz »und über 1.000 weitere.«

  »Viele dieser Cyberwährungen entziehen sich der staatlichen Kontrolle, weil sie von privaten Unternehmen als Parallelwährung herausgegeben werden. Sie sind an keine Sicherheiten oder offiziellen Vorgaben gebunden und können mit Computern generiert werden. Betrug und Diebstahl sind auch dabei gang und gäbe. Bitcoins werden nicht ausgezahlt, Herausgeber der Währungen begeben sich in den betrügerischen Bankrott. Der einzige Vorteil ist, dass dem Taschendieb auf dem Wochenmarkt das Handwerk gelegt wird. Cyberkriminalität hat hingegen Hochkonjunktur. Und wie will sich der digitale Euro dem entziehen?« Ihr Blick in die Versammlung aus Zweigstellendirektoren und den Vertretern anderer lokaler Institutionen offenbarte ihr, dass auch von ihnen keiner so recht an die Solidität und die Unantastbarkeit der künftigen offiziellen Kryptowährung glaubte. Ein zweites Bild der Präsentation listete eine Reihe aktueller Betrugsfälle.

Weitere Bilder, Vortragsteile und eine angeregte Diskussion folgten.

Hörbar atmete Angélica aus. Zufrieden sah sie in die frohen Gesichter ihrer Besprechungsgäste. Ihnen war anzusehen, dass die ausgearbeiteten Lösungen ihr Wohlgefallen fanden.

   »Für das Protokoll fasse ich zusammen. Einvernehmlich haben die Anwesenden die Einführung und die Ausgabe des Grove beschlos-sen, einer Parallelwährung für Einwohner, Besucher und Kunden un-serer Gemeinde.

Die Banken geben ihren Kunden den Grove gegen eine Lastschrift von ihrem Guthaben aus, Fremde kaufen ihn mittels ihrer Kredit- oder Bankkarten. Zurückgegeben wird er bei den hiesigen Banken und dem jeweiligen Kontoinhaber gutgeschrieben. So sind wir unabhängig von Systemausfällen, geringwertige Zahlungen belasten nicht den elektronischen Verkehr, der ja nicht immer über eine Ausfallüberbrückung verfügt, und …« Ein verschmitzter Seitenblick trifft den Vertreter der Restaurant- und Hotelbetreiber. »… Trinkgeld landet wieder direkt beim Kellner und beim Zimmermädchen.«

Als die offizielle Besprechung ihr Ende gefunden hatte, lehnte sich die Bürgermeisterin noch einmal zurück. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Wenigstens müssen wir nicht zum Muschelgeld zurückkehren!«

 

ENDE

 

 

 

 


Esther S. Schmidt

 

lebt in Frankfurt am Main. Seit 2005 ist sie in Zeitschriften und Anthologien vertreten und hat mit ihren Kurzge-schichten bereits mehrere Preise gewonnen. Mit ihren Romanen bewegt sie sich im Bereich der Phantastik. 2016 erschien ihr dystopischer Roman "DIE ZWEITE FINSTERNIS" bei Papierverzierer. 2020 folgte die Fantasy-Trilogie "DIE CHRONIKEN DER WÄLDER" bei dotbooks. Unter Pseudonym hat sie einen Steam-Punk-Roman veröffentlicht. Wir freuen uns, unseren Leserinnen und Lesern eine Kurzgeschichten-Rosine von ihr vorstel-len zu dürfen.       Gute Unterhaltung.

 

 

Die Zehn-Minuten-Romanze

(Urheberrechte & Copyrights © by Esther S. Schmidt)

 

Kaum hat er sie angesprochen, fährt sie die Krallen aus. „Was willst du? Ein Betthupferl? Frag mal die Hühner da drüben.“

Er nippt an seinem Bierglas. „Ist das deine übliche Partystimmung?“

„Ich bin nur anstandshalber hier, wegen Susanne. Um elf zisch ich ab.“

„Dann kannst du die nächsten“, er schaut auf die Uhr, „zehn Minuten in einer Giftwolke sitzen, oder sie genießen.“

Sie schnaubt. „Du lässt dich nicht abwimmeln, was?“

„Besser ein paar Minuten mit jemandem geredet, als ins Bier gestarrt.“

„Ach wirklich? Hast du ne Geschlechtsumwandlung hinter dir?“

Er lächelt. „Ich weiß schon: Alle Männer sind Schweine.“

Jetzt lässt sie die Schultern hängen und schiebt sich auf den Stuhl. „Tut mir leid. Ich sollte meinen Frust nicht an Leuten auslassen, die nichts dafür können.“

„Beziehungskrise?“

„Die Krise haben wir hinter uns. Gestern ist er ausgezogen. Hätte ich den Mistkerl doch nie kennengelernt!“

„Harte Worte.“

„Was erwartest du, wenn eine Beziehung kaputtgeht? Besser, man hätte sie nie gehabt!“

„Ich weiß nicht.“ Er setzt das Glas ab. „Stell dir mal vor, wir beide ...“

„Träum weiter!“

„Hey, wir haben zehn Minuten!“

„Neun!“

„Reicht für ne Beziehung.“

Jetzt muss sie lachen. „Hast recht. Ist ne schnelllebige Zeit.“

„Also.“ Er stützt die Ellenbogen auf. „Die Kennenlernphase. Ich bin Klaus.“

„Claudia.“

„Was machst du so?“

„Interessiert dich doch eh nicht.“

„Gehört aber zu ’ner Beziehung, auch ’ner kurzen. Sonst wär’s nur ne Bettgeschichte.“

Sie hebt die Brauen. „Also doch.“

Er lacht. „Du traust mir viel zu, in zehn Minuten!“

„Acht!“

„Also, ich bin Projektleiter bei einem Autozulieferer. Und du?“

„Arbeite in einer Bank. Personalabteilung. Seit sieben Jahren.“

„Ah, eine von der standhaften Sorte. Okay, Phase zwei: Wir finden uns sympathisch und verabreden uns. Kino?“

„In acht Minuten?“

„Nur mal so, in Gedanken durchgespielt.“

Sie zögert, dann zuckt sie mit den die Schultern. „Warum nicht?“

„Und welcher Film?“

„Was Romantisches, mit Brad Pitt.“

Er verdreht die Augen. „OK. Aber nur, weil ich auf was anderes hoffe, wenn du in romantischer Stimmung bist.“

„Klappt aber nicht.“

„Mist!“ Er grinst und trinkt. „Also: dritte Verabredung. Essen beim Italiener.“

Sie stützt das Kinn auf die Hand. „Bei Kerzenlicht.“ Dann richtet sie sich auf. „Ich bekleckere meine Bluse mit Tomatensoße. Echt peinlich.“

„Ich komme mit, um dir beim Auswaschen zu helfen.“ Über den Rand des Glases sieht er sie an, eine Braue gehoben.

Sie zögert, aber dann gibt sie nach. „OK. Heißer Sex auf der Damentoilette.“

„Ahhh!“

„Und dann meldest du dich drei Tage nicht!“

„Ehrlich?“ Er sieht sie schuldbewusst an. „Mein Bruder hatte einen Motorradunfall. Ich bin sofort nach Hamburg hoch.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Es geht ihm schon besser. Lass uns am Wochenende ins Grüne fahren. Als Entschuldigung gewissermaßen.“

„Wie schön!“ Sie lächelt und stützt wieder das Kinn auf. „Spazierengehen im Wald.“

„Eine Bank auf einer Wiese, grandioser Blick ins Tal.“

„Dein Arm um meine Schulter.“

„Dein Haar an meiner Wange.“

Sie richtet sich auf. „Wir lieben uns auf der Wiese?“

„Fast – aber dann kommt dieser Regenschauer.“

Sie kichert. „Wir retten uns in einen muffigen Dorfgasthof.“

„Jägerschnitzel mit Pommes.“

„In den nächsten Wochen sehen wir uns jeden Abend. Der Abend ist unser Liebesnest.“

Er seufzt. „Das geht drei Wochen lang gut, dann fange ich an, mich eingesperrt zu fühlen.“

„Und ich würde auch gern mal wieder auf ein Konzert oder eine Ausstellung ansehen.“

„Dafür bin ich abends viel zu kaputt.“

Sie verschränkt die Arme. „Aber fürs Fitness-Studio reicht’s noch!“

„Das ist was anderes. Dabei kann ich abschalten.“

Ihr Blick wird traurig. „Also langweilige gemeinsame Abende vor dem Fernseher.“

„Der Sex wird Routine.“

„Wir fangen an, unsere jeweiligen Freunde zu vermissen.“

„Deine kann ich eh nicht ausstehen.“

„Wie kannst du sowas sagen?!“

„Wenn’s doch wahr ist!“

Sie seufzt. „Aber es war so nett mit uns, am Anfang. Ich möchte die Beziehung retten. Ich komme mit ins Fitness-Studio.“

Er druckst herum. „Ist mir nicht so recht.“

„Warum?“

„Na ja, da ist diese Rothaarige ...“

„Was?!“ Sie richtet sich auf. „Hast du mich etwa ...?!“

„Natürlich nicht! Aber sie weiß nicht, dass ich ne Freundin hab.“

„Du Mistkerl!“

 

Er lässt den Kopf hängen. „Tut mir echt leid. Machst du mir jetzt ne Szene?“

Sie denkt nach. „Nein. Ich heul mich bei einer Freundin aus, dann gehen wir aus.“

„Wir beide?“

„Nee, meine Freundin und ich. Auf eine Vernissage. Ich fühle mich seit langem mal wieder richtig lebendig.“

„Am nächsten Tag will ich wissen, wo du gewesen bist. Habe den ganzen Abend versucht, dich zu erreichen.“

„Das geht dich gar nichts an! Und die nächsten Abende hab ich auch schon was vor!“

„Na gut, was du kannst, kann ich schon lange! Wir sehen uns bloß noch alle paar Tage.“

„Manchmal telefonieren wir.“

„Aber auch das nur kurz.“

„Irgendwie komme ich ganz gut ohne dich klar.“ Sie schaut auf die Uhr. Noch eine Minute bis Elf.

Er senkt den Kopf und dreht das leere Glas zwischen den Fingern. „Du, Claudia. Ich muss dir was gestehen. Du weißt noch, die Rothaarige aus dem Fitness-Studio? Ich glaube, ich hab mich verliebt.“

„Das war ja abzusehen.“

„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“

„Wirklich? Zwischen uns ist es doch schon lang nicht mehr so wie am Anfang.“

Er hebt den Blick. „Wo sind wir falsch abgebogen?“

„Es funktioniert einfach nicht mit uns. Das ist alles. Niemand hat Schuld. Ich bin froh, dass du so ehrlich warst.“ Sie steht auf und greift nach ihrer Handtasche. „Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.“

 

Unter dem Jackenstapel auf dem Bett wühlt sie ihren Mantel hervor, dann geht sie zu Susanne.

„Du gehst schon?“

„Ja, ich muss. Aber danke für die Einladung.“

„Ich hoffe, es konnte dich ein bisschen ablenken. Komm, ich bring dich raus.“

Als sie die Wohnungstür öffnen, kommt Klaus mit einem frischen Bier aus der Küche. „Oh, hallo Claudia.“

„Hallo.“ Sie dreht verlegen einen Knopf an ihrem Mantel.

Susanne ist erstaunt. „Ihr kennt euch?“

Klaus nickt. „Sind mal miteinander gegangen.“

„Das wusste ich gar nicht!“

Klaus hebt sein Glas und lächelt. „War ne gute Zeit. Kurz, aber intensiv.“

Und plötzlich lächelt Claudia auch. „Stimmt. Möchte keine Minute davon missen.“

 

 

ENDE

 

 

Esther S. Schmidt hat einiges zu bieten:

 

https://www.esther-s-schmidt.de/

https://www.facebook.com/Esther.S.Schmidt.Autorin/

https://www.instagram.com/esther_s_schmidt/

 

 

 

 


Doro Gorges, Autorin, Fotografin und Malerin, 1965 in Unkel am Rhein geboren und im sonnigen Bad Honnef/Rhein am Fuße des Siebengebirges aufgewachsen, schrieb bereits in ihren Jugendjahren gerne und erfand für ihre jüngeren Schwestern oft kleine Märchen und Gedichte, die im spontanen Erzählen entstanden. Noch heute schreibt sie täglich produktiv und ihre Geschichten und Märchen entstehen im Schreibfluss, ohne dass sie selbst das Ende einer Geschichte im Entstehen  schon selbst kennen würde. Doro wurde schon als junges Mädchen von ihrer geliebten Klassenlehrerin eine glänzende Zukunft als Schriftstellerin prophezeit. Ihre Aufsätze zählten immer zu den besten und in Kunst wurde ihr Talent schon sehr früh beachtet. Doro schreibt nach langen und entbehrungsreichen Jahren als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen mit Handicap und als über Jahrzehnte pflegende Tochter ihrer Eltern bis zum Tod, nun seit gut 11 Jahren wieder täglich, weil es einfach ihr Innerstes ist. Nebenbei fotografiert sie professionell, fertigt digitale Kunstwerke und malt mit Leidenschaft in Öl und Acryl. Sie mag gerne als Allrounderin bezeichnet werden, zumal ihre Ausstellungen immer einen Erfolg darstellen. Dennoch bezeichnet sich Doro vorrangig stets als Schriftstellerin, weil ihre anderen Kunstfertigkeiten nur weiter dem Ausdruck und Feingefühl dienen  mitzuteilen, was sie alles zu erzählen hat! Doro vergaß nie den Wert um Märchen, denn auch ihr waren wunderbare Geschichten oftmals Trost und Anregung, in fremde Welten eintauchen zu können, wann immer ihr danach war.

ELLINORS TRAUM

(Urheberrechte & Copyrights © by Doro Gorges)

 

Ellinor machte sich heute ganz besonders schön. Jeden Tag legte sie Wert auf ihr Äußeres und nie sah sie belanglos oder gar ungepflegt aus. Immer noch liebte sie luftige, leichte Kleider mit Blütenmotiven auf hellem Grund oder in den Farben Rosa, Grün, Rot, Weiß und Orange. Sie presste sich zu keiner Zeit in Mieder, liebte verspielte und lose Wäsche. Aber der heutige Tag war etwas Besonderes, ohne dass sie es hätte laut herausschreien mögen. Glück ist empfindsam und braucht keinen Lärm. Lieber summte sie gerade leise eine kleine Weise vor sich hin und versuchte sich an den gesamten Wortlaut des kleinen, alten Liedchens zu erinnern. Es war ihrer Beider liebstes kleines Lied gewesen, denn es erzählte von all dem, was sie füreinander fühlten. Nur dieser Refrain fiel ihr gerade ein, weil es immer ihre Lieblingsstelle des Liedes gewesen war. Als junges Mädchen hatte dieser kleine Liedtext ihr in schweren Zeiten oft Mut gegeben und in verliebten Augenblicken hatte er sie frei und fröhlich tanzen lassen. Wie gerne hatte sie immer getanzt, auch ganz für sich alleine.

Er war ein wunderbarer Tänzer gewesen, hatte sie im Tanz zu führen gewusst wie eine nur für ihn straff gespannte Feder. Diese ihre Melodie passte sich gefühlvoll jeder ihrer Stimmungen an. Oder griff die Melodie jedes ihrer tiefen Gefühle auf? Was war sie doch für ein lebensfrohes, vergnügtes Mädchen gewesen, eigenwillig und völlig arglos. Einzig nur glücklich hatte sie auf ewig mit ihm bleiben wollen!

Sie war am heutigen Tag 75 Jahre alt geworden und man sah ihr immer noch ihre ehemals so große Schönheit an. Sie saß an diesem lichtdurchfluteten Frühsommertag bei weit offenem Schlafzimmerfenster vor ihrem etwas abgegriffenen Schminktisch und schaute verträumt in den Spiegel, während sie ihr langes, weißes, seidiges Haar bürstete, bis es nur so glänzte. Ihre Gestalt war zierlich. Nie hatte sie die Kleidergröße 34/36 überschritten. Von draußen strömte Lilien Duft herein und auch der Flieder in seinem Verblühen setzte noch Duftakzente. Im Verblühen schenkte er noch alles her, was ihm möglich war, weithin auszusenden.

So aufgeregt war sie nicht mehr gewesen, seit sie ein ganz junges Ding gewesen war. Sie lächelte ihrem Spiegelbild wohlwollend zu und fühlte sich wieder ganz jung, unbeschwert und voller Vorfreude. Ihre so grünen Augen strahlten ihr wie Sterne hell entgegen. Es blitzte vor lauter Übermut nur so darin. Sie steckte ihr so zartes Haar nur ganz locker hoch, sodass sich sogleich wieder einige Strähnen ganz mädchenhaft lösten. Es hatte heute die Farbe von strahlendem Weiß, mit einigen wenigen Silberfädchen darin. Früher fiel es ihr rotblond und schön gewellt bis tief in den Rücken. So lose hochgesteckt, nicht wirklich gebändigt, mochte er ihr Haar am liebsten. Die nun veränderte Haarfarbe mochte er ihr bestimmt gleich verzeihen! Hauptsache alle Erinnerungen von damals knüpften jetzt endlich ans heute wieder an! Außerdem hatte auch ihre gemeinsame Liebe selbst nie gebändigt werden wollen! Ihre Liebe war immer jung und wild geblieben, hatte sich bis zuletzt geborgen und doch immer wie frisch verliebt angefühlt! Was sollte das Alter daran zerstören können, was sich im Herzen weiter jung anfühlt?!

Indessen strömte einfach zu herrlich der junge Rosenduft aus dem Garten herein. Ein Rosenduft von der Wärme der Sonne lockend herausgekitzelt und erhitzt. Um vieles zauberhafter nun noch, da alles in ihr selbst vor Vorfreude nur so glühte! Sie atmete den Rosenduft so tief ein, als wenn sie ihn zu ihrer Verabredung mitnehmen könnte. Doch da fiel ihr ein, dass sie noch seinen Lieblingsduft auftragen sollte. Sie sprühte sich das besondere Parfum, das er immer so sehr an ihr geliebt hatte, auf Haar und Dekolletee. Jedes Weihnachtsfest hatte er ihr einen Flakon dieser Marke geschenkt. Dies war schon fast eine stille und feste Abmachung gewesen, neben einer weiteren Überraschung, die sie dann tatsächlich nie hatte vorausahnen können. Er konnte einfach wunderbar beschenken und sie immer wieder überraschen. Niemand war wie er! Wie oft hatte er sie zärtlich am Ohrläppchen geknabbert und gehaucht, dass sie selbst wie eine Rose sei, um sie dann liebevoll mit seinen fast violett-blauen Augen anzuschauen. Sie war wie im siebten Himmel mit ihm.

Sie stand nun auf, drehte sich noch einmal vor dem Spiegel, sodass ihr zart-lindgrünes Chiffon Kleid nur so wehte. Dann drückte sie die Klinke ihrer Schlafzimmertüre herunter, um schnell hinaus zu huschen und ohne noch einen weiteren Blick zurückzuwerfen.

Sie verließ fast Flügel leicht das kleine Haus, ging durch den bunten Bauerngarten, den sie mit aller Hingabe pflegte. Jetzt flink hinaus durch das grün gestrichene Gartentor. Sie ging dann weiter die geliebte, uralte Lindenallee entlang in Richtung des einsamen Weihers, wo sie sich nach des Tages Arbeit immer am liebsten getroffen hatten. Ein verwunschener Ort für Verliebte eben!

Rechts und links am Weg blühten hellblaue Skabiosen und roter Klatschmohn ließ einzelne Blütenblätter in der leichten Brise flattern und wie zum Geschenk einige längst lose weit fliegen. Im Halbschatten der knorrigen Linden standen zudem noch letzte kleine Gruppen von Maiglöckchen und verströmten ihren Duft. Margeriten, ihrer Meinung nach die fröhlichsten aller Blüten, streckten auch alle paar Schritte ihre gelb-weißen Köpfe nach oben. Sie nickten ihr wie zum Gruße zu, während sie selbst wie eine Blüte in Lindgrün und Weiß vorbeihuschte. Alles nahm ihr so heller Blick auf, obgleich sie forsch und leichtfüßig weiterlief. Nichts bleibt Verliebten verborgen.

Wie oft war sie früher in wilder Eile ganz ungeduldig gewesen, sich möglichst schnell hübsch zu machen, um sich so bald wie möglich in seine langen, schlanken Arme werfen zu können. Seine Arme, die sich schon mit einem strahlenden Lächeln seines Blicks sogleich öffneten, wenn sie fröhlich auf ihn zulief! Sie hatte es nie gezählt, aber diese Nachmittage waren ihr stets heilig geblieben. Sie glitt fast wie im Traum durch die von Licht und Schatten durchwebte Allee, sog den Duft der blühenden Linden ein. Dieser Duft hatte immer schon eine schier magische Wirkung auf sie ausgeübt. Beinahe noch sinnlicher als der Rosenduft machte er sie schier taumelnd vor Glück. Leichtfüßig wie ein junges Mädchen eilte sie bis zum Ende der Allee. Von da aus konnte man schon den hellgrünen Weiher glitzernd auftauchen sehen. Und da stand er, ihr Liebster, in einem leichten, hellen Sommeranzug und mit dem lustigen, gestreiften Strohhut, den sie ihm irgendwann einmal begeistert geschenkt hatte. Er sah so gut aus wie immer, sogar noch jünger und besser, als sie ihn in Erinnerung durch alle Zeit im Herzen getragen hatte.

Er kam ihr mit seinem so wunderschönen Lächeln ein paar Schritte entgegen, öffnete sogleich seine eher zartgliedrigen Arme, die dennoch nie die rechte Stärke missen ließen. So wartete er auf sie. Sie schritt schneller, ja lief ihm nun die letzten Schritte entgegen und hörte sich selbst hell dabei auflachen. Er fing sie sofort auf und wirbelte sie zärtlich an sich geschmiegt herum. Sie spürten einander und atmeten ihren so lang vermissten Duft. Glück ist solch eine Liebe, die mit allen Sinnen sich immer wieder erkennt und genießt!

Sie setzten sich auf die einzige Bank am See. So viel hatten sie sich jetzt mit tiefen Blicken, feuchtwarmen Händen und sanften Lippen zu erzählen! Und als ob die Menschen des Ortes ihr Wiedersehen heute nicht stören wollten, blieben sie allein. Es gab keine Fremdheit, nur das Staunen, wieder genauso tief zu fühlen und zu erfahren, wie immer und zuvor! Nichts hatte sich verändert zwischen ihnen, wohl eher im Gegenteil! Ihre Freude war absolut! So sehnsüchtig sich vermissend, vibrierten sie sich jetzt entgegen. Alles war jetzt umso inniger zwischen ihnen an Ausgesprochenem, gefühltem und Erfahrbarem, dem in der Jugend oft keine Zeit geblieben war, lange nachzuspüren. Sie atmete seinen leichten Zedern und Moschus Duft ein, erkannte ihn sogleich wieder. Nie mehr würde sie diesen Duft vermissen wollen, nie mehr seine Nähe, seine warme Stimme und liebende Wärme! Er knabberte an ihrem Ohrläppchen, so wie damals. Wie sehr liebte sie den sonnen erwärmten Duft seiner zarten Männerhaut! So sehr liebte auch er ihre helle, sommersprossige Haut, besprüht mit dem Rosenparfum seiner Wahl! Liebe ist ein Riechen, Schmecken, Fühlen und Erfahren all dessen, was schon immer zwei Menschen sich hat finden lassen! Liebe ist zeitlos, ewig, ohne jedes Altern, wenn es einfach die einzig wahre Liebe ist! Nichts verliert sich davon durch Zeit und Raum! Wie jeder Baum seine Jahresringe stolz in sich verborgen trägt, ist die Liebe ein ständiges Wachsen und Reifen im Inneren, nur für die Liebenden fühlbar!

Sie saßen lange in der nur sehr langsam untergehenden Sonne. Der gesamte Tag war lang und licht gewesen und wandelte sich nun von einem strahlenden Gelb in ein herrliches Orange-Rot. Warme, orangefarbene Lichtfinger streichelten ihre Gesichter. Wie sie sich so anblickten, miteinander sprachen und schwiegen, war ihr gemeinsames Schweigen oft noch beredter. Sie hielten sich ihre Hände, wenn seine Hände ihr nicht gerade zärtlich eine Haarsträhne hinters zierliche Ohr zurücksteckten oder ihr kleines Gesicht streichelten. Mit geschlossenen Augen erfuhr sie seine wunderbare Zärtlichkeit. Wie sie ihn streichelte, sein schönes Gesicht, seine hohen Wangenknochen, seinen Hals herab, seine sanften Schulterblätter, ausgeprägten Schlüsselbeine, seine leicht behaarte Brust, da war es ihr, als staune er sie mit seinen tiefblauen Augen an, wie damals mit gerade erst 17 Jahren neugierig, erwartend und voller ungewohnter Lust.

Irgendwann, sie hatten das Gefühl, dieser halbe Tag sei ein ganzes Leben gewesen, funkelten die ersten glitzernden Sterne auf mittelblauem Samt über ihnen. Die Lichter des Dorfes erschienen weit entfernt von ihnen am Horizont. Ein langer und inniger Kuss, das leise Versprechen, dass dieser Abend sie nun nie mehr trennen würde, nie mehr. Sie kicherten wie damals als halbe Teenager noch.

Beide gingen eine komplette Runde um den Weiher. Da er nicht wirklich groß war, gingen sie bewusst langsam, Hand in Hand, um diese Runde nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens nicht zu schnell zu beenden. Sie zählten ihre Schritte, aber mehr noch fühlten sie ihren Herzschlag füreinander. Beide hatten wieder Schmetterlinge im Bauch wie zuletzt seinerzeit bei den allerersten Treffen.

Am Ende ihrer Runde um den See fassten sich Ellinor und ihr Liebster noch einmal an beiden Händen, küssten sich und schauten sich lange in die Augen, bis sie sich sanft, aber bestimmt von seinen Händen löste. Sie streifte sich die flachen Sandalen von ihren nackten Füßen und stieg fröhlich lachend ins kühle Wasser hinein. Sie fühlte sich nun völlig eins mit ihm, mit der Welt, mit sich und den Sternen am Himmel, der sein helles Zelt nun in tiefes Dunkelblau gewechselt hatte. Glücklich prustend und lächelnd schwamm sie etwas hinaus, während er ihr gemeinsames Lied für sie summte. Als sie sich etwas schwerfällig mit dem nassen Kleid auf den Rücken drehte und mitten auf dem Weiher trieb, sah sie beglückt nach oben in den Nachthimmel. Das Lied, gesungen nun vom Liebsten, ließ sie selig schmunzeln. Oben am Himmel sah sie zwischen Nachtblau und Diamanten sein Gesicht mit diesem beständigen Jungen Lächeln frei schweben. Sein Himmelsblick senkte sich zu ihr herab und ob sie schon schlief oder noch wachte, als sie ihm dann entgegenflog, wird ihr persönliches Geheimnis bleiben.

Für uns ist der Sternenhimmel die Gewissheit von Unendlichkeit. Sterne sind die pulsierenden Herzen der Ewigkeit!

Man fand sie im strahlenden Morgenrot tot im Teich treibend. Ihr Haar hätte ausgesehen wie ein goldenes Vlies und ja, sie sah nicht aus, als ob sie gelitten hätte. Sie hatte sogar ein Lächeln auf den geschlossenen Lippen. Ihr Gesicht war völlig entspannt. Kein Todeskampf hatte seine Spuren darauf hinterlassen. Es strahlte vielmehr weise Zufriedenheit und Ruhe aus. Ihr zartgrünes Chiffon Kleid, was ihr bekannt Bestes gewesen war, umfloss sie gemeinsam mit den grünen Wasserpflanzen ringsum. So jung sah sie gerade wieder im Tode aus. Was sie an diesem Sommernachmittag vorgehabt hatte, bleibt im Ort wohl ein ewiges Rätsel. Von der absoluten Schönheit ihrer Wirkung –auch im Tod – würden die Geschichten in der gesamten Gegend wohl nicht mehr verstummen.

Am Tag zuvor hatte der Bäcker sie noch frühmorgens gesehen. Sie kaufte ein frisches Roggenbrot und schien guter Dinge. Nein, verwirrt hätte sie nicht gewirkt. Sie hätte lediglich strahlend erzählt, dass sie nach langer Zeit einen guten Freund wiederträfe, worauf sie sich sehr freue. Morgen im Laufe des Tages sei es so weit. Dann war sie fröhlich gegangen, mit einem lieben Lächeln auf den Lippen, wie der Bäcker sagte. Gut hätte sie ausgeschaut …

Sie war seit Jahren Witwe, nachdem ihr Mann auf einer Forschungsreise nach Süd-Ost-Asien als verschollen gegolten hatte. Er hatte diese für ihn so wichtige Expedition unbedingt machen müssen. Sie versprach endlich Erfolg nach so langen Studien. Was für eine Chance! Ellinor hatte gewusst, dass sie ihn ziehen lassen musste. Sie hatte damals einen letzten Brief von ihm erhalten. Er hoffte von ganzem Herzen, bald die Heimreise antreten zu können. Sein Herz zerspränge schier vor Freude über das baldige Wiedersehen. Einige Tage später erhielt sie dann die Nachricht, dass er von einer spontanen Erkundung nicht aus dem Urwald zurückgekehrt sei. Sie hatte lange auf den Geliebten gewartet und nie mehr geheiratet.

Irgendwann hatte sie das Schwarz abgenommen und kleidete sich fortan weitaus farbiger, als es ältere Damen oftmals tun. Sie hatte ihre ganz eigene Art zu trauern, eher so, als bliebe sie die ewig junge Frau, die er damals zurückließ. Einfach zauberhaft würde Ellinor nun in allem Gedenken bleiben. Eine besondere Dame, die sich nichts vorschreiben ließ, nicht einmal den Zeitpunkt ihres Sterbens.

Auf ihrem Küchentisch fand man einen kleinen Zettel, worauf Ellinor mit ihrer feinen und sauberen Handschrift hinterlassen hatte:

„Das Warten hat endlich ein Ende. Ich will nicht mehr auf seine Wiederkehr warten oder auf meinen Tod. Ich werde ihm entgegengehen, wie schon so oft im Traum! Ich bin unendlich glücklich!!!

Ellinor“

 

ENDE

 

 

 

 

 


Streifschuss: 

Vom 11. November 2021

 

Anlass:

verkriecht euch endlich wie früher in die letzten Winkel

– ihr alten Deppen

 

 

 

Frau Heidenreich ist cringe

 

(von Bernhard Horwatitsch)

 

Viel wurde in letzter Zeit über die ekligen alten weißen Männer geredet. Es wird daher Zeit, über die ekligen alten weißen Frauen zu reden. Zum Beispiel Elke Heidenreich. Im Oktober äußerte sie sich in der Talkshow von Markus Lanz über die Sprecherin der jungen Grünen Sarah Lee Heinrich wie folgt: „Was sind alle immer sofort beleidigt? Um mal bei diesem Mädchen zu bleiben: Sie hat überhaupt keine Sprache. Sie kann nicht sprechen. Das sind Kinder, die nicht lesen. Das ist diese Generation, von der ich immer wieder merke, wie sprachlos sie ist, wie unfähig, mit Worten umzugehen.“

Nun verteidigte sie diese rassistische, kleingeistige und oberlehrerhafte Äußerung in Geschichts- vergessener Bravour in einem Interview für die NZZ.

 

Früher, so Frau Heidenreich (schon dieser Name hat was vom Antichrist), sei man gebildeter gewesen, habe kritisch gedacht. Heute dagegen pflege man eine Kultur des Beleidigt seins. Ihre Heidenreichigkeit sagte es so: „…, wir hatten eine andere Kultur, eine andere Bildung und andere Absichten. … Das war die Zeit, wo wir alle in das Alter kamen, unsere Eltern zu fragen: Was habt ihr im Zweiten Weltkrieg gemacht? Als die Dinge endlich aufgearbeitet wurden, wir uns von Obrigkeiten, die eventuell darein verwickelt waren, nichts mehr sagen ließen. Heute ist das so, dass wir eine hysterische Beleidigt-Kultur haben. Das heißt, jeder, der nicht sofort in jedem Satz mitbedacht wird – schwarz, einbeinig, blind, taubstumm, Migrationshintergrund, was weiß ich: bisexuell –, ist beleidigt, weil er in diesem Satz nicht erwähnt wurde. …Diese Betroffenheits-Kultur finde ich völlig falsch.“

 

Diese von Elke so gefeierte 68er-Zeit war in Wirklichkeit eine Zeit der charakterlosen Indoktrination. Eine Bande Verrückter ermordete regelmäßig Politiker und akzeptierte in ihrem paranoiden Systemkampf auch zivilen Kollateralschaden. In den Verbänden herrschte Meinungsdiktatur und niemand durfte etwas gegen Marx und Lenin sagen. Außer er war bei der CSU angestellt, dort durfte man Marx und Lenin nicht einmal erwähnen. Kurz: Eine Diskurs freudige Demokratie war das in dieser Zeit hinten und vorne nicht. Wenn man sich eine Bonner Bundestagssitzung ansieht und diese nach Zigarrenqualm und altem Männersmegma stinkende Brut, dann ist es wirklich sonderbar, dass eine Frau diese Zeiten verherrlicht und eine anständige Zeitung wie die NZZ das auch noch abdruckt.

 

Ach Heidenreich, auch das Reich in der Heide spricht für sich – was für ein Röslein. Eine alte Frau, weiß, privilegiert und völlig zu Unrecht eine Art Literaturpäpstin (ihr Literaturgeschmack pflegt eher guilty pleasures zu präferieren), eine solche Schwätzerin wirft noch einmal ihren Mangel an Charme in die mediale Waagschale und wird dann mit einem großen Puff wie aus dem Zauberlehrling verschwinden, oder sich in ein weißes Kaninchen verwandeln. Ich hoffe es zumindest. Denn ich kann diese neurotische Abwehr gegen eine neue geschlechtsneutrale Sprachsensibilität nicht mehr anhören. Wenn hier jemand nicht sprechen kann, dann ist das doch Frau Heidenreich, die welke Elke, die welche nicht mehr mitkommt mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Daher bin ich hier mal ganz politisch unkorrekt und bezeichne die alte, weiße Frau Heidenreich als Sprachglucke – da sie mit ihren Fussel Haaren schon ein wenig eine täglich Eier legende und gackernde Kreatur erinnert. Tut mir leid. Echt. Ich bin ja auch keine Schönheit und das ist auch gar nicht nötig. Aber dennoch: ist ein wenig Demut zu viel verlangt? Denn niemand opfert mehr der Gottheit ihrer Pracht, ist doch ihre Sprache teils nichts und nichtig geworden und erreicht lange nicht mehr den Glanz früher Tage. Das Vorrecht der Jugend ist es von jeher, lauter sein zu dürfen. Wenn aber nun alte weiße Frauen, laut schreiend, durch die mediale Landschaft stampfen, dann empfinde ich Scham. Frau Heidenreich ist cringe.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 


Nicole Kojek resümiert: 

 

„Wie kommt man nur auf so eine Geschichte?

 

Ich habe häufig Träume, die viele vermutlich als „Albträume“ bezeich-nen würden. Und immer mal wirft mich einer dieser Träume in einem Maße aus der Bahn, dass ich mir denke: „der ist gruselig/absurd genug, um niedergeschrieben zu werden.

 

 

Mein Kopf hat dann schon die ganze Denkarbeit geleistet und ich muss es nur noch schreiben. In der Regel sind das die Kurzgeschichten, mit denen ich am zufriedensten bin. Das Bild (siehe Geschichte), stammt von meinem Eheschatz. Ich beschreibe die Monster in meinem Kopf genau genug und gebe erst Ruhe, wenn das Bild dazu passt. Meiner Meinung nach ist dieses hier sehr gut gelungen, urteilen Sie selbst!“

„MONSTERJAGD“

 

(Urheberrechte und Copyrights © by Nicole Kojek)

 

 

„Wie lange noch?“

Andrea legte das Fernglas beiseite und schaute zu Chris.

   „Die Schicht hat gerade erst angefangen“, versuchte sie, ihrem Kollegen zu erklären.

Es war verschwendete Mühe. Chris hatte bereits nach zehn Minuten angefangen, nervös auf dem Armaturenbrett zu trommeln, seit einer halben Stunde stellte er alle fünf Minuten dieselbe Frage, als sei er ein kleines Kind auf der Fahrt in den Urlaub.

   „Sicher? Ist die Uhr vielleicht einfach stehen geblieben, oder …“

„Wir sitzen hier gerade einmal zwei Stunden.“

Chris murrte.

   „Warum hat der Chef uns überhaupt hergeschickt? Er kann nicht ernsthaft glauben, dass da etwas dran ist …“

   „Weniger beschweren, mehr beobachten“, ermahnte Andrea.

Sie hob gerade wieder das Fernglas an, da hörte sie Chris erneut trommeln.

   „Still sitzen ist nicht so deine Stärke, oder?“, hakte sie nach.

„Nicht, wenn ich den Grund dafür nicht verstehe. Ein paar Leute meinen, sie haben hier nachts einen seltsamen Schatten gesehen. Und deshalb müssen wir uns hier den Allerwertesten abfrieren? Es hat fast null Grad draußen!“

   „Jedes Mal, wenn ein Anruf wegen des Schattens bei uns einging, wurden im Umkreis tote Tiere gefunden.“

   „Vögel, Eichhörnchen, Ratten …, na und?“

Andrea schmunzelte.

   „Wie lange lebst du schon in Elizabethtown?“

„Du weißt, dass ich erst vor drei Monaten in dieses Kaff versetzt wurde. Warum?“

   „Hast du vorher schon einmal in der Gegend gearbeitet?“

„Was soll diese Fragerei?“

Andrea schaute aus dem Seitenfenster des Autos.

   „Die Menschen hier sind abergläubisch, sie erzählen sich viele alte Geschichten.“

   „Ammenmärchen“, schnaubte Chris.

„Mag sein, aber die Leute hier glauben daran. Und wenn plötzlich vermehrt Tiere sterben, dann erfinden sie die interessantesten Theorien. Der Chef versucht, solche Gerüchte im Keim zu ersticken. Deshalb sind wir hier.“

   „Ich wusste nicht, dass die hiesige Polizei sich an Monsterjagden beteiligt.“

   „Ich nehme an, dass wir eine Wildkatze erwischen werden.“

„Na super“, brummte Chris und lehnte sich zurück.

 

Es war stockdüster. Es war Andrea ein Rätsel, wie jemand hier einen Schatten gesehen haben wollte. Sie selbst konnte die Gebüsche kaum von dem Rest des kargen Feldes unterscheiden. Wer lief um diese Uhrzeit überhaupt so nahe an einem Feld vorbei? Sie hatte nicht gewusst, dass hier so viele Jogger lebten, die nach zweiundzwanzig Uhr noch eine Runde im Feld drehten.

   „Weck mich einfach, wenn etwas Spannendes passiert, ja?“

„Im Dienst wird nicht geschlafen, Chris.“

   „Warum nicht? Du weckst mich in zwei Stunden und dann passe ich auf und du schläfst.“

   „Nein.“

„Andrea, komm schon …“

   „Ich sagte ‚nein‘.“

Chris stöhnte entnervt.

„Du bist schlimmer als der Chef.“

 

Wenn Chris so weitermachte, dann würde keiner von beiden diese Nacht seine Arbeit machen können. 

Andrea ließ ihren Blick durch das düstere Feld schweifen.

 

Das Auto war kein optimales Versteck, nicht so weit außerhalb, nicht in einem Feld. Eine Wildkatze würde sich mit Glück nicht daran stören, wenn es sich aber um einen Tierquäler handeln sollte, würden sie ihm sofort auffallen.

 

„Seit wann bist du hier? Also auf dem Revier?“, unterbrach Chris die Stille erneut.

   „Fünf Jahre.“

 

„Wie oft warst du schon auf Monsterjagd? Wie viele Monster hast du erlegt?“

Andrea drehte sich zu Chris. Er grinste.

   „Spielt das eine Rolle? Solange die Einwohner sicher sind, machen wir eine gute Arbeit. Egal ob wir Mörder, Katzen oder Monster jagen. Du solltest dir das abgewöhnen.“

   „Ich mach doch nur Spaß.“

„Lass das.“

 

Chris antwortete nicht, sondern drehte sich weg und schaute aus dem Beifahrerfenster. Das Gespräch war damit wohl beendet und Andrea konnte endlich ihrer Arbeit nachgehen. Sie nahm wieder das Fernglas in die Hand und schaute ins Feld.

 

Es war schon spät, schon seit sicher einer Stunde war kein Jogger mehr im Feld gewesen. Vermutlich hatte ihr Auto doch verschreckt was auch immer sie suchten. Vielleicht sollten sie eine Wildkamera aufstellen. Damit würden sie mehr erreichen. Das wäre bei den Temperaturen zumindest besser, als ein Team die Nacht draußen ausharren zu lassen. Das Tierheim würde ihnen sicherlich eine ausleihen. Wenn man darauf nichts sehen würde, könnte man immer noch ein Team schicken, sollte sich die Lage nicht ändern.

„Andrea! Siehst du das?“

Chris deutete aus dem Beifahrerfenster in die Finsternis.

   „Schau dort! Das ist doch keine Katze.“

Andrea lehnte sich über ihn und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Sie sah ihn, den Schatten. Sicherlich hüfthoch, auf allen Vieren.

   „Ein Luchs vielleicht?“, vermutete sie.

„Was machen wir jetzt? Wenn wir aussteigen, verscheuchen wir ihn nur.“

   „Schauen wir erst einmal, wo er hingeht.“

Der Schatten machte einen Satz nach vorne. Dann beugte er den Oberkörper hinunter.

„Er hat etwas erlegt“, flüsterte Chris.

   „Was macht er da?“

 

Andrea runzelte die Stirn. Das konnte keine Katze sein, auch kein Luchs. Der Schatten hielt etwas, vermutlich die Beute, in den Vorderpfoten fest und fraß auf den Hinterbeinen stehend.

„Ich habe ja noch nie einen Luchs fressen sehen, aber ich glaube nicht, dass sie das so machen“, kommentierte Chris.

Andrea nahm das Fernglas erneut an sich und schaute damit zu dem Schatten.

Er stand, oder saß, definitiv auf den Hinterbeinen und hielt etwas in den Pfoten. Sie konnte bei der dunklen Silhouette keine Ohren erkennen.

   „Das sieht von hier eher aus wie ein Affe. Vielleicht illegal von einer Privatperson beschafft und entlaufen …, oder ausgesetzt“, mutmaßte sie.

„Gib mal her.“

Chris nahm sich das Fernglas und schaute durch.

   „Das ist doch niemals ein Affe. Sieh mal die Schnauze an. Ich schau mir das mal aus der Nähe an.“

Chris griff ins Handschuhfach und nahm sich eine Taschenlampe und eine Kamera raus.

   „Du wirst es verscheuchen“, ermahnte Andrea.

„Wenn wir hier nur rumsitzen, bringen wir damit auch niemanden weiter.“

 

Noch ehe Andrea hätte widersprechen können, öffnete Chris das Auto und stieg aus. Damit hatte er natürlich die Aufmerksamkeit des Schattens erhascht. Er huschte davon in die Gebüsche und Chris setzte ihm nach.

   „Sei doch etwas vorsichtiger“, murmelte Andrea.

So, wie Chris hinter dem Schatten her stampfte, stand es außer Zweifel, dass er noch nie ein Tier gesichert hatte. In den großen Städten hatte die Polizei vermutlich Wichtigeres zu tun.

Andrea beobachtete, wie er im Gebüsch verschwand. Vielleicht irrte sie sich und er kam überraschend mit dem Tier zurück.

Immerhin konnten sie nun bestätigen, dass sich tatsächlich ein sehr auffälliges Tier im Feld aufhielt, das nachts kleinere Tiere erlegte. Bei der Größe des Schattens würde es Andrea nicht wundern, wenn die zwei Katzenleichen ebenfalls sein Werk waren.

 

Ob es Ratten gab, die solch gewaltige Ausmaße annehmen konnten? Ratten konnten groß werden und sie konnten ausgewachsene Katzen erlegen. Die Haltung, in der der Schatten gefressen hatte, würde dazu passen und …

 

im Gebüsch blitzte es…

 

„Idiot“, murrte Andrea.

Jetzt hatte er den Schatten vermutlich endgültig verscheucht. Mit etwas Glück würden sie durch die Dummheit immerhin wissen, womit sie es zu tun hatten, wenn das Bild nicht völlig verwackelt und verschwommen war.

Ein greller Schrei ertönte aus Richtung des Gebüsches und hallte über das verlassene Feld.

Chris!

Andrea griff nach ihrer Waffe und stieg aus dem Auto aus.

   „Lass mich los! Lass mich los!!! Hilfe!!!“

Seine Schreie wurden immer lauter, immer verzerrter.

   „Chris?!“

Sie folgte den Schreien, rannte ins Gebüsch. Äste verhakten sich in ihrer Kleidung, sie stolperte beinahe über eine Wurzel auf dem Boden.

   „Runter von mir!“

Seine Stimme wurde greller, höher, seine Worte unverständlich.

Was war passiert? War er gestürzt?

Andrea kämpfte sich durch das Unterholz, bis sie Silhouetten auf einer kleinen Lichtung sah. Etwas Großes lag auf dem Boden, Chris. Und um ihn herum ein, nein zwei weitere Schatten, die nicht zu ihm gehörten. Andrea hatte keine gute Sicht auf die Geschehnisse, sie konnte nicht einfach schießen!

    „Hey!“, schrie sie.

Die Viecher ließen sich nicht von ihm abbringen.

Sie schoss also über sich in die Luft, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Es gelang ihr.

Die Schatten hielten inne.

Sie schoss erneut und endlich ließen sie von ihm ab und verschwanden in die Finsternis. Waren es wirklich zwei gewesen?

Chris wimmerte.

   „Was ist passiert? Geht es dir gut?“

„Meine Augen …, meine Augen …“, stammelte er.

Andrea überbrückte die letzten Meter und kniete sich zu Chris. Sein Gesicht war nass. War das Blut?

   „Kannst du aufstehen? Ich bringe dich in ein Krankenhaus.“

Er ächzte, als sie ihm auf die Beine half. Sie musste ihn stützen.

   „Ich kann nichts sehen … meine Augen …“

„Es wird alles wieder gut. Was ist passiert?“

   „Es sind Monster … es sind Monster … meine Augen …“

Der Weg zum Auto war glücklicherweise nicht weit. Chris musste sich mit immer mehr Gewicht an sie lehnen. Viel länger hätte sie ihn nicht mehr stützen können.

 

Sie setzte ihn auf dem Beifahrersitz ab und machte das Licht an.

    „Oh scheiße“, entwich es ihren Lippen.

Was hatten diese Dinger mit ihm gemacht?

Sein Gesicht war voller Blut, seine Augen zerkratzt. Er musste auch an anderen Stellen verletzt sein, sein dicker Wintermantel war zerrissen und blutgetränkt.

    „Meine Augen …“

„Halte noch etwas durch. Ich fahr dich zum Krankenhaus. Alles wird gut“, redete sie auf ihn ein, während sie den Motor startete.

Das waren keine Ratten. Sicher nicht. Vielleicht doch Affen. Sie hatte schon davon gehört, dass Affen Menschen schlimm zurichten und sogar töten konnten.

Sie machte Blaulicht und Sirene an, obwohl es mitten in der Nacht war. Sie wollte keine Sekunde später ankommen als nötig, nur weil der Verkehr sie aufhielt.

   „Es dauert nicht lange. Gut, dass du jetzt in einem Kaff lebst“, sprach sie weiter.

    „Meine…“

„Bleib wach, hörst du? Was ist passiert?“

Chris antwortete nicht.

    „Chris! Wach bleiben! Wir sind gleich da. Dir wird geholfen.“

Er wimmerte nur.

 

Die nächste große Klinik befand sich etwas außerhalb von Elizabethown. Sie waren binnen weniger Minuten da. Andrea konnte es nicht schnell genug gehen.

   „Wir sind da. Das schaffst du noch. Noch einmal alle Kraft zusammennehmen.“

Andrea hievte ihn aus dem Auto und schleifte ihn in die Notaufnahme.

   „Ich habe einen schwer verletzten Polizisten!“, rief sie, sobald sie die Tür hineinkam.

Sofort lief ihr eine Schwester entgegen, eine andere holte bereits eine Notfall-Liege.

 

   „Name?“

„Chris Balus, dreißig Jahre alt“, antwortete Andrea an seiner Stelle.

   „Herr Balus, wir kümmern uns um Sie, haben Sie verstanden? Sie sind in Sicherheit.“

Er antwortete nicht.

Andrea half ihnen, Chris auf die Liege zu verfrachten. Dann wurde er auch schon durch die Gänge aus ihrem Blickfeld geschoben.

   „Können Sie mir erzählen, wie es zu den Verletzungen kam?“, hakte die Schwester nach.

   „Ich war nicht direkt dabei. Er wurde von irgendeinem großen Tier angegriffen.“

Die Schwester nickte und schrieb etwas auf ihr Klemmbrett.

   „Würden Sie noch kurz warten und das hier ausfüllen?“

Sie reichte Andrea das Klemmbrett.

   „Größe, Gewicht… Blutgruppe …, das kann ich Ihnen gar nicht alles sagen…“

   „Schreiben Sie auf, was Sie wissen. Hat er Familie?“

„Eine Schwester, aber die wohnt in einer anderen Stadt.“

   „Haben Sie die Telefonnummer?“

„Ich nicht, aber der Chef. Ich kontaktiere ihn.“

 

Es war eine lange Nacht im Krankenhaus. Niemand sprach mit ihr, niemand sagte ihr, wie es um Chris stand.

Sie war froh, als ihr Chef endlich kam und die Daten von Chris an die Krankenschwestern gab.

   „Andrea, was ist passiert? Ihr solltet doch nur nachsehen, welches Tier im Feld Unfug treibt.“

   „Ich weiß es nicht. Das Ding… ich weiß nicht, was es war. Chris hat ein Foto gemacht, glaube ich. Es muss irgendein Raubtier sein, das entlaufen ist.“

Ihr Chef schnaubte.

   „Die Leute holen sich heutzutage allerlei Tiere, die man nicht im Haus halten sollte. Wie geht es Chris?“

Andrea zuckte mit den Schultern.

   „Frau Seibert? Hätten Sie einen Moment?“

Andrea schaute zum Chef, er nickte.

   „Ich schau mal nach der Kamera. Auto ist noch offen?“

„Ja.“

Er stand auf und ließ sie mit der Krankenschwester alleine.

   „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Sie sagten, er sei von einem Tier angegriffen worden.“

   „Das ist korrekt.“

Die Krankenschwester wendete den Blick ab.

   „Stimmt etwas nicht? Wie geht es ihm?“

„Wir konnten ihn stabilisieren. Haben Sie das Tier gesehen?“

   „Nein. Es war zu dunkel. Warum diese Fragen?“, hakte Andrea nach.

   „Diese Verletzungen. Ich habe das noch nie gesehen. Wir hatten gehofft, ihn besser versorgen zu können, wenn wir wissen, was für ein Tier das angerichtet hat.“

 

Angerichtet …

 

Das klang nicht gut.

Die Schwester notierte etwas und lief hinter den Tresen.

Für einen Moment war Andrea alleine mit ihren Gedanken. Sie seufzte. ‚Monsterjagd‘ hatte Chris es genannt. Vielleicht lag er da gar nicht so falsch. Was konnte einen Menschen derart zurichten?

   „Andrea, hörst du mich?“, riss die Stimme des Chefs sie aus den Gedanken.

Sie schaute zu ihm.

   „Bitte?“

„Die Kamera ist noch intakt. Ich lasse die Bilder entwickeln. Geh nach Hause, ruh‘ dich aus“, wies der Chef sie an.

   „Aber Chris…“

„Du hilfst ihm nicht, indem du hier rumsitzt und dich zu Tode sorgst. Geh Heim, ich bleibe hier. Und morgen sehen wir weiter. Hast du verstanden?“

 

Er hatte recht, das wusste sie. Aber es gefiel ihr nicht. Sie wollte Chris nicht einfach alleine lassen.

   „Hast du verstanden?“, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck.

Was sollte sie schon antworten? Dass sie lieber in einem Krankenhausgang einschlafen würde, als in ihre einsame Wohnung 

zurückzukehren? Dass sie die Erste sein wollte, die erfuhr, wie es Chris ging?

   „Ich habe verstanden“, murmelte sie und stand geknickt auf.

„Bis später“, sagte sie noch, ehe sie das Krankenhaus verließ.

Sie fand in der Nacht keinen Schlaf. Wie hätte sie auch?

 

Sie sorgte sich um Chris, verstand nicht, was geschehen war, was ihn angegriffen hatte. Und sie machte sich Vorwürfe. Sie hätte es verhindern müssen, hätte die Lage besser einschätzen müssen. Sie war so genervt von Chris gewesen, dass sie nicht genug nachgedacht hatte. Wie hatte sie einfach zulassen können, dass er alleine einem unbekannten Schatten folgt? Warum hatte sie ihn nicht aufgehalten oder zumindest gedeckt?

Warum hatte sie nicht nachgedacht?

Wegen ihrer Unbedachtheit lag Chris nun im Krankenhaus. Sie war die Dienstältere, sie hätte besser reagieren müssen.

Es war ihre Schuld.

 

Am Morgen rief sie zuerst das Krankenhaus an, in der Hoffnung, Informationen aus dem Personal zu holen. Aber sie stieß mit ihren Fragen auf Granit. Man sagte ihr nicht einmal, ob Chris überlebt hatte oder nicht. Vielleicht wusste der Chef mehr und würde sie einweihen. Immerhin war er die Nacht dort geblieben. Es war ein kleiner Trost, aber es half ihr, die Kraft zu finden, die sie brauchte, um ihre Wohnung zu verlassen.

 

Ihr Weg aufs Revier war nicht weit, an diesem Morgen streckte er sich allerdings unerträglich. Immer wieder schaute sie hinter sich. Ihr Nacken juckte, als würde etwas sie beobachten. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen und drehte sich um. Paranoia durch die Geschehnisse und die Erschöpfung.

   „Morgen, Andrea. Der Chef will unter vier Augen mit dir sprechen. In seinem Büro“, wurde sie noch vor dem Eingang von einer Kollegin angesprochen.

   „Danke.“

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen

 

   „Was ist denn gestern passiert? Ich habe gehört, Chris ist im Krankenhaus?“

„Jetzt nicht, Daniela. Bitte.“

Sie schob sich an Daniela vorbei und eilte auf direktem Weg zum Büro des Chefs. Sie legte nicht einmal ihre Tasche ab oder zog sich die schwere Winterjacke aus.

   „Du wolltest mit mir sprechen?“

„Er hat überlebt“, grüßte der Chef sie, als sie das Büro betrat.

Seine Stimme war nicht heiter, auch nicht tadelnd, sondern …, besorgt?

 

Irgendetwas daran schluckte sämtliche Freude an der Nachricht selbst.

   „Er hat überlebt, aber?“, hakte sie nach.

„Abschließen.“

Andrea tat wie befohlen. Sie schloss die Tür ab und setzte sich ihrem Chef gegenüber.

 

Er stützte sein Kinn auf seine Hände und atmete tief durch.

 „Er wird nie wieder sehen können. Das linke Auge wurde ausgerissen, das andere zerstört.“

   „Zerstört?“

„Anders kann ich es nicht beschreiben. Es ist nicht viel davon übrig geblieben. Er hat diverse Schnitt- und Bisswunden. Aber die Augen … das ist das Schlimmste …“

 

Andrea lehnte sich an den Stuhl. Die Nachricht kam leider nicht überraschend. Sie erinnerte sich noch zu gut an das Blut in seinem Gesicht, die tiefen Schnitte an den Augen.

    „Konntest du mit ihm sprechen?“

„Ich habe es versucht, aber …, er ist traumatisiert, stammelt immer dieselben Worte. Es wird Zeit brauchen, bis er sich davon erholt.“

   „Ich verstehe.“

„Das ist nicht der Grund, warum ich mit dir sprechen wollte. Es geht um deinen Bericht.“

 

Andrea runzelte die Stirn. War das sein Ernst? Er wollte JETZT über den Bericht sprechen? Das konnte nicht warten?

  „Du wirst mit keinem Wort diesen Schatten erwähnen, hast du verstanden?“

   „Was? Warum nicht? Das … Ding hat ihm das angetan!“

„Schreib, dass du nicht weißt, was ihn angegriffen hat. Es war zu dunkel.“

 

   „Warum sollte ich das tun?“

 

Andrea krallte sich an ihre Hose. Ihr Herz schlug schnell. Wie sollte so ein Bericht den Geschehnissen gerecht werden?

   „Weil nicht jeder wissen soll, was geschehen ist. Vor allem nicht, solange das Vieh noch frei herumläuft. Wenn die Presse davon Wind bekommt, stürzen sie sich darauf wie die Geier. Wir geben eine Warnung raus, dass die Leute nachts in ihren Häusern bleiben sollen, bis wir das Vieh unschädlich gemacht haben.“

   „Aber …“

„Hier. Vielleicht überzeugt dich das.“

Er schob etwas über den Schreibtisch. Ein Foto?

   „Ist das von Chris?“

„Nur zu, schau es dir an.“

 

Andrea nahm es an sich.

Ihr Magen drehte sich um.

DAS hatte ihn angegriffen?

Es starrte direkt in die Kamera, die Augen kugelrund, rot durch den Blitz. Es hatte kein Fell …, eher schuppige Haut, wie ein Reptil. Und das Maul… Lang und mit Raubtierzähnen bestückt. Es stand auf den Hinterbeinen, hatte eine tote Ratte in den Klauen. Diese Klauen … Andrea konnte den Blick davon nicht abwenden. Sie waren messerscharf. Damit hatte es Chris …,

Sie schluckte.

   „Was ist das?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich will nicht, dass die Bevölkerung davon weiß, bevor wir es getötet haben. Am besten auch danach nicht.“

„Sie“, korrigierte Andrea.

   „Was?“

   „Bevor wir sie unschädlich gemacht haben. Ich habe zwei Schatten gesehen“, antwortete sie.

   „Oh scheiße…“

Noch immer starrte sie auf das Foto.

 

Monsterjagd‘ hatte Chris es genannt …!

 

(Bild von Lee Finnegan Kojek, 2021)


Liebe Leserinnen und Leser, 

ich heiße Isabell Hemmrich, wurde 1985 in Würzburg geboren und wohne heute in einem kleinen Dorf in der Nähe von Straubing in Niederbayern.

2015 wurde bei mir das Asperger-Syndrom diagnosti-ziert, wodurch ich endlich eine Erklärung für meine lebenslan-gen Schwierigkeiten im sozialen Miteinander und all meine kleinen und größeren Eigen-heiten und ›Macken‹ gefunden habe. Seit ich weiß, woran es liegt, dass ich so ›anders‹ bin, fällt es mir viel leichter, gezielt an meinen zwischenmensch-lichen Defiziten zu arbeiten, und ich habe auch ein ganz anderes Verständnis dafür gewonnen, wie ›Neurotypische‹ so ›ticken‹. Allerdings ziehe ich vierbeinige Gesellschaft noch immer der zweibeinigen vor.

Geschrieben habe ich schon immer gern, hatte allerdings lange Zeit nicht den Mut, mit meinen Werken an die Öffentlichkeit zu treten. Nachdem ich mich Ende 2019 schließlich doch dazu aufgerafft hatte, meinen inneren Schweinehund zu überwinden, war ich von der positiven Resonanz überwältigt. So kann ich mittlerweile mit großer Freude auf rund zwei Dutzend Veröffentlichungen in Anthologien zurückblicken. Ganz besonders glücklich bin ich darüber, dass ich inzwischen sogar meinen Traum vom eigenen Buch verwirklichen konnte: Im Mai 2021 ist mein Band der Kurzgeschichten „Wenn des Nachts der Tag erstirbt“ bei Grey Gull Publications erschienen, den ich auch selbst illustrieren durfte. 

Meine literarische Leidenschaft – ob als Leserin oder Autorin – gilt v. a. Krimis und unheimlichen Geschichten jedweder Couleur, von Edgar Allan Poes unsterblichen Meisterwerken bis hin zu modernen Großstadtlegenden wie die von den Black Eyed Children, welche mich zu meinem Wettbewerbsbeitrag „Augen auf dem Hügel“ inspiriert hat. In meiner Eigenschaft als Lektorin für meine Freundin Sibylle Baillon tauche ich aber auch immer wieder gern in die Genres Romantik und historischer Roman ein.

 

Mehr über mich finden Sie auch unter:

 

https://www.greygullpublications.de/isabell-hemmrich

 

Nun wünsche ich Ihnen ganz viel Freude beim Lesen!

Augen auf dem Hügel

(Urheberrechte & Copyright © by Isabell Hemmrich)

 

Wie zwei Totenlichter bewegen sich die gelben Zwillingskegel durch die dunkle Masse des Waldes, tauchen kurz zwischen den Bäumen auf, um im nächsten Augenblick wieder vom schwarzen Schlund des Gehölzes verschluckt zu werden, zwei irrlichternde Seelen, die durch die Finsternis geistern.

 

Ich stehe am Fenster. Mein Atem beschlägt an der Scheibe, während ich beobachte, wie sich die beiden Lichtkegel aus dem Gewirr der Stämme lösen und das Asphaltband der Landstraße aus der Dunkelheit reißen. Der silbergraue Wagen wirkt aus der Entfernung so winzig wie ein Spielzeugauto, das ein unsichtbares Kind durch eine Modelllandschaft lenkt. Wer mag dort unten am Steuer sitzen? Wohin ist er unterwegs?

 

Einsamkeit kriecht in mir empor, während ich mir sinnlose Fragen über einen Fremden stelle, dem ich nie begegnen werde. Hier oben, in meinem kleinen Haus auf dem Hügel, hocke ich wie in einem Adlerhorst hoch über der Welt und ihren Bewohnern. Meistens genieße ich dieses Gefühl der Abgeschiedenheit, doch mitunter überkommt mich eine seltsame Wehmut, wenn ich daran denke, dass der König der Lüfte im Grunde doch bloß ein Einsiedler ist, mittelloser Herrscher über ein ödes Land.

 

Es sind Momente wie dieser, wenn der Abend beginnt, sich ins anthrazitfarbene Gewand der anbrechenden Nacht zu hüllen und das Ticken der alten Wanduhr die Stille zerschneidet wie ein Metronom, das meine verrinnende Lebenszeit in kleine Fetzen hackt:

 

Tick, stehst am Fenster ganz allein …

 

Tack, bald wirst du vergangen sein …

 

Und dann ist da noch diese vage Furcht, die sich in solchen Momenten um mein Herz legt wie eine Schicht aus Eisblumen. Eine lange, lange Zeit würde vergehen, bis man mich fände, wenn …, etwas Unvorhergesehenes geschähe; etwas, das den ruhigen Strom meines Daseins aufwühlen würde wie peitschender Sturmwind.

 

Adler sterben, geht mir eine Zeile aus diesem alten Lied von Udo Jürgens durch den Sinn, und die Ratten gedeih’n …

 

Ein Seufzer entschlüpft meinen Lippen, und wieder bewölkt eine trübe Schicht das Fensterglas, verwelkt an den Rändern und verzehrt sich selbst, um mit meinem nächsten Atemzug wieder aufzublühen. Was sind das nur für Gedanken, die sich da klammheimlich aus den dunklen Winkeln meines Bewusstseins ins Zentrum meines Gehirns geschlichen haben?

 

Noch während ich besorgt darüber sinniere, ob ich dabei bin, in eine Altersdepression abzugleiten, springt mich jenes Unvorhergesehene, das sich eben so diffus-dräuend in mein Denken gepirscht hatte, an wie eine wütende Raubkatze, wird von einer verschwommenen Möglichkeit zu konkreter Realität.

 

Alles geht rasend schnell, ein Stroboskopblitz im Dämmerdunkel des Raum-Zeit-Kontinuums, gleißendes Licht taucht das Auto in blendende Helligkeit wie ein Bühnenscheinwerfer den Haupt-darsteller eines Theaterstücks. Der graue Lack scheint sich unter dem grellen Strahl in eine Schicht aus tanzendem Quecksilber zu verwandeln. Im nächsten Augenblick bricht ein riesiges Objekt durch die tief hängenden Wolken. Mit ungeheurer Geschwindigkeit saust es zu Boden, schlägt auf dem Acker auf, der sich neben der Straße erstreckt wie ein See aus dunkler Erde. Staubwolken stieben auf, verhüllen den verstörenden Anblick hinter Partikelexplosionen.

 

Ein Flugzeugabsturz, kreischt mein Verstand, während mein Körper wie gelähmt ist vor Entsetzen. Sekundenlang setzt mein Herzschlag aus, um gleich darauf wie ein Dampfhammer gegen meine Rippen zu donnern. Denn etwas tief in mir ist gegen jede Vernunft felsenfest davon überzeugt, dass ich da gerade keineswegs den Absturz einer Passagiermaschine beobachtet habe, sondern …,

 

langsam senken sich die Schleier aus aufgewirbelter Erde wieder, enthüllen ein Tableau des Wahnsinns vor meinen schreckgeweiteten Augen, ein seltsames rundes Ding aus dunklem Metall – kein Flugzeug! – ruht inmitten der brachliegenden Ackerfläche. Seine konvexe Oberfläche reflektiert das milchige Licht des Vollmondes, der als blasse Scheibe am östlichen Himmel hängt. Deutlich heller sind die punktförmigen Strahler am äußeren Rand des kuppelförmig abgeflachten Gebildes, deren rhythmisches Blinken Assoziationen mit dem kalten, sterilen Schein von OP-Lampen in mir aufflackern lässt.

 

Der PKW hat mitten auf der Straße gehalten, die Fahrertür schwingt auf. Ein Mensch, aus der Entfernung so winzig wie ein Zinnsoldat, steigt aus und macht ein paar zögerliche Schritte auf das Objekt zu.

Gleichzeitig öffnet sich eine Art Klappe an der, der Straße zugewandten Seite des metallenen Monstrums, klafft auf wie ein gähnendes Maul, aus dem sich – einer Zunge gleich – eine stählerne Rampe schiebt. Gestalten erscheinen in der Öffnung, ihre Körper seltsam dysmorph wie verzerrte Schatten. Im blendenden Licht der Punktstrahler ist es mir unmöglich, Einzelheiten zu erkennen. Sie steigen die Rampe hinab, bewegen sich auf den Autofahrer zu, umringen ihn. Es muss mindestens ein halbes Dutzend sein. Der Zinnsoldat rührt sich nicht, scheint starr vor Grauen. Oder sorgen sie dafür, dass er sich nicht bewegen kann?

 

Ruckartig hebt eines der Wesen den missgestalteten Kopf. Ich bilde mir ein, große schwarze Augen zu sehen, die in meine Richtung blicken – aber das kann natürlich nicht sein. Seine Sehorgane müssten riesig sein, um sie von hier aus erkennen zu können …

 

Wie eine Lohe fährt mir plötzlich ein sengend scharfer Schmerz ins Gehirn, so übergangslos wie ein heimtückischer Stoß in den Rücken, so brutal wie eine Messerattacke. Ich sinke ächzend auf die Knie, presse meine Schläfen mit beiden Händen zusammen, aus Angst, mir könne jeden Moment der Schädel bersten. Ein Feuerwerk aus weißen Sternen explodiert hinter meinen Lidern, grelle Funken zerstieben zu einem gleißenden Schauer aus tanzenden Partikel Fetzen … aufgewirbelte Staubwolken … Myriaden von Irrlichtern im nächtlichen Wald …!

 

Dumpfe Schwärze legt sich auf mein Bewusstsein wie eine erstickende Wolldecke, löscht die Flammen weiß glühender Qual und mit ihnen … alles … andere … auch …

  

Ein Hämmern. Laut. Fordernd. Der Schmerz, der abermals Einlass in mein Bewusstsein begehrt? Wie ein Nebelfetzen geistert der wirre Gedanke über das ölige, schwarze Meer, in dessen Tiefen mein Geist ruht wie der aufgedunsene Leichnam eines Ertrunkenen, hin und her wogend im Klammergriff bleicher Algen … Ich will nicht mehr zur Oberfläche … Es ist so friedlich hier unten … Wenn da nur nicht dieses lästige Geräusch wäre …

 

Wieder und wieder dröhnen die Schläge; Erschütterungen, durch die sich die glitschigen Tangfinger von meinem Bewusstsein lösen, es nach oben treiben lassen, in Richtung des Lärms...

 

Blinzelnd öffne ich die Augen. Die Deckenleuchte schwebt über mir wie ein Mond, dessen helles Rund sich in kreiselnde Spiralen auflöst, als ich den Kopf hebe. Mir schwindelt. Stöhnend lasse ich mich wieder zurücksinken, konzentriere mich auf meine Sinneseindrücke, um wieder in der Wirklichkeit Fuß zu fassen, der Anblick meines Wohnzimmers aus dieser ungewohnten Perspektive. Der raue Teppichflor unter meinen Händen. Der schwache Geruch nach staubiger Wolle, der aus den abgewetzten Fasern zu mir aufsteigt. Und dieses entnervende Hämmern, als … Ja, als klopfe jemand immer wieder an die Tür!

 

Etwas ist passiert, bevor ich ohnmächtig wurde. Etwas …, beunruhigendes … Aber was?! Ein schwarzes Loch klafft in meinem Gedächtnis. Wenn ich versuche, meine Gedanken darauf zu fokussieren, saugt es sie an wie ein Mahlstrom. Dazu dieses entsetzliche Klopfen … Wer ist da draußen? Was will er von mir, dass er so beharrlich gegen meine Tür schlägt? Warum gibt er nicht einfach auf und zieht seines Weges? Geh weg, fleht etwas in mir. Lass mich in Ruhe …

 

Mühsam richte ich mich auf. Meine alten Knochen protestieren, als ich mich ächzend am Fensterbrett hochziehe und nach draußen spähe. Wie schwarzes Samt liegt die Dunkelheit über den Hügeln. Wolken verdecken das narbige Gesicht des Mondes. War da nicht etwas … neben der Straße …

 

Der rote Faden meines Gedankengangs verschwindet in jenem schwarzen Loch, wird in die Tiefe gesogen, und ich schüttle verwirrt den Kopf. Wieder ein dröhnender Schlag gegen die Eingangstür. Wer auch immer dort draußen steht, er wird nicht verschwinden, bis … bis was? Ich muss nachsehen.

 

Schlurfend setze ich mich in Bewegung. Nur widerwillig scheinen mir meine Füße zu gehorchen, heben sich kaum vom Boden, als wüsste mein Körper mehr als mein Verstand, wehre sich instinktiv dagegen, der Quelle des Lärms näherzukommen. Immer heftiger hämmert der Unbekannte gegen das Holz.

 

Wumm … Wumm! … WUMM!

 

„Ja, ja, ich komme ja schon“, will ich rufen, doch nur ein krächzendes Flüstern dringt aus meiner trockenen Kehle. Mein Herz pocht so stark in meiner Brust, dass sein Pulsieren wie das Echo jener donnernden Schläge anmutet.

 

Da war etwas … ein Licht … Einen kurzen Moment zuckt etwas in meiner Erinnerung auf, doch das nächste Wummern vertreibt den Gedankenblitz wie ein Gewehrschuss scheues Wild. Jetzt bin ich direkt vor der Haustür. Wer immer dort in der Finsternis steht, nun trennt uns nur noch eine wenige Zentimeter dicke Schicht aus Eichenholz.

 

Ich fahre zusammen wie unter einem Stromstoß, als der nächste Schlag gegen das Türblatt kracht. Herr im Himmel steh mir bei! Zitternd drücke ich mein Auge an den Spion. In diesem Moment lässt der Mond seine Wolkenlarve sinken und taucht die Welt in silbriges Licht. Ich blicke auf dunkles Haar, dessen schnurgerader Mittelscheitel ein gutes Stück unterhalb des Gucklochs verläuft. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Fausthieb: Ein Kind steht da draußen!

 

Reflexartig wandern meine Finger zur Türkette. Ein Kind allein in der Nacht … Der Mutterinstinkt ist ein mächtiger Trieb, selbst in einer alten Jungfer wie mir. Doch dann halte ich inne. Diese rohe Gewalt der hämmernden Schläge, als wolle der Anklopfende die Tür aus den Angeln brechen … Wie könnte ein Kind diese Kraft aufbringen? Nun ist das Geräusch verstummt. Vielleicht hat das Kind meine Schritte gehört. Oder es spürt meine Nähe …

 

 

Ich lasse meine Hand wieder sinken, spähe abermals nach draußen. Die Kleine – sie trägt ein helles Kleid, mit dessen Saum der Wind spielt – hält den Kopf gesenkt. Stocksteif steht sie auf der Schwelle und wartet – lauert? –, dass ich ihr öffne. Ein harter, eisiger Klumpen hat sich in meinem Magen gebildet. Was soll ich tun? Irgendein dumpfer archaischer Urinstinkt in meinem Inneren ist aus seinem Dornröschenschlaf er-wacht und warnt mich ein-dringlich davor, das Mädchen hereinzulassen. Aber …., ich kann doch ein Kind nicht einfach in der Finsternis stehen lassen! Was, wenn die Kleine Hilfe braucht?!

 

Und natürlich braucht sie die. Weshalb sonst sollte ein kleines Mädchen nachts bei einer Fremden an die Tür hämmern, als seien alle Schrecken der Hölle hinter ihr her? Hier, an diesem gottverlassenen Flecken im Nirgendwo.

 

Vage erinnere ich mich an ein silbergraues Auto auf der einsamen Landstraße im Tal. Ein Unfall? Hat sich die Kleine den ganzen Weg den Hügel herauf geschleppt, um Hilfe zu holen, und ich stehe hier – bebend in kindischer Furcht – und weigere mich, ihr die Tür aufzumachen?! Vielleicht ist sie verletzt …

 

Die Logik meiner Schlussfolgerungen verlangt nach sofortigem Handeln, doch noch immer verharre ich regungslos, das Auge gegen die Linse gepresst. Wie eine gottverdammte Salzsäule steht sie da. Wenn sie sich doch nur bewegen würde, nur ein einziges Mal … Es ist doch nicht normal, dass ein Mensch so still dasteht. Unnatürlich, wabert es durch mein Hirn, unmenschlich …

 

Ich muss schlucken. Panik wallt in meiner Brust empor, legt sich um mein Herz wie eine kalte Eisenfaust. Gleichzeitig lodert heiße Scham in mir. Jetzt benimm dich doch nicht wie eine senile Alte, die vor ihrem eigenen Schatten erschrickt!

 

Abermals kommt ein Windhauch auf, stärker diesmal, und lässt den Saum ihres Kleides flattern. Das gibt den Ausschlag – wie der sprichwörtliche Schmetterlingseffekt setzt dieses marginale Ereignis alles Folgende in Gang, ist der Auslöser einer Kette von Begebenheiten, deren Dynamik ich nicht überblicken kann, die aber nicht mehr aufzuhalten sind.

 

Ich werde dieses Kind nicht eine Sekunde länger in Wind und Kälte ausharren lassen, denke ich entschlossen, während ich die Kette löse und den Schlüssel im Schloss drehe. Zum Teufel mit meiner törichten Furcht! Meine Finger sind feucht, rutschen von der Klinke ab, doch dann umklammere ich sie mit aller Kraft und reiße die Tür auf.

 

Das dunkle Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht und verdeckt ihre Züge. Sie ist vielleicht acht oder neun Jahre alt, womöglich auch jünger; es ist schwer, das Alter eines Kindes zu schätzen, wenn man selbst nie welche hatte. Schmächtig sieht sie aus und blass. Ihr schlichtes Kleid wirkt viel zu dünn, um ohne Jacke draußen unterwegs zu sein. Wenn die Sonne im Westen verblutet ist, wird es abends schon empfindlich kühl. Tragen kleine Mädchen heutzutage überhaupt noch solche knöchellangen Kleider?

 

„Darf ich reinkommen?“ Ihre Stimme ist so hohl wie ein Brunnenschacht. Ein Schauder kriecht mir das Rückgrat entlang.

     „Meine Eltern kommen bald und holen mich ab.“

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, stoße ich hervor, abgehackte Silben, heiser und fremd.

 

Sie blickt auf. Allmächtiger! Ihre Augen sind so schwarz wie Teer. Weder Pupille noch Iris, nur eine einzige dunkel schimmernde Fläche ohne Weiß an den Rändern, wie Murmeln aus Obsidian.

  „Darf ich reinkommen?“, wiederholt sie mit dieser merkwürdig tonlosen Stimme, die mir durch Mark und Bein geht.

    „Bitte“, setzt sie hinzu und senkt wieder den Kopf.

 

Es muss eine optische Täuschung gewesen sein, ein Trugbild, geboren aus Mondlicht und Schatten. Oder vielleicht sind meine Augen doch nicht mehr so gut, wie ich mir immer einrede. Irgendwann werde ich hier oben sitzen, ein blinder Adler in seinem Nest.

 

Während draußen die Ratten gedeih’n …

 

Wo kam dieser Gedanke gerade her? Habe wirklich ich das gedacht? Ja, natürlich. Dieses alberne Lied spukt mir wieder durch den Sinn, das ist alles.

    „Es ist kalt hier draußen“, tönt es aus dem Mund des Mädchens wie aus dem Inneren einer Kathedrale.

     „Darf ich reinkommen?“

Tausend Fragen wirbeln durch meinen Verstand, doch kein Laut dringt mir über die Lippen. Meine Zunge klebt mir am Gaumen wie eine tote Schnecke. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Es ist doch nur ein kleines Mädchen. Ich atme hörbar aus. Dann trete ich einen Schritt zurück und gebe den Eingang frei. Doch die Kleine rührt sich noch immer nicht.

Das Böse braucht stets eine Einladung …

Schluss!

 

    „Komm rein“, presse ich hervor, fast gegen meinen Willen. Meine Nackenhaare stellen sich auf, während das Mädchen an mir vorbei in den Flur tritt. Zielstrebig bewegt es sich aufs Wohnzimmer zu.

 

„Wie heißt du denn?“, löst sich endlich eine Frage aus dem wirren Knäuel, zu dem sich meine Synapsen verknotet zu haben scheinen.

Doch sie antwortet nicht, läuft einfach weiter. Im Wohnzimmer geht sie ans Fenster und blickt in die Dunkelheit hinaus. Ich verharre an der Zimmerschwelle. Unbehagen füllt mich aus wie brackiges Wasser eine Vase aus dünnem Porzellan. Jeden Moment, so fürchte ich, könnte die brüchige Hülle meiner Selbstbeherrschung in Scherben gehen und meine innere Spannung in Form eines gellenden Schreis aus mir heraus schwappen. Doch ich bleibe stumm. Es ist nur ein Kind, Himmelherrgott! Bloß ein kleines Mädchen in einem alten Kleid. Mit den Augen des Teufels …

 

Ich räuspere mich.

   „Wo kommst du denn eigentlich her? Wart ihr mit dem Auto unterwegs? Hattet ihr einen Unfall?“

     „Meine Eltern kommen bald und holen mich ab“, sagt sie wieder, als würde dieser Satz alles erklären, und starrt weiter durch die Scheibe nach draußen. Der Mond hat sein Antlitz erneut mit Wolken bedeckt. Sie wird kaum etwas erkennen können in der schwammigen Finsternis.

 

Womöglich ist die Kleine geistig zurückgeblieben, blitzt ein seltsam tröstlicher Gedanke in meiner wachsenden Beklemmung auf, Verzweiflung in Hoffnung gehüllt. Am besten wäre es, die Polizei zu informieren. Vielleicht hat es tatsächlich einen Unfall gegeben. Möglicherweise braucht jemand Hilfe. Oder das Mädchen ist einem Entführer entkommen und schwer traumatisiert. Das würde ihr eigenartiges Verhalten erklären. Unverantwortlich, in so einer Situation nicht die zuständigen Behörden zu informieren.

 

Als wüsste ich nicht, dass sich hinter diesen altruistischen Motiven bloß der dringende Wunsch verbirgt, mich von der Gegenwart dieses sonderbaren Kindes zu befreien, eile ich in die Küche zum Telefon. Während ich den Hörer ans Ohr hebe, weht abermals ein Erinnerungsfetzen durch mein Hirn wie trockenes Laub, das der Wind herumwirbelt. Ein Ding … und Wesen …, eines hat den Kopf gehoben und mich angesehen …

 

Aber im nächsten Moment ist das Bild wieder fort, von einer Bö gepackt und in den Rinnstein des Vergessens gefegt. Die Leitung ist tot. Ich bin allein mit dem Kind und keine Rettung in Sicht …

 

„Kann ich die Toilette benutzen?“

Ich fahre herum. Sie steht im Türrahmen, die Haare im Gesicht. Hat sich herangeschlichen wie eine Dschungelkatze …

 

Das Herz klopft mir bis zum Hals. Mechanisch nickend zeige ich den Flur hinunter. Sie dreht sich um, und während sie in Richtung Badezimmer davongeht – ihre Schritte verursachen kein Geräusch auf dem Läufer … –, lasse ich mich schwer auf einen Küchenstuhl sinken. Was ist nur los mit der Kleinen? Und was ist los mit mir? Etwas ist passiert, bevor ich ohnmächtig wurde, etwas Außergewöhnliches, das man nicht einfach so vergisst. Dieses Gefühl ist so stark in mir, dass es wie eine Flutwelle gegen den Deich meines Unterbewusstseins drückt. Doch die Barrikade hält stand, lässt keinen Tropfen Erkenntnis in mein Hirn sickern.

 

Wieder sehe ich das Mädchen vor mir, wie es zu mir aufgeschaut hat, mit Augen schwarz wie Pech. Wie zwei Fenster, durch die man ins kalte Herz der Finsternis blickt. Aber es war doch nur ein Schatten, der meine alten Augen getäuscht hat … oder nicht? Hysterie brandet in mir auf. Ich will dieses Kind aus dem Haus haben. Jetzt sofort!

 

Warum habe ich sie überhaupt hereingelassen? War das eine bewusste Entscheidung oder doch eher eine Art innerer Zwang? Ein perverser Trieb, der einen immer näher an den Abgrund treibt, uns drängt, den Blick in die Tiefe zu richten, obwohl uns schwindelt und wir wissen, dass uns der nächste Schritt in ein felsiges Grab stürzen lassen wird. Adler sterben, und die Ratten gedeih’n …

 

Immer wieder dieses Lied! Ein nervtötender Ohrwurm, der sich in die Hirnwindungen schraubt und das Denken zernagt. Aber ist sie nicht wirklich wie eine Ratte hier eingedrungen? Hat sich arglistig Einlass erschlichen, mit ihrer vergeblichen Hilflosigkeit, ihrem ständig wiederholten „Darf ich reinkommen?“ – und jetzt habe ich sie im Haus, werde sie nicht mehr los. Wahrscheinlich ist das alles ein Trick, eine ausgeklügelte Masche, um leichtgläubige alte Damen auszunehmen. Bestimmt hat sie dafür gesorgt, dass das Telefon nicht mehr funktioniert! Oder ihre Komplizen …

 

    „Meine Eltern sind da.“

Schon wieder hat sie sich lautlos angepirscht wie ein Raubtier auf der Jagd. Ich spüre, wie sich winzige Schweißperlen über meiner Oberlippe bilden.

 

Wortlos tritt sie an mir vorbei ans Fenster. Ebenso wie das Wohnzimmer geht auch die Küche auf die Landstraße hinaus. Ich stehe auf, sehe hinter dem Mädchen durch die nachtblinde Scheibe. Und da springt es mich an wie eine tollwütige Bestie. Obwohl sie dem Fenster so nah ist, dass ihre Nasenspitze fast dagegen stößt, malt ihr Atem keine Wolken auf das Glas …, weil da kein Atem ist.

 

Im nächsten Moment überlagert ein größeres Grauen das Entsetzen, das bei dieser Erkenntnis mit kalten Klauen nach meinem Herzen greift, breitet sich in meiner Seele aus wie ein Flächenbrand. Unten auf dem Acker thront ein riesiges Gebilde aus Metall. Punktförmige Strahler verwandeln die Finsternis mit ihrem bleichen Pulsen in Standbildaufnahmen aus einem Science-Fiction-Film. Inmitten des Dings klafft ein schwarzes Loch wie ein hungriges Maul, und ein halbes Dutzend deformierter Gestalten strömt daraus hervor …

    „Meine Eltern“, sagt das Mädchen und wendet sich langsam zu mir um.

 

Seine Lippen verziehen sich zu einem hässlichen Grinsen, während sich mein Gesicht in seelenlosen schwarzen Augen spiegelt …

 

 

 

 

 

ENDE

 

 


Melanie Kleinschmidt

 

Als noch Schülerin habe ich mich – was meine berufliche Ausrichtung anbelangt, noch nicht festgelegt, doch im weitesten Sinne möchte ich mich dafür einsetzen, hilfebedürftige Menschen zu unter-stützen. Möglichkeiten dafür sehe ich im politischen als auch im psychologischen Bereich. Meine christliche Weltanschau-ung begreift als oberstes Ziel, ein geordnetes, erfülltes Leben und dabei andern Menschen Hilfe anzubieten. Nach der Schulzeit werde ich sehen, inwieweit sich meine Pläne in die Praxis umsetzen lassen. Zurzeit sind meine Schwerpunkte lesen und schreiben. Ebenso treffe ich mich gerne mit Freunden zum Diskutieren und arbeite sehr gerne im Garten. In der Schule sind Englisch und Religion meine favorisierten Fächer.

 

 

HARRISON UND JULIA

(Urheberrechte & Copyrights © by Melanie Kleinschmidt)

 

Julia Smith war auf dem Weg in den St. James Park am Buckingham Palace. In ihrer Hand trug sie ihr Notizbuch. Ihr abgewetztes rotes Notizbuch mit dem verschlissenen roten Ledereinband, welches sie überall mithin nahm, falls etwas passieren würde, was sie in ihren Roman, der nie fertig werden würde, aufnehmen könnte. Sie setzte sich auf eine Bank unter einem Apfelbaum, schlug die Beine übereinander und beobachtete die Eichhörnchen. Es war neblig, eigentlich kein Wetter um sich in den Park zu setzten, doch das war Julia egal. An solchen nasskalten Regentagen, wie es sie hier in London viele gab, kamen ihr immer die besten Ideen zum Schreiben. Also kaute sie an ihrem ausgeblichenen Werbekugelschreiber und blieb geduldig sitzen. Irgendetwas würde heute schon noch passieren. Sie hob den Kopf, als sie die Anwesenheit einer Person neben sich spürte. Sie wandte ihre smaragdgrünen Augen von den miteinander spielen-den Eichhörnchen ab und blickte nach oben, um zu sehen, wer da neben ihr stand.

 

„Hallo?", sagte sie. Es klang nicht unfreundlich, doch mehr wie eine Frage als eine Begrüßung. Sie musterte den mageren Mann mit dem Schütteren Haar, der teuren Business-Kleidung und dem durchgeweichten, dunkelblauen Trenchcoat.

    „Hallo", die Stimme, die aus seinem Mund, mit den schmalen, rissigen Lippen kam, klang ruhig, so als würde sie das erste Mal seit langem wieder mit jemandem sprechen und müsste erst einmal wieder in Fahrt kommen. Wie, wenn man nach einer langen Pause das erste Mal wieder Fahrrad fährt. 

    „Kann ich Ihnen helfen?” Julia neigte den Kopf leicht zur Seite, eine Angewohnheit, die immer dann auftrat, wenn sie nervös oder überrascht war. Es war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil, doch sie wunderte sich. Sonst stellten sich nicht einfach irgendwelche fremden Leute zu ihr. Schon gar nicht bei so einem Wetter.

    „Ich brauchte Gesellschaft und Sie sehen auch aus, als wür-de Ihnen dies guttun". Einfach so, sagte er das, ohne Umschweife. Sie war sehr überrascht, doch nickte sie. In der Tat, Gesellschaft wäre schon ganz schön. Jemand der zuhört. 

    „Sind Sie zum ersten Mal hier, Sie klingen nicht, als würden Sie hier aus London kommen?”, fragte er und setzte sich neben sie auf die feuchte Bank, der Regen hatte inzwischen aufgehört. Julia war sich ihres schottischen Akzentes nicht allzu sehr bewusst. 

    „Ich bin vor Kurzem umgezogen, von Glasgow. Ich brauchte wieder Luft zum Atmen. Seitdem versuche ich ein Buch zu schreiben." 

 

Sie schluckte. Warum hatte sie das nun wieder gesagt? Ich brauche wieder Luft zum Atmen, wie peinlich. Bestimmt dachte er, der erfolgreiche Geschäftsmann mit dem teuren Parfüm, dass sie eine dieser durchgeknallten Altjungfern war, die nichts Besseres zu tun hatte, als irgendwie vor sich hin zu leben, und das Geld ihrer Eltern auszugeben. Zugegeben stimmte der Teil mit der Altjungfer, aber das musste dieser wildfremde Kerl ja nicht wissen. „Mit Erfolg?" Falls er sich über sie lustig machte oder erhaben war, konnte man das am Tonfall seiner Stimme oder dem Gesichtsausdruck nicht erkennen. Er wirkte eher interessiert. 

  „Nun ja, das nicht gerade, aber ich möchte einfach etwas schreiben, was die Menschen im tiefsten Inneren berührt. Verstehen Sie?" Warum erzählte sie ihm das eigentlich wieder? Vielleicht, weil ihr sonst niemand zuhörte. Also wenn er jetzt nicht weggeht hat er entweder selbst einen an der Klatsche oder ist genauso einsam wie ich. Weit gefehlt. 

   „Ja, ich verstehe. Sie wollen etwas kreieren, was bisher noch niemandem gelungen ist und das ist gut so. Man sollte etwas schreiben, worin man sich wiedererkennt und nicht etwas, was allen Leuten gefällt. Wenn es polarisiert, dann ist es gut". 

 

Seine grauen Augen musterten ihre grünen intensiv, er sah sie ernst an. Sie sah ihn überrascht an. Ihr fiel vor lauter Staunen erstmal nur ein zu fragen,

   „wie heißen sie eigentlich?" Seltsamerweise fiel ihr erst auf, dass sie die ganze Zeit geredet hatten, ohne sich ihre Namen zu nennen, als sie diese Frage stellte. Wahrscheinlich war sie zu fasziniert von seinen Worten gewesen, zu beschäftigt, über das Gesprochene nachzudenken, um sich um solche Kleinigkeiten, wie seinen Namen Gedanken zu machen. 

   „Harrison Baker". Seine Augen ließen ihre nicht los. 

„Oh, ein schöner Name". Was sollte sie auch sonst dazu sagen? 

   „Das nun nicht gerade, aber er ist nicht besser oder schlechter als jeder andere Name auch". Schon wieder war sie sprachlos. Er hatte sich weder bedankt, noch nach ihrem Namen gefragt. Nicht, dass sie das sonderlich gestört hätte, sie selbst hielt wenig von aufgesetzter Höflichkeit, doch etwas irritiert war sie schon. 

   „Ich bin Julia Smith", erwiderte sie und zupfte an ihrem schäbigen, roten Mantel herum.

   „Ein interessanter Name für die vergessene Sehnsucht". 

 

Sie sah ihn erst verstört an und lachte laut auf. Es hätte wahrscheinlich albern geklungen, aus dem Mund eines anderen, wie ein Satz, den jemand sagt, der besonders schlau oder romantisch wirken möchte, doch wie er das sagte, er, Harrison Baker, so ernst und beinahe feierlich, hatte es irgendwie Charme.

   "Harrison Baker ist ein interessanter Name für den versteckten Zynismus", gab sie zurück. Er lachte. Es klang kurz und angenehm in ihren Ohren. Ganz anders als ihr ungehaltenes Kichern eben. Überhaupt schienen diese beiden Menschen,  Harrison und Julia, gegenteiliger nicht sein zu können.

 

Ja, sie beide waren ganz verschieden: Julia im schäbigen roten Mantel, wirren Haaren, auffälligem Schmuck, eine Seele der  vergessenen Sehnsucht, einem Hauch heruntergekommenen Charme und Harrison im schlichten, aber dennoch ordentlichen Anzug, mit Krawatte und frisch rasiert. 

 

Während sie wie eine Elfe oder Fee aus einem weit entfernten Fantasie-Land oder eine wilde Künstlerin wirkte, hätte man Harrison auch gut auf irgendeiner Titelseite eines Business Magazins sehen können. Sie plauderten noch eine Weile, über das Leben, für Julia die Inspiration für alles, für Harrison der tägliche Wahnsinn. Über die Gesellschaft, Julia meinte, man müsse etwas ändern, Harrison hatte sich damit abgefunden und die Liebe, die für beide so unerreichbar fern und jetzt, nebeneinandersitzend, ein Stück nähergekommen war. Nicht nur in ihrem Aussehen, auch in den Aussagen und Ansichten hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Trotzdem hielt sie das nicht davon ab, sich zu amüsieren und einander zuzuhören. Ihre Konversation war weder langweilig noch einseitig und sie saßen eine ganze Weile so, Harrison mit übereinander geschlagenen Beinen, den linken Arm auf der Banklehne ruhend, Julia im Schneidersitz, ihr Notizbuch auf den Knien. Sie notierte einige Dinge, die Harrison sagte und machte sich Notizen. Vielleicht könnte der heutige Tag in ihr Buch einfließen. Plötzlich fing es an zu regnen, erst leicht, dann immer stärker. Julia spürte, dass ihr Haar nass wurde und überlegte, ob es unhöflich war, einfach aufzustehen und zu gehen. Harrison, ebenfalls etwas durchnässt, nahm ihr die Entscheidung ab. Er erhob sich, streckte einen Arm nach ihr aus und wie ganz selbstverständlich gingen sie Arm in Arm durch den strömenden Regen in das nächstgelegene Café.

 

*** 

 

"Er erhob sich, streckte einen Arm nach ihr aus und wie ganz selbstverständlich gingen sie Arm in Arm durch den strömenden Regen in das nächstgelegene Café, wie klingt das?", fragte Julia, als sie, einige Wochen später, Arm in Arm durch die schwach beleuchtete Hendon Street schlenderten. Es war schon spät, Julia hatte Harrison vor einigen Minuten aus dem Büro abgeholt und sie wollten nun noch zum Abendessen gehen. Seit dem Kennenlernen vor einigen Wochen war alles ganz schnell gegangen.

 

Weitere Treffen, das Zusammenkommen, Julias Einzug bei Harrison. Die beiden waren frisch verliebt, auf Wolke 7. Keiner der beiden hätte wohl gedacht, dass so etwas noch einmal möglich sein würde. Harrison nickte lächelnd, „es klingt gut". Er hatte sich verändert, seitdem er Julia kennengelernt hatte. Er war offener geworden, freundlicher. Seitdem Julia da war, war das Leben bunter und abenteuerlicher, es gab seitdem nicht immer nur die Arbeit.

   „Das klingt nicht sehr überzeugend", lachte Julia und machte sich Notizen in ihrem Notizbuch. Auch sie war anders geworden. Sie glaubte wieder an sich und an ihr Buch, die Sehnsucht schien noch nicht ganz verloren. Seit dem Vorfall mit Harrison schrieb sie beinahe ununterbrochen und wollte ihr Werk, wenn es fertig war (wann auch immer das sein würde) bei einem Verlag einreichen. Anderen Menschen, die wie sie, fast die Hoffnung aufgegeben hatten, Mut machen, das war ihr Ziel mit diesem Buch. „Es klingt gut, Julia, aber dein Roman sollte doch irgendwann auch mal fertig werden, oder?", antwortete Harrison pragmatisch. Ganz verändert hatte er sich dann doch nicht.

   „Er hat doch gerade erst angefangen. Die beiden sollen noch so viel erleben!" Sie breitete die Arme aus und drehte sich auf der menschenleeren Straße um sich selbst, wie um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen.

   „Was denn zum Beispiel?" Harrison sah sie lächelnd an. „Das!" Julia ging langsam auf ihn zu, zog ihn bei den Schultern zu sich hinunter und küsste ihn. Es hatte für beide etwas Befreiendes, endlich waren sie angekommen, es war für Harrison und Julia ein Neuanfang, der Versuch noch einmal neu zu leben. 

 

Wenn Harrison heute an diesen Tag dachte, er schien so weit weg und doch fühlte es sich wie gestern an. Sie, Julia und er waren die glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt gewesen, nichts konnte sie aufhalten, außer dieser eine Abend. Er konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Es war ein Freitag gewesen. Heute hatte er lange arbeiten müssen, und Julia hatte ihre Vorladung bei einem Verlag, der tatsächlich Interesse an ihrem, endlich fertig gewordenen Werk bekundet hatte.

 

Wenn er daran zurückdachte, hörte er noch ihre ent- husiastische Stimme in seinen Ohren.

   „Harrison, es klappt, es klappt! Endlich! Ich komme jetzt nach Hause und dann feiern wir! Endlich interessiert sich jemand für unsere Geschichte!” Unsere Geschichte.

 

Julias Mini hatte es gerade noch wenige Kilometer auf die Landstraße geschafft, als ein anderes Auto, ein schwarzer Ford mit einem betrunkenen Fahrer, sie mit über 120 Meilen pro Stunde Fahrgeschwindigkeit von der Landstraße hinab und gegen eine Brücke geschleudert hatte. Sie war beinahe direkt nach dem Unfall tot gewesen und hatte es nicht einmal lebend ins Krankenhaus geschafft. Er hatte es nicht glauben können. Zum ersten Mal hatte er Vertrauen in die Liebe und das Leben gefasst und dann schaffte es ein Unfall, der nur wenige Sekunden dauerte, ihre Liebe, ja LIEBE zu zerstören. Noch nie war Harrison so wütend, enttäuscht und verletzt gewesen. Seit diesem Tag war er nicht mehr der Alte. Er kündigte seinen Job und zog an das andere Ende von England. Hier in London hielten ihn keine zehn Pferde mehr. Der Anblick der Straßen, in denen er mit Julia entlang spaziert war.

 

Die Cafés, in denen sie Stunden hitzig diskutierend und debattierend verbracht hatten, vergrößerten nur noch mehr das schwarze, riesige Loch, in das er, nach dem Tod seiner geliebten Julia gefallen war. 

 

Nach diesem grausamen Ereignis war das Leben für ihn nicht mehr lebenswert. Er hörte auf sich zu waschen und zu rasieren, er ging nicht mehr raus, er aß nicht mehr richtig. Es gab keinen Tag, an dem er sich nicht wünschte, endlich weg von dieser grausamen, ungerechten Welt und wieder bei Julia zu sein. Alles war ihm egal geworden. Oft wünschte er sich, der Ford hätte ihn überfahren und Julia verschont. Dann wachte er mitten in der Nacht, schweiß-gebadet und von Schuldgefühlen geplagt auf und konnte nicht mehr einschlafen. Er fing mit dem Trinken an, um sich aus der grauen Realität zu flüchten. Mit seiner Gesundheit ging es von da an endgültig bergab. Zuerst waren es nur kleinere Beschwerden, doch irgendwann spürte er, dass seine Leber dem hemmungslosen Trinken nicht mehr gewachsen war. Er spürte das Ende immer deutlicher kommen. Als man seine verbleibenden Tage beinahe nur noch an einer Hand abzählen konnte, und selbst der Doktor keine Hoffnung mehr sah, machte er sich auf die erste und letzte richtige Reise in seinem Leben. Nach London. Für Julia. Er wollte die Erinnerung an sie und ihren Geist noch ein letztes Mal aufleben lassen. 

 

Auf dem Friedhof in Soho war es ruhig und friedlich. Zur Feier des Tages hatte Harrison den alten Anzug, den er bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, heraus gekramt, sich rasiert und gewaschen. Zwar war es ihm nicht gerade leichtgefallen, doch der Gedanke, seiner ersten und letzten großen Liebe noch einmal Lebewohl zu sagen, hatte ihn aus dem Bett steigen und den Zug nach London nehmen lassen. Mit einem Auto, besonders mit Fords, wollte er nie wieder im Leben fahren oder gefahren werden. Zu allem Überfluss schien heute auch noch die Sonne. Welch eine Ironie, dachte Harrison verbittert, als er sich auf den Weg durch die Reihen der Grabsteine machte. Da, ganz hinten, neben einer Bank unter einem Apfelbaum lag sie begraben. Es war ein kleiner Stein, schmucklos, lediglich ihr Name, Geburts- und Sterbedatum standen darauf. Keine Blumen oder Kerzen, nur Unkraut und Moos. Sie hatte keine Verwandten, die sich um ihr Grab gekümmert hätten und so war es in den Monaten und Jahren mehr und mehr der Zeit zum Opfer gefallen. Harrison legte den Strauß roter Rosen, den er bei der Blumenhandlung um die Ecke gekauft hatte, auf den Grabstein. Rosen waren ihre Lieblingsblumen gewesen. Hatte ihr Parfüm nicht auch immer so süß nach Rosen gerochen? Plötzlich wollte er nur noch weg. Die Sonne brannte viel zu heiß, die Vögel zwitscherten zu laut, es fühlte sich einfach alles falsch an. Zu fröhlich. Zu friedlich. Die Welt lachte, doch er konnte nicht mit ihr lachen. Er richtete sich wieder auf und blickte geradeaus in Richtung der Kapelle, in der die Trauerfeiern abgehalten wurden.

 

Das goldene Kreuz auf dem Dach schien die Sonne zu reflektieren, das Licht bündelte sich an einem bestimmten Punkt und strahlte grell goldgelb. Er drehte sich auf dem Absatz um. Vielleicht war es von Anfang an seine Bestimmung gewesen, nicht glücklich zu sein. Vielleicht war das Leben langfristig nicht auf Glückseligkeit und die wahre Liebe ausgerichtet, wie ein Fisch, den man mit den Händen fangen möchte. Vielleicht spürt man seine schuppige Haut für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den Fingern, doch immer dann, wenn man denkt, man hat ihn gefangen, ist er doch zu schnell. Er würde es wohl nie erfahren. Harrison lief auf das schmiedeeiserne Eingangstor zu.

 

Die Vögel zwitscherten und die Bäume raschelten, dieser Tag war wunderschön und brannte doch auf der Haut.  Die Bäume spendeten Schatten, es war angenehm zu laufen, eigentlich. Harrison griff sich in die Jackentasche, holte ein Päckchen Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Während er den Rauch in die Atmosphäre blies, überlegte er, ob er das alles vielleicht nur geträumt hatte.  

 

 

ENDE

 

 

 


Das Säugetier Mensch, das sich selbst als unersetzlich glaubt, mitunter sich sogar selbst so darstellt, besitzt Eigenschaften, die sind sogar für abgebrühte dieser speziellen Spezies suspekt. Zum Glück gibt es gute Beobachter, die diese Krankheits-bilder des Homo sapiens mitunter schonungslos aufzeigen, benennen und ans Licht zerren. Lesen Sie hier vom Experten, womit zum Beispiel die Krankheit der Gaffer, noch echt übertroffen wird und daraus sogar noch ein Geschäft entsteht! (Kommentar von Pauli Esposito, der hier einen satirischen Gruß an Bernhard Horwatitsch übermittelt!)

Geschäftssinn

(Urheberrechte und Copyrights © by Bernhard Horwatisch)

 

 

„Verstehns”, sagte Humpinger energisch zu dem Journalisten. „Da hab’ ich doch eine Infrastruktur. Die Leut’ die bei mir buchen, die spenden auch gleichzeitig und ich finanzier’ mit meinem Geschäft die Aufräumarbeiten.” Humpinger rieb sich die Hände. „Organisierte Gaffer, verstehns, davon hab’n die Leut’ was.”

 

„Aber”, wollte der Journalist widersprechen.

    „Nix aber”, sagte Humpinger, griff nach dem klingelnden Telefon.

„Katastrophen Humpinger und Co, Grüß Gott”, sagte Humpinger, lächelte und nickte dem Journalisten zu. „Für Prag?”, sagte Humpinger, klickte die Maus mehrere Male. „Ja, aber pauschal geht da nichts mehr, nur noch im Spezialhubschrauber, Übernachtung etwas außerhalb, verstehns, die Turnhallen sind total überfüllt.” Humpinger schüttelte den Kopf. „Nein, leider, die tschechischen Behörden, verstehns. Aber ja. Katastrophenraving. Wir haben noch Schlauchboote – Vier Mann Besatzung pro Boot – ohne Führer.” Humpinger legte auf. „Sakrisch”, sagte er. „Die Moldau - hätt’ nie gedacht, dass des Bacherl so anschwellen könnte.”

 

Der Journalist wollte wissen, was so etwas koste, das sei doch sehr teuer, so etwas finanziere sich doch nicht so einfach.

   „Die Anschaffungen, verstehns”, sagte Humpinger, wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. „Natürlich, die Anschaffungen, aber wenn Sie erst einmal alles haben und genügend passiert, dann sind Sie auch amortisiert. Ganz klar.”

 

Humpinger schenkte Kaffee ein, bot dem Journalisten auch einen an.

   „Aber das ist das Risiko, dass was passiern muss. Jetzt, und man muss schnell sein, so schnell wie Sie. Verstehns. Vor Ort quasi. Zack, kaum is’ was passiert, schon könnens buchen beim Humpinger. Zweitausend eins: Ground Zero. War super. Verstehns. Weil ja die Touristen auf nix verzichten mussten, und des ging zwei Monate locker auf Hochtouren.”

 

   Wieder klingelte das Telefon. „Well, we have a good price for you, Passau, well, in the City, yes, big risk, high and deep water in the city - yes, look at our journal”, sagte Humpinger, wendete sich wieder seinem PC zu.

   „Organisation ist alles, verstehns”, sagte Humpinger zum Journalisten. „Und Beziehungen. Ich kenn viele Piloten, die schlecken sich die Finger ab, wenns einmal über einen kalifornischen Waldbrand fliegen dürfen.”

 

Er kenne beinahe in jedem Land der Erde irgendwelche Verwal-tungsbeamte, beantwortete Humpinger eine Frage des Journalisten, ob es nicht Probleme mit der Verwaltung oder der Polizei gäbe. „A bisserl schmiern müssens schon. Verstehns.” Humpinger grinste wissend. Wieder klingelte ein Telefon, diesmal hatte es einen anderen Ton, einen schärferen. Humpinger hob einen roten Hörer ab. „Ja sicher”, sagte er,

    „selbstverständlich, keine Frage, das geht in Ordnung.” Dabei nickte Humpinger immerzu, blickte sehr ernst. Humpinger verdeckte mit einer Hand den unteren Teil des Hörers. „Der Ministerpräsident”, flüsterte er zu dem Journalisten. „Das sind die besonderen Geschäfte”, sagte Humpinger, als er aufgelegt hatte. Er, Humpinger, habe extra einen Sicherheitsdienst in Lohn für solche Fälle. „Begleitschutz, verstehns”, sagte er, blickte gleichzeitig auf die Uhr, wischte sich mit seinem grünen Taschentuch erneut den Schweiß von der Stirn.

 

„Kriegsgebiete?” Humpinger sah den Journalisten durchdringend an.

    „Aber keine Pauschale, verstehns. Des kann man nicht versichern. Neulich sind mir in Afghanistan zwei meiner besten Kunden...verstehns.” Humpinger fuhr sich mit der Handkante über den Hals, rollte die Augäpfel. Dann lächelte er. „Ich biete Risikourlaub”, sagte er. „Und im Grunde.” Humpinger machte eine lange Sprechpause. „Im Grunde verstehns, des mag brutal klingen. Aber, wenn’s nicht zu Viele sind. Ein paar tote Touristen, das ist schon wieder Werbung. Verstehns.”

 

Aus dem Faxgerät kam pfeifend ein Papierstreifen. Humpinger drehte sich, sah auf das Papier. „Dresden”, sagte er vor sich hin, schüttelte den Kopf. „Ausgebucht.” Humpinger sah zum Journalisten, hielt das Blatt hoch. „Schon ausgebucht, verstehns.” In Dresden, meinte er, säßen schon fast tausend Katastrophentouristen, die mit Katastrophen Humpinger und Co unterwegs seien. Tausend, nur in Dresden. In ganz Sachsen sei es schon die vierfache Menge. „Verstehns. In Bitterfeld, in Meissen, überall wo’s Wasser gibt.” Humpinger lachte. „Stellens sich vor, in Bitterfeld, der Damm hält nicht, das Chemiewerk, es macht wumm, die Katastrophe: mein Geschäft.”

 

Das Telefon klingelte wieder. „Regensburg, für die Familie. Ist auch spannend. Steigt der Pegel, hält der Damm vor der Altstadt, oder hält er nicht? Würde ich Ihnen sehr empfehlen. Gibt auch noch Unterkünfte in der Stadt. Wenn es Katastrophenalarm gibt in Regensburg, sind Sie mit Ihrer Familie live dabei, wenn das kein Urlaubserlebnis ist. Eine Woche? Gerne. Für vier Personen.”

 

Humpinger sah den Journalisten wieder durchdringend an, beugte sich zu ihm vor. „Wenn er bricht, der Damm”, sagte er mit leiser Stimme, „wenn er bricht, dann läuft mein Telefon heiß, dann wollens alle nach Regensburg. Glaubens mir, so eine nasse Stadt, Land unter, in Bayern, in Sachsen, in Böhmen, in Österreich. Wenns so weitergeht kann ich dieses Jahr noch an die Börse.” Humpinger blickte zur Decke, als sei dort ein Himmel. „Leider hält das Wetter nicht, verstehns. Hört auf zu regnen. Die Regenwolken ziehen in den Kaukasus. Aber wer will schon zum Kaukasus? Der ganze Osten ist doch eine Dauerkatastrophe. Außerdem hab ich da kaum Infrastruktur. Dieses Kauderwelsch, das die da sprechen. Verstehns.”

 

Die Tür ging auf, eine Frau kam hereingestürmt. „Ah, Susi, endlich”, sagte Humpinger. „Hams noch Fragen, fragens ruhig, aber jetzt muss ich. Frl. Susi wird Ihnen gerne weiter helfen.”

 

„Hast die aktuellen Pegelstände?”, fragte Humpinger Susi. Die nickte, drückte ihm einen Zettel in die Hand. „Die Moldau steigt weiter”, rief Humpinger, war schon zur Hälfte aus dem Büro, drehte sich noch mal um. „Da ersaufens in ihren eigenen Häusern, da kann man vom Hubschrauber aus zuschaun.” Dann ging er raus, kehrte aber noch einmal zurück. „Ihr Journalisten”, rief er zur Tür herein. „Der Humpinger hat schon eine Sightseeingtour zusammengestellt, da habt’s ihr von der Presse noch nicht einmal einen Kameramann aufgetrieben. So schnell ist Katastrophen Humpinger und Co, schreibens des in ihrem Blattl”, drehte sich wieder um, kam aber nochmals zurück: „Ich”, sagte er, zeigte mit dem Finger auf den Journalisten, „ich tu’ wenigstens was für die Leut’”, machte kehrt und knallte die Tür ins Schloss, dass der Journalist zusammenzuckte.

 

 

 

 

ENDE

 

 


Jana von Fellenberg

 

lässt uns Interessanterweise wissen, dass sie zu Beginn ihre „Gedankenspinnerei“ in kitschig-verzierte Notizbüchlein hinein kritzelte und sogar jedem einzelnen einen Namen gab. Menschennamen, als wären es ihre Freunde, denen sie ihre Gedanken anvertraute.

 

Obschon heutzutage der Laptop das Papier abgelöst hat, schwelgt sie noch immer gerne in Erinnerungen an ihre ersten Wagnisse des Schreibens. Nach ihrem Berufswunsch gefragt, scheint sie ganz klare Vorstellungen zu haben und erprobt in einem „Vortrag ähnlichen Anfall“, unsere sozialwissenschaftlichen Kenntnisse! Abschließend meint sie betont ….., „egal, jedenfalls irgendetwas mit Menschen.“ Sie ist auf der Zielgeraden der Schule, lebt in Basel, wo ihr, was die Bildung anbelangt, alle Türen offenstehen. Wir freuen uns besonders, unseren Leserinnen und Lesern Janas Aufsatz ABGELEBT vorstellen zu dürfen. Sie beweist damit nicht nur ihr literarisches Talent, sondern einen bereits bewundernswerten, persönlichen Reifegrad. Gute Unterhaltung.

 

 

ABGELEBT (Aufsatz)

(Urheberrechte & Copyrights © by Jana von Fellenberg)

 

Ich bereue gar nichts. Nicht, als ich Asher eine reingehauen habe und ich diesen ekelhaften Knacks gehört habe, der seit zwei Tagen repetitiv in meinem Kopf spielt. Ich sehe das fast purpurfarbene Blut auf meiner ansonsten so blassen Hand. War es seins oder meins? Ich weiß es nicht mehr. Er hätte auf keinen Fall meinen Bruder erwähnen dürfen. Es war, als hätte ich einen unsichtbaren, dicken Vorhang um mich gehabt, bei dem ich weder etwas sehen, hören, noch fühlen konnte außer heißer und rasender Wut. Ich habe ihm die Nase gebrochen, haben sie gesagt. Die anderen. Meine Mitschüler, die Lehrer, die sich jetzt zum Ziel genommen haben, mein Leben durch gespickte Bemerkungen zur Hölle zu machen. Ich sehe alles und höre alles, dumm bin ich nicht. Die abschätzigen Blicke, der spöttische Tonfall. Teilweise höre ich auch ungewollt Besorgnis und ein Hauch von Unglauben schwingt immer mit.

 

Die Einzelgängerin, Ava, hat ihm eine reingehauen. Wer weiß, was als Nächstes kommt….. Quiet Kid-Syndrom. Sehr witzig. In diesen Momenten, in denen die Leute mit vorgehaltener Hand reden, zähle ich die Spinde im Gang. Blaue, beklebte, und solche, die so aussehen, als würden sie immer zu gekickt, ihnen wird keine besondere Beachtung geschenkt. Weiter zähle ich, zwanzig, dreißig, hundertvierzig… Das sind die guten Momente. In den schlechten Momenten bin ich destruktiv, wie sie es nennen. Das habe ich einmal im Internet nachgeschaut, meine Informationsquelle für alle möglichen und unmöglichen Dinge. Was wissen die anderen schon über mich?

 

Die meisten kennen nicht einmal meinen Namen, aber den meines Bruders, Adam, den kennen sie. Überall prangt sein Gesicht, mit diesem schwarzen Balken, und sein Name. A.L. nennen sie ihn. Der jüngste Selbstmordtote unserer Stadt. Wenn ich das höre, wehrt sich alles in mir dagegen. Woher wollen alle so sicher wissen, dass es Selbstmord war? Man sagt, seine Fingerabdrücke wurden auf der Schusswaffe inspiziert. Glauben tue ich niemandem. Er hat nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Seltsam war alles, nicht mal eine Träne habe ich an seiner Beerdigung rausgedrückt. Ich weine nicht. Starke Mädchen weinen nicht, hieß es doch immer. Alle haben etwas erwartet. Dass ich in Tränen ausbrach und mich auf die Knie schmeiße, dass ich in Depressionen untergehe und es meinem Bruder gleichtue.

 

Wir waren unzertrennlich. Er war mein bester Freund. Wir waren Zwillinge. Er ist ohne Warnzeichen gestorben. Man hat ihn gefunden, tot. Die Waffe neben sich. Das sollte doch irgendwas in dir auslösen, höre ich die empörten Stimmen. Aber das ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass ich den Schmerz weggeschoben habe, bevor er mich erreichen konnte. Wisch. Wie ein toter Vogel vor dem Fenster. Und auch wenn er mich erreicht hätte, in dem Moment, als ich die Nachricht bekam, in diesem Augenblick ist ein Teil von mir weggestorben. Vielleicht ein unwichtiger Teil, wie etwas, was schon lange hätte entsorgt werden sollen. Es wäre, als wäre Adam ein Körperteil von mir gewesen, der amputiert wurde. Phantomschmerzen, aber ohne die Schmerzen. Aber mit Geist. Ich habe sie nämlich mittlerweile erstickt, oder so rede ich es mir ein.

Zu einem Therapeuten haben sie mich geschickt. Um deine aufgestauten Gefühle zu verarbeiten, haben sie gesagt. Lächerlich. Ich weiß, dass sie es tun, weil sie mich für eine Gefahr für die gesamte Schule halten. Als würde ich jeden Moment in meinen Rucksack langen und seelenruhig ein Maschinengewehr herauskramen. Man könnte meinen, sie würden mich für eine Psychopathin halten. Das finde ich besser, als wenn sie Mitleid heucheln würden. Zuckersüß und klebrig ist die Schleimspur, die sie hinterlassen. Danach gehen sie Nachhause vor die Glotze und verschwenden keinen Gedanken mehr an das Leid der Welt. Alles heil, solange es ihnen gut geht und sie ihr eisgekühltes Feierabendbier genießen können. Aber für mich funktioniert das Spielchen nicht. Für mich wird nichts mehr so wie vorher. 

 

In seiner seelenlosen, weißen Praxis starre ich auf die gegenüber-liegende Wand hinter ihm, ohne auf seine bohrenden Fragen einzugehen. Eine Kinderzeichnung. Ein kleines Mädchen mit einem schneeweißen Hund und seiner Familie, sie lächeln und sind glücklich, soweit man dies auf den unbeholfen gemalten Gesichtern erkennen kann. Schöne heile Welt. Dazu das Geklopfe mit den Fingern des Psychologen. Tapp. Tapp. Tapp. Es tut weh in meinen Ohren, weh in meinem Kopf. Es schmerzt fast seelisch. Stattdessen zähle ich nun die Blumen auf der Heile-Welt-Zeichnung. Eins, zwei, drei kleine Kreise mit krakeligen, orangen Blütenblättern. Das tut gut. Alles ausblenden und mich auf die Welten anderer zu fokussieren. Von wem dieses Bild wohl ist? Seiner Tochter? Oder einer seiner Kinderklienten? Arme kleine Kinder. Werden hierher mitgezogen, wie dysfunktionale Gegenstände. Von überforderten Eltern.

 

Das Räuspern des Psychologen holt mich mit seiner unangenehm penetranten Stimme wieder ins hier und jetzt zurück. Wie es mir gehe, fragt er mich. Ich komme mir im falschen Film vor. Wenn ich Smalltalk führen möchte, den ich bis aufs Blut nicht ausstehen kann, würde ich zu meiner netten Friseurin gehen. Dafür bin ich nicht da. Ich bin da für andere, die glaubten, dass sie wüssten, was das Beste für mich ist. Als zählten meine Gefühle und Gedanken nichts. Sie machen ihre Pflicht, es ist nicht so, als würden sie sich wirklich um mein Wohlbefinden scheren. Niemand. Familie soll immer da sein für einen, so heißt es doch. Wie ironisch, wenn man bedenkt, dass meine Eltern nach dem mysteriösen Tod meines Bruders sich in ihre eigene Welt verkriechen. Mein Vater geht meiner Mutter mit jeder Kollegin fremd. In der Hoffnung, wieder das Leben zu fühlen. Statt zu trinken, ist ja besser so, meint er, als wieder komplett der Alkoholsucht sich zu ergeben. Ach ja, auch ein Nebeneffekt eines Todes. Alkoholismus. Aber meine Mutter macht Überstunde für Überstunde, um ja nicht mit ihren Familienmitgliedern konfrontiert zu werden. Die Wunde ist frisch. Man muss sie beide verstehen. Dass ich ihnen aber komplett am Arsch vorbeigehe, das interessiert niemanden.

 

Ich verschweige ihm, dass ich Tag für Tag heimlich die Tabletten meiner Mutter schlucke, um den Schmerz zu unterdrücken, den ich seit zwei Monaten in mir herumtrage oder eher mitschleppe, wie ein lästiger Abszess. Jeden Tag wird die Dosis erhöht. Irgendwann ziehen zwei oder drei von diesen weißen runden Dingern nicht mehr. Mehr und mehr. Vier, fünf, sechs. Anfangs war es der Effekt. Irgendwann machst du es nur noch, um das Vorher aufrechtzuerhalten. Es macht dich krank und stumpf. Aber ich schäme mich zu sehr dafür, um mich zu öffnen. ES ist ein stummer Hilferuf. Wenn es so weitergeht, werde ich vor den Augen der Welt verrecken. Aber heute noch nicht. Perfekt antrainierte Maske aufsetzen. Eine, genau für solche Momente, wo ich mich meiner Gedankenwelt ausgeliefert fühle. Viel zu nah. Gut gehe es mir. Nur genug die Mundwinkel hochziehen und die Augen, meine leblosen Augen, zum Strahlen bringen. Alles gelogen, natürlich. Zwei Jahre tun sich unzählige Therapeuten das an. Alle drei Monate wechsle ich, hoffnungsloser Fall lautet mein Deckname. Abweisen können sie mich auch nicht. Nicht, nach dem Tod meines Bruders. Zu groß ist die Gefahr, dass ich mir auch etwas antun würde. Sehr intelligent, diese Seelenklempner. Stolz sehen sie nicht aus, wenn sie in ihren Sesseln sitzen, die meisten kleiner als ich. Sie sehen so aus, als hätten die Probleme der Klienten in ihren Gesichtern tiefe Furchen gezogen. Darum habe ich mir geschworen, mich nie als Mülleimer für seelischen Abfall bereitzustellen. Vor allem für so Menschen wie ich, die wie gedruckt Lügen, man aber ihre Maschen glasklar durchschauen kann.

 

Als Kind wird einem eingeschärft, bloß nicht zu lügen. Wenn du lügst, wächst dir eine lange Nase, sagten sie. Fast lustig, wenn man darüber nachdenkt, dass die Welt heutzutage ausnahmslos aus Lügen besteht. Die ach-so-vorbildlichen Erwachsenen legen keinen Wert auf die Wahrheit, sie malen sich die Welt, so wie sie es wollen und hoffen, dass sie damit bis ans Lebensende durchkommen. Die heutige Strategie zum Überleben. Lüge, und die Menschen wollen dir glauben. Warum ihnen geglaubt wird? Weil sie es hören wollen. Sie wollen beruhigt weiterleben können. Sie manipulieren sich selbst, in dem sie sich selbst das Recht geben, Probleme von sich selbst, anderen und der Welt einstufen zu können. Als wäre das eine schlimmer als das andere. Bullshit, das wissen sie. Wollen es bloss nicht wissen. Die Wahrheit tut weh. Aber bei mir zieht diese Masche nicht mehr. Die perfekt antrainierten Sätze und Reden habe ich schon lange durchschaut. Wenn man selbst eine Fassade aufgebaut hat, undurchlässig wie eine Panzerglasscheibe, errät man ziemlich schnell, was hinter den Erfolgreichen, den armen, ausgebrannten Menschen steckt. Leere vielleicht. Schwarze Watte. Das Gefühl, nichts mehr zu spüren. Kein Schimmer von Affirmation. Am Ende hat man ein Fünkchen Emotion erhalten. Danach trinkt man über den Schmerz hinweg, Tag für Tag. Es wird immer mehr. Wenn die Wirkung nachlässt, wird die nächste Flasche klebriges Martini gekauft, oder Beruhigungstabletten, je nachdem. Klingt nach einer sehr verheißungsvollen Zukunft für mich, für uns nächste Generationen.

 

Großartig, dass ich immerhin im Bereich dumpfe Watte schon Lebenserfahrung habe.

 

Ich habe jegliche Hoffnung in mich und die Menschheit verloren. Es gibt Leute, die sagen, dass trotz allem ein kleines Licht in jedem Menschen steckt. Schwätzer.

 

Von außen werde ich immer die Eigenbrötlerin mit dem schwarzen Strickpullover sein. Groß ist er, als würde ich darin versinken. Der Gegensatz bilden die abgeschnittenen Kinderhosen. Mein Bruder sagte immer, dass sie eine Un-Länge haben. Sie enden eine Handbreite über dem Knie, weder lang noch kurz. Zwischen zwei Dingen aber trotzdem nichts. Ich glaube, mein Äusseres macht mehr einen verlorenen Eindruck. Meine schwarzen Haare lasse ich immer als Vorhang vor meinem Gesicht, gefärbt natürlich. Damit niemand meine Augen sieht, die braun und kalt vor sich hinstarren. Voller Wärme sind sie einmal gewesen. Meine Augen leuchteten fast golden, mit diesem dunklen Ring um die Regenbogenhaut. Man sagt, die Augen sind das Tor zur Seele. Unsinnig. Es sind zwei starre Punkte, bei mir hat niemand mehr Zugriff auf meine Seele, nicht einmal ich selbst. Freunde habe ich keine. Das will ich auch nicht haben. Freunde bedeuten Verpflichtungen und Vertrauen. Das kann ich kaum mehr aufbringen. Ob das normal ist? Das weiß ich. Ist es nicht, würde mir jeder Therapeut mit diesem vorwurfsvollen Ton sagen. Bloß nicht auf die leichte Schulter nehmen.

 

Sie würden jetzt seufzen und alles aus meiner Kindheit aufarbeiten. Aber das ist nicht der Fall. Vielleicht brauche ich, sollte ich, die Therapie einigermaßen ernst nehmen. Aber ich werde nicht alles auskotzen, was ich jahrelang in mir zu halten versuche. Aber die Zeit fühlt sich gleichzeitig unendlich an und auch nur ein Luftzug. Vielleicht ist mir einfach schon lange die Luft ausgegangen.

 

Gleich wie bei meiner Kindheit. Weg. Als wäre sie nie da gewesen. Mein bisheriges Leben hat sich angefühlt wie der Hauch eines Augenblicks. Wie war sie, würde man mich fragen. Ich würde in mich gehen und nach Antworten lauschen. Emotionsreich würde eine dünne Stimme sagen. Erlebnisreich, schön und vor allem: vollkommen. Jetzt fühlt sich alles unpassend an. Dass die Sonne scheint, es kommt mir falsch vor, dass Menschen in der Schule lachen. Dass Menschen reden, Dinge erleben, bei denen ich nicht dabei bin. Dass ich jeden Morgen aufstehe und jeden Tag so tue, als wäre nichts passiert.

 

Aber allem voran mein Zuhause, welches ich mittlerweile ungern als mein Zuhause bezeichne. Ohne meinen Bruder ist es Leerraum mit zusammengewürfelten Holzklötzen, die Möbel genannt werden. Es ist ein großes Haus, so wie man es aus Werbungen für Grillgut kennt. Aber der Schein trügt. Die Wände sind so dünn wie Papier und auch so ist das Haus ein lebloses Beige. Hier wohne ich, ganz oben, damit ich möglichst weit weg bin vom Keller, da gehe ich unter keinen Umständen runter.

 

Meine Eltern haben nach Adams Tod alle Erinnerungen in den Keller verschifft oder in unserem Kamin verbrannt. Verstehen konnte ich das nie, vielleicht war es ihr Weg, damit umzugehen. Zwar hätte ich diese Dinge gerne behalten, aber wir alle wussten, auch meine Eltern, dass ich diese Dinge in den nächsten zwanzig Jahren nicht anschauen werde. Weil ich nicht damit umgehen kann. Aber heute hat sich es so angefühlt, als drehe ich mich im Hamsterrad. Das erste Mal in Jahren habe ich dies bemerkt und es hat mich wie ein Schlag getroffen. Als ich in dieser Praxis gesessen bin, das Bild angeschaut habe. Es kommt mir vor wie ein Fiebertraum, alles verzerrt. Wie damals, als wir Kinder mit vierzig Grad im Bett lagen, immer mit der Annahme, dass wir vor unserem sechsten Geburtstag eingehen werden. Dass ich mich daran noch erinnern kann. Scheiß-Schuhe, ich kann nicht länger in den Tretern stehen. Ärgerlich kicke ich sie mir von den Füssen, unbeachtet, in welche Richtung. Etwas klirrte und krachte und ich wünschte mir, dass ich nie auf die Schnaps-Idee gekommen wäre, mich wieder in erloschenen Erinnerungen zu suhlen. Dann aber erhasche ich einen Blick auf Pisse gelbe Farbe. Moment. Die kenne ich. Und wer hätte es gedacht, es war unsere Zeitreisebox. Das klingt wie in einem kitschigen Film, in dem die Protagonistin und ich jetzt als Anti-Heldin in Tränen ausbricht. Das hier ist aber kein billiger Coming-of-Age- Streifen. So weit kommt es noch. Trotzdem hat das meinen Zorn etwas gelindert.

 

Mit zitternden Händen versuche ich, den Deckel zu öffnen. Warum zur Hölle zittere ich? Das kommt von der Kälte. Etwas anderes rede ich mir nicht ein. Ein Stück Papier halte ich in der Hand. Zwar sieht es aus, als hätte es schon einige Jahre auf dem Buckel, aber der Text oder mehr die Notiz ist handgeschrieben. Das sieht nach meiner Handschrift aus. Verglichen haben wir die, Jahre für Jahre und ich war eine Niete im Schönschreiben. Bereitwillig mache ich mich an die Arbeit, die Sauklaue zu entziffern. Mühsam ist das, wenn in großen Lettern geschrieben wird, das haben wir als Kinder immer gemacht, um uns gegen die  Erwachsenen aufzulehnen oder so. Aber dann fühle ich mich von der Zeit versetzt. Es ist ein Traum. Unser Traum. In dieser Zeitkapsel verewigt, sodass es wahr werden wird. Fast süß.

 

Als mein Bruder und ich jünger waren, träumten wir davon, Astronauten zu werden. Wir haben damals die Menschheit gehasst und unsere Kuscheltiere über alles geliebt. Danach haben wir uns entschlossen, uns in das All schicken zu lassen. Irgendwo zusammen auf einem sandigen Planeten. Nur wir zwei, und unser Zoo aus Plüschtieren. Wir haben uns vorgestellt, wie wir da allein lebten. Dass das nicht möglich war, schien uns fast egal zu sein. Es war eine Sekunde Lichtblick in dem endlosen langen Kreis von Realität und Leid. Später haben wir nicht mehr darüber geredet. Astronaut hätte er sehr wohl werden können. Er war der Jahrgangsbeste in Naturwissenschaften. Danach studieren, zack zack, das Studium durch das Studium geprescht. Er hätte es erreichen können, wenn er es gewollt hätte. Diese Erkenntnis verletzt mich auf eine Art, bei der ich nicht dachte, dass es möglich wäre. Sein Traum wäre möglich gewesen. Irgendwas in meinen Kopf begann sich in Bewegung zu setzen, es war so fremd. Es schien, als hätte sich ein Gefühl in mir eingenistet. Klein ist es und frisch, aber es ist ein Funken. So schnell wie es da war, so schnell war es auch wieder weg. Vielleicht habe ich es mir für eine Sekunde eingebildet. Hoffnung.

 

 

 

ENDE

 

 


Mit „BIEDENBACH“ gelingt Achim Hildebrand eine weitere Geschich-te, die viel kribbelnde Spannung erzeugt. Erleben Sie als Leserin und Leser, was sich Biedenbachs Büro Mitarbeiter, Brosig, einfallen lässt, um mit scheinbar harmlosen Mitteln die extrovertierte und störende Art Biedenbachs etwas zu korrigieren, um das Ambiente im Büro wieder erträglich werden zu lassen.

BIEDENBACH

(Urheberrechte und Copyrights © by Achim Hildebrand)

 

 

  Schritte dröhnten die Treppe hinauf, dazu ein hallendes Räuspern und ein rhythmisch geschüttelter Schlüsselbund. 

Biedenbach war im Anmarsch.

Brosig seufzte leise und versuchte, die Nase hochzuziehen. Es ging nicht. Beide Nasenlöcher waren verstopft und mehr als ein gequältes Fiepen in den Nebenhöhlen kam nicht dabei heraus. Er verstand nicht, wieso eine derart verstopfte Nase trotzdem ständig laufen konnte und langte nach den Papiertaschentüchern.

Die Bürotür schwang auf und eine wuchtige Gestalt schob sich herein. Bedächtig aber unaufhaltsam wie ein Erdrutsch.

   "Moin, Moin!"

"Moin", prustete Brosig in sein Taschentuch.

Biedenbach war da!

 

Er stampfte zu seinem Schreibtisch, rückte den Sessel zurecht und ließ sich mit einem wohligen "Aaaach" hinein sinken. So blieb er einen Moment sitzen, schaute prüfend aus dem Fenster und beugte sich dann mit einem "Uiuiui" hinunter, um seinen PC einzuschalten. Während der Computer hochfuhr schaute Biedenbach ihm dabei zu, wobei er leise aber resonant "Dubdidudidu" vor sich hin blubberte.

Brosig tupfte sich die letzten Reste Feuchtigkeit von der Nase. Sie war wund und er scheute davor zurück, sie zu berühren. Von dem Frösteln, den Gelenkschmerzen und den entzündeten Mandeln ganz abgesehen. Eine Erkältung hatte viel gemeinsam mit Biedenbach. Beides musste man erleiden. Der Unterschied war nur: Die Erkältung ging irgendwann wieder vorbei - Biedenbach blieb.

 

Dabei war er gar nicht so verkehrt, ein guter Kumpel, hilfsbereit und teamfähig und gute Arbeit leistete er überdies.  Und ruhig, in dem Sinn, dass er nicht zuviel redete, war er auch. Eigentlich der ideale Bürogefährte, wäre da nicht sein Drang gewesen,  fast jede seiner Tätigkeiten mit einem Geräusch oder einem kurzen Kommentar zu begleiten oder sie besonders laut auszuführen. Demonstratives Räuspern, unartikulierte Lautketten, Klatschen auf die Oberschenkel, immer wiederkehrende Melodiefetzen, auch Rülpser in allen Variationen - Biedenbachs Repertoire war unerschöpflich

"Oaaaa." Er stemmte sich wieder aus dem Sessel hoch und stampfte hinüber zur Kaffeemaschine.

 

Brosig hatte sich selbst immer wieder damit zu besänftigen versucht, dass er eben überempfindlich sei, dünnhäutig, wegen der vielen Sorgen, die ihn drückten. Und dass Biedenbachs Geräuschkulisse nichts anderes war als Ausdruck von Lebensfreude und Wohlbefinden.  Es half alles nichts - Biedenbach ging ihm auf die Nerven. Und in letzter Zeit ertappte er sich immer häufiger beim Grübeln darüber, was er vielleicht tun konnte, um dessen Äußerungstrieb einzudämmen. Ihn deswegen anzusprechen schien so sinnvoll, wie einen Motor zu bitten, etwas leiser zu dröhnen. Forderungen oder gar Befehle von einem Typ wie Kurt Brosig an einen Reiner Biedenbach waren auch kein gangbarer Weg ...

"Schlrlrchfssst." Biedenbach hatte an seinem Kaffee genippt.

... eine Intrige spinnen, die dafür sorgte, dass Biedenbach gekündigt oder wenigstens in ein anderes Büro versetzt wurde - Brosig machte sich nichts vor, für so etwas war er zu schlicht gestrickt. Das würde in die Hose gehen. Oder zum Betriebsarzt gehen und... bloß nicht, er war eh schon so oft krank und wenn er sich nun auch noch als nicht belastbar erwies - als schlechter Kollege... Kriminelle Dinge, wie etwa, Biedenbach etwas in den Kaffee zu tun, kamen erst Recht in Frage.

Es schien keinen Ausweg zu geben. Wenn er Pech hatte, würde er die nächsten zwanzig Jahre mit Biedenbach in diesem Büro verbringen. Aber das hieß auch, dass er früher oder später durchdrehen würde...

"Aaaaaargh." Biedenbach stand vor dem Fenster und strecke sich genüsslich. Verdammt, wie machte der Kerl das bloß, sich so wohl zu fühlen?

 

*

 

In der Mittagspause ging Brosig grundsätzlich in die Kantine, da Biedenbach in dieser Zeit meist im Büro sitzen blieb, um im Internet zu surfen, oder durch den nahe gelegenen Baumarkt bummelte. Brosig hatte sich heute für eine Kohlroulade entschieden und sich an den Tisch hinter der großen Dieffenbachie gesetzt.

Er war etwas spät dran. Die Kantine leerte sich bereits wieder. Deshalb war er ein wenig überrascht, als er jemand fragen hörte:

"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Er schaute von seinem Teller auf. Es war Frau Gerlach aus der Controlling-Abteilung. Eine der wenigen Kolleginnen, die er näher kannte, weil er bei ihr seine Zeitaufschreibungen abgeben musste.

"Klar", er nickte. Etwas zu spät, denn sie hatte schon ihre Handtasche über die Stuhllehne gehängt und sich gesetzt. Wie meistens hatte sie sich nur einen Kaffee geholt.

   "Eigentlich hätte ich ja auch Roulade genommen", begann sie übergangslos. "Aber bei Rindfleisch bin ich immer ein bisschen skeptisch. Wenn man das nicht richtig behandelt, wird es leicht trocken und zäh."

    "Die hier geht eigentlich", sagte Brosig.

"Übermorgen wollen sie im Nelkenweg eine Baustelle aufmachen", wechselte sie das Thema. "Dann kommt man nur noch über die alte Bergwerksstraße zur Autobahn. Für mindestens drei Monate. Da muss man morgens vorneweg eine Viertelstunde früher aufstehen ."

Während er schweigend weiter aß, hüpfte sie von einem Thema zum anderen. Sie kannte ihn als ruhigen Vertreter und störte sich nicht daran, dass er nicht viel redete. Dass er heute aber überhaupt nichts sagte, fiel ihr schließlich doch auf.

    "Sie sind aber still heute", sprach sie ihn direkt an. "Und so richtig gut aussehen tun Sie auch nicht. Fühlen Sie sich nicht wohl?"

    "Bisschen erkältet", brummte er kauend.

"Erkältet? Ach Sie Armer. Warten Sie mal, da hab ich was für Sie." Sie drehte sich nach ihrer Handtasche und holte ein braunes Glasfläschchen hervor. Brosig beäugte misstrauisch das handgemacht wirkende Etikett.

    "Was ist das?"

"Steinrosentinktur. Zwölfte Potenz. Das hilft mir immer sehr gut, wenn ich spüre, dass eine Erkältung im Anzug ist."

"Was Hömopathisches?"

    "Stimmt", sagte sie. Und als sie die leichte Abneigung in seinem Blick bemerkte fügte sie hinzu. "Wieso?"

"Das hilft doch nur, wenn man fest dran glaubt."

Sie hob leicht die rechte Braue.

"Also Frau Zörb nimmt es, Herr Weigand und Frau Büchner auch. Und alle sind sehr damit zufrieden." Sie schraubte das Fläschchen auf und nahm ihren Teelöffel in die Hand. "Hab ich noch nicht benutzt", versicherte sie.

"Ich mein ja nur, ich hab mal gelesen, die Sachen sind so verdünnt, dass da gar nichts mehr drin ist, was wirken könnte."

Sie seufzte etwas ungehalten.

"Ach ja. Das wird von den etablierten Ärzten immer wieder aufgewärmt. Aber die haben das Prinzip überhaupt nicht verstanden."

"Welches Prinzip?"

"Na, wie diese Medikamente wirken. Es kommt nämlich gar nicht darauf an, dass da ein Wirkstoff drin ist. Wichtig ist, dass er einmal drin war."

Brosig schaute sie zweifelnd an und sie fuhr fort:

"Das Wasser kann nämlich wegen seiner Struktur sämtliche Informationen über einen Wirkstoff und seine Eigenschaften speichern und sie weitergeben. Das heißt, wenn man den Wirkstoff wieder rausnimmt, bleibt die Wirkung trotzdem erhalten. Und es hat keine Nebenwirkungen mehr. Wasser ist übrigens für sich schon ein faszinierender Stoff. In Japan hat man da in den letzten Jahren ganz erstaunliche Entdeckungen gemacht." Sie hatte einen Zuckerwürfel auf den Löffel gelegt und begann Tropfen zu zählen.

    "Hört sich ziemlich eigenartig an", sagte Brosig. "Also alles, was ich stark verdünne wird dadurch zum Medikament? Das müsste einem doch auffallen, ich meine, wenn man aus einem Glas Alka Seltzer trinkt, es nicht richtig ausspült und nachher wieder draus trinkt..."

    "So simpel ist es wieder nicht. Die Wirkung muss noch aktiviert und verstärkt werden, indem man es genau nach Vorschrift schüttelt. Aber das ist sehr kompliziert. Da weiß ich auch nicht so genau Bescheid drüber. Jetzt nehmen Sie schon." Sie hielt ihm den Löffel hin, auf dem der feuchte Zuckerwürfel langsam in sich zusammenfiel.

    "Steinrose hab ich noch nie gehört."

"Das ist ein Kraut, das dieselben Erscheinungen hervorruft wie eine Erkältung. Das ist auch so ein Prinzip in der Homöopathie, dass man Gleiches mit Gleichem behandelt. Es ist gewissermaßen so, dass das Abwehrsystem denkt, man sei erkältet und entsprechend Abwehrkräfte bereitstellt. Der Körper heilt sich praktisch selbst."

    "Aber..."

"Sogar die Krankenkasse bezahlt manche homöopathischen Sachen. Die sind heute absolut anerkannt."

Brosig griff nach dem Löffel. Wenn ohnehin nichts drin war und er Frau Gerlach einen Gefallen damit tat ...

Es schmeckte nur süß, wegen des Zuckerwürfels, und ein klein wenig nach Alkohol.

    "Wie lange braucht das denn, um zu wirken?"

Frau Gerlach zuckte mit den Achseln.

    "Ist vielleicht unterschiedlich. Aber bei mir und bei allen die ich kenne, wirkt es spätestens nach einer Stunde."

    "Bin mal gespannt." Brosig schob dem süßen Geschmack den letzten Bissen Roulade hinterher.

    "Es ist übrigens bald vorbei mit den Zeitaufschreibungen", sagte Frau Gerlach, während sie das Fläschchen wieder verstaute. "Die Administration hat jetzt eine Software besorgt, mit der man die Zeiten übers Netzwerk festhalten kann."

   "Oh ...", 'dann sehn wir uns ja gar nicht mehr' hätte er fast hinzugefügt. Aber er ließ es bleiben. Frau Gerlach war wie er, alleinstehend und Mitte Vierzig. Recht attraktiv noch dazu. Im Hinterkopf hatte er immer die Absicht gehabt, sie eines Tages anzusprechen und vielleicht zum Essen einzuladen, oder ins Kino... Doch er hatte es immer vor sich her geschoben. Er sah sie ja jeden Freitag und konnte warten, bis sich die passende Gelegenheit ergab. Jetzt war es wahrscheinlich zu spät, denn bis Juni würde er sich kaum dazu entschließen können, sie doch noch anzusprechen. Die Begegnungen in der Kantine ergaben sich eher zufällig und selten.

Er fühlte ein tiefes Bedauern.

 

*

 

Der Rest des Tages verlief wie gewöhnlich, außer, dass Brosig nun auch noch die Niedergeschlagenheit darüber quälte, den regelmäßigen Kontakt zu Frau Gerlach zu verlieren.

Erst auf der Heimfahrt wurde es besser, als er fühlte, dass seine Erkältung abzuklingen begann. Anscheinend wirkten diese Tropfen doch  - auch wenn ihm das Prinzip, dass das Wasser sich irgendetwas merken sollte, und dass man das durch Schütteln verstärken konnte, weiterhin absurd erschien. Gleiches mit Gleichem, das war doch reiner Schamanis... er wäre fast auf die Bremse getreten, als ihm ein Gedanke kam.

 

Schamanismus hin oder her - wenn das mit der Homöopathie tatsächlich so funktionierte und man Schlechtes mit Schlechtem behandelte, musste das dann nicht genau so gut umgekehrt gehen? Gutes mit Gutem?

Angenommen, jemand platzte vor Wohlbehagen, so etwa wie Biedenbach zum Beispiel, und man gab ihm etwas, das Wohlbehagen erzeugte in homöopathischer Aufbereitung ... dann musste dies doch dem Wohlbehagen entgegenwirken. Unwohlsein statt Wohlgefühl, Niedergeschlagenheit statt guter Laune. Und jemand, der so empfand, war nicht lebensfroh und nach außen gekehrt, sondern zog sich eher still in sich zurück. Brosig kannte das von sich selbst.

Und wenn es funktionierte?, nur mal angenommen, dann würde es sich nicht mal nachweisen lassen. Es war ja nichts drin als irgendwelche Informationen innerhalb des Wassers. So weit war die Kripo noch nicht, dass sie die auslesen konnte. Viel würde es der behandelten Person auch nicht schaden. Es war ja nur ein erzeugtes Gefühl, keine direkte Wirkung auf den Organismus.

 

Aber was sollte man nehmen? Als erstes fiel ihm Alkohol ein, aber er verwarf den Gedanken wieder. Alkohol war ja ohnehin in der Tropfen, wahrscheinlich um sie haltbarer zu machen.  Er brauchte sowieso noch mehr Informationen, bevor er etwas herstellen konnte. Von Homöopathie hatte er nie etwas gehalten und sich daher auch nicht weiter damit beschäftigt.

Brosig versenkte sich so in die Idee, dass er Mühe hatte, auf den Straßenverkehr zu achten und froh war, als er seinen Wagen vor dem Mietshaus parken konnte, in dem er eine Zweizimmer-Wohnung bewohnte.

Normalerweise hatte er seinen festen Ablauf, wenn er Feierabends nach Hause kam: Essen auf den Herd stellen, eine Stunde Haushaltsarbeit und Abendessen und dann Fernsehen oder Internet. Viele Abweichungen gab es davon normalerweise nicht. Aber heute setzte er sich gleich an den Computer und suchte im Internet nach Informationen darüber, wie man homöopathische Mittel herstellte. Es gab jede Menge davon und bald fühlte er sich in der Lage, sein eigenes Präparat anzufertigen.

 

Was er als Wirkstoff nehmen würde wusste er jetzt auch: Vor fünf Jahren hatte er depressive Phasen gehabt und vom Arzt einen Tranquilizer bekommen. Davon besaß er noch eine halbe Packung. Das war genau das richtige für seinen Plan. Tranquilizer munterten auf, hoben die Stimmung und sorgten dafür, dass man sich wohl genug fühlte, um seine Depressionen zu vergessen. Als homöopathische Aufbereitung würde das Zeug der Logik nach Niedergeschlagenheit, Trübsinn und Antriebslosigkeit erzeugen.

Nach einer Standardrezeptur pulverte er eine Tablette und setzte sie mit der entsprechenden Menge Wasser an. Noch einen Schuss Alkohol dazu und fertig.  Er ließ die Lösung zwei Stunden stehen, filterte sie dann ab, verdünnte sie bis zur zwölften Potenz und schüttelte sie entsprechend der Vorschrift. Dann füllte er sie in ein leeres Hustensaftfläschchen und legte dieses in seinen Aktenkoffer.

Es kamen ihm natürlich leise Zweifel, ob es in Ordnung sei, mit einem anderen Menschen derartige Experimente zu machen. Aber war es ein Experiment, jemandem einige Tropfen einer Flüssigkeit zu verabreichen, die chemisch gesehen nichts als Leitungswasser war?

Es war eine Maßnahme, die auf wackligen theoretischen Beinen stand. Vielleicht wäre die Erkältung auch ohne Frau Gerlachs Tropfen abgeklungen. Aber Brosig ließ sich darauf ein, weil sie seinem Charakter entsprach, unaufdringlich, unmerklich, ohne Aggressivität und Konfliktpotential. Und wenn es Probleme gab, hatte sie sozusagen nicht einmal stattgefunden. Das mochte er.

 

*

 

Biedenbach hatte die Gewohnheit, zur Toilette zu gehen, sobald er den Kaffee aufgesetzt hatte, wo er sich etwa zehn Minuten lang aufhielt. Als er das Büro verlassen hatte, stand Brosig auf und ging zum Kühlschrank, auf dem die Kaffeemaschine zischte und gluckerte. Er holte das Fläschchen aus der Tasche und schraubte es auf. Seine Hände zitterten dabei. Immer mit der Ruhe, er hatte jede Menge Zeit. Und so früh am Morgen kam noch niemand unerwartet zur Tür herein ... Brosig ließ das Fläschchen wieder sinken. Und wenn doch? Es gab immer ein erstes Mal. Außerdem, wenn die Wirkung von Dauer sein sollte, musste er Biedenbach die Tropfen jeden Tag verabreichen. Aber wenn der nun einmal unvermutet zurückkam, weil er irgendetwas vergessen hatte. Das war schon vorgekommen, und irgendwann würde er Brosig dabei erwischen, wie er sich am Kaffee zu schaffen machte. Brosig, der gar keinen Kaffee trank. Da würde er sofort Verdacht schöpfen.

 

Sein Blick fiel auf das Kännchen mit Kondensmilch. Das war die Lösung. Biedenbach nahm seinen Kaffee grundsätzlich mit Milch. Er würde selber dafür sorgen, täglich seine Tropfen zu bekommen. Rasch schüttete er etwa ein Viertel des Fläschchens in das Milchkännchen.  Besser etwas mehr. Er hatte nie darauf geachtet, wieviel Milch Biedenbach in seinen Kaffee gab.

 

Als dieser zurückkehrte, saß Brosig wieder an seinem Schreibtisch und blickte wie immer auf die Datenbankseiten auf seinem Bildschirm. Aber diesmal verfolgte er unter halbgesenkten Lidern genau, was Biedenbach tat.  Doch was sollte er schon Ungewöhnliches tun, wo er doch keine Ahnung hatte, was vorging? Er holte sich einen Kaffee, vergaß auch die Milch nicht und machte "Aaaargh", als er sich setzte, so, als habe er eine Zwanzig-Kilometer-Wanderung hinter sich.

 

Sein Verhalten änderte sich zunächst nicht. Er sorgte auch weiterhin für den gewohnten Geräuschteppich. Rief ein oder zweimal "Ou Baby", machte des Öfteren "Uh, uh, uh", rülpste und tappte rhythmisch mit den Füßen.

Einen Nebeneffekt hatte die Sache aber schon: Diesmal störte es Brosig nicht so sehr, denn die Geräusche gehörten jetzt sozusagen zum Befund.

 

Als Biedenbach nach Mittag aus dem Baumarkt zurück kam, hatte Brosig zum ersten Mal den Eindruck, dass er sich etwas ruhiger verhielt. Die Pausen zwischen seinen Lauten schienen eine Idee länger zu sein als sonst. Und bis zum späten Nachmittag verstärkte sich dieser Eindruck noch etwas. Aber Biedenbach war immer noch aktiv genug, um ihm auf die Nerven zu gehen.

Gut, er war auf dem richtigen Weg, dachte Brosig. Morgen würde er seinem Kollegen die doppelte Dosis geben und schauen, was passierte.

 

*

 

Am folgenden Morgen schien sein Kollege wieder ganz der Alte. Er ächzte, blubberte und tappte wie in seinen besten Zeiten. Die Dosis war also nicht nur zu niedrig gewesen, sie hatte auch nicht lange vorgehalten.

Brosig wartete wieder Biedenbachs Toilettenpause ab und ging zum Kühlschrank. Diesmal gab er die doppelte Dosis in die Milch. Das musste jetzt reichen, denn sie begann schon ziemlich dünn zu wirken. Wenn er noch mehr hineinschüttete, würde Biedenbach es sicher bemerken. Abgesehen davon, dass er plötzlich ein Milchkännchen besaß, das nie leer zu werden schien. Aber Brosig war zuversichtlich, denn sicherheitshalber hatte er das Fläschchen am Abend zuvor noch ein bisschen geschüttelt, um die Wirkung zu verstärken.

Es klappte tatsächlich. Zwei Stunden, nachdem Biedenbach seinen ersten Kaffee getrunken hatte, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Er saß mit hängenden Schultern vor seinem Monitor, seufzte hin und wieder leise oder schüttelte sacht den Kopf. Aber seine "Uh, uh, uh"'s und die anderen Lautäußerungen waren wie abgeschnitten. Im Büro herrschte eine fast surreale Stille, nur durchdrungen vom leisen Summen der PC-Lüfter.

Brosig atmete innerlich auf. Es hatte funktioniert und er hatte auf den Punkt die richtige Dosis erwischt. So musste er es beibehalten. Immer wenn ein neues Milchkännchen besorgt wurde, würde er es entsprechend präparieren und Biedenbach wäre der angenehmste Bürokollege, den man sich denken konnte.

Natürlich gab es noch hier und da ein paar kleine Schwächen in diesem Plan. Was zum Beispiel, wenn Biedenbach die Freude am Kaffeetrinken verlor? Egal, dann verflog die Wirkung des Mittels, er würde sich besser fühlen und wieder anfangen Kaffee zu trinken. Ein paar Stunden lang dann und wann ließ sich der "alte" Biedenbach sicher ertragen. Aber seiner Frau musste es natürlich auffallen, wie ihr Mann sich verändert hatte. Und? Was sollte sie tun? Sie würde ihn vielleicht zum Arzt schicken. Der würde nichts Organisches finden, irgendetwas wie Burn-Out diagnostizieren und ihn vielleicht für eine Zeitlang in Kur schicken. Umso besser, dann war er sogar ganz weg. Vielleicht vernachlässigte er auch seine Arbeit und wurde zwangsversetzt oder gar gekündigt. Welche Perspektive Brosig auch wählte, jede war günstig.

Er ertappte sich dabei, wie er leise und gutgelaunt vor sich hin pfiff. Ab heute würde alles anders werden. Er würde wieder gerne ins Büro gehen, einen entspannten Tag dort haben und abends ebenso entspannt nach Hause kommen. Vielleicht ging sogar sein ständiges Sodbrennen weg. Er hatte immer den Verdacht gehabt, dass es mit dem Stress durch Biedenbach zusammenhing.

Auf dem Weg zur Kantine kam ihm Frau Gerlach entgegen.

   "Na", rief sie. "Sie seh'n ja wieder richtig gut aus. Also haben die Tropfen doch geholfen."

    "Und wie!" rief er lachend zurück. "In jeder Beziehung."

Wow, dachte er, sie hat gesagt ich sehe gut aus. Und in einem Anfall von neu erwachter Unternehmungslust beschloss er, sie am kommenden Freitag zum Essen einzuladen.

Seine Hochstimmung hielt bis zum Feierabend an. Jedenfalls so lange, bis er vom Firmenparkplatz fuhr und auf das Umleitungsschild stieß. Richtig, Frau Gerlach hatte die Baustelle erwähnt, die hier heute aufgemacht werden sollte. Naja, man konnte nicht alles haben. Er folgte den weiteren Schildern, die ihn auf die alte Grubenstraße führten. Früher hatte sie als Zubringer zur  alten Kupfergrube geführt. Früher, das hieß, bis vor 60 Jahren, als die Grube dichtgemacht wurde hatte. Seitdem hatte sich niemand um die Straße gekümmert und sie sah dementsprechend aus. Fünf Kilometer schmale Holperstrecke mit Schlaglöchern und Erdbrocken, die die Traktoren verloren hatten. Mehr als Schrittempo konnte man kaum fahren, wenn man nicht einen Satz neuer Stoßdämpfer riskieren wollte.

Brosig schaute auf die Uhr um festzustellen, wie viel länger er für den Weg nach Hause brauchte, denn dementsprechend früher musste er am nächsten Tag auch aufstehen. Er kam auf zwanzig Minuten.

 

*

 

Natürlich war er doch etwas später dran, als er am folgenden Morgen ins Auto stieg. Mist. Seine Pünktlichkeit war, wie er wusste, eine der wenigen Eigenschaften, die seine Vorgesetzten besonders an ihm schätzten. Aber im Berufsverkehr hatte man natürlich kaum Chancen, Zeit gut zu machen. Nur auf der Grubenstraße hatte er ein wenig Luft, denn außer den Mitarbeitern seiner Firma benutzte sie kaum jemand. Er fuhr so schnell wie er glaubte, es dem Auto zumuten zu können.  Das Fahrzeug holperte und ruckelte, dass einem Angst werden konnte. Wenn er jetzt in ein tieferes Schlagloch fuhr, war mindestens eine Felge fällig, wenn nicht sogar ein Radlager. Aber er schaffte es immerhin, gerade noch pünktlich ins Büro zu kommen.

Dafür kam Biedenbach zu spät. Er hatte eine Einkaufstüte dabei, aus der er zwei Päckchen Kaffee und ein neues Milchkännchen holte. Das alte hatte er offenbar am Vortag geleert.

 

Brosig runzelte die Stirn. Jetzt konnte er natürlich nicht die Toilettenpause nutzen, um die Milch mit dem Mittel zu versetzen. Es war ja noch versiegelt und wenn Biedenbach es zum ersten Mal benutzte, muss er es auch versiegelt vorfinden. Vor der Mittagspause hatte Brosig also keine Chance, an das Milchkännchen heranzukommen, denn außer für de Gang zur Toilette verließ Biedenbach das Büro fast nie.

 

Wie sich herausstellte gewann er wertvolle Erkenntnisse durch die Verzögerung, denn er bemerkte, wie die Wirkung des Mittels nachließ. Biedenbach wurde zunehmend lockerer und besser gelaunt und gegen Mittag hatte er sogar wieder ein "Ou Baby" und ein paar wollüstige Stöhner zuwege gebracht. Schon ein bisschen zu viel für Brosigs Geschmack.

    "Na, geht's heute wieder in den Baumarkt?", fragte er, als sich sein Kollege die Jacke überzog und der Tür zustrebte.

    "Yep!", sagte Biedenbach entschlossen. "Brauch ein paar neue Fußabtreter für die Haustreppe."

    "Na dann viel Erfolg", rief ihm Brosig nach. Er ging zum Fenster, um zu beobachten, wie Biedenbach das Firmengelände verließ. Dann holte er das Fläschchen aus dem Aktenkoffer und wandte sich dem Milchkännchen zu.

 

Als er aus dem Baumarkt zurückkehrte, setzte Biedenbach als erstes frischen Kaffee auf und setzte sich mit einem gutgelaunten "Yeah!" an seinen Schreibtisch. Eine Viertelstunde später trank er mit provozierendem Schlürfen die erste Tasse und aß ein paar Donuts dazu.

Gegen halb Drei wurde Brosig von einem geschluchzten "O mein Gott!" aufgeschreckt. Er schaute am Bildschirm vorbei zu Biedenbach. Der saß zurückgesunken in seinem Sessel. Er wiegte wie in höchster Verzweiflung den Kopf hin und her, das Gesicht von Tränen überströmt und den Brustkorb von Schluchzern geschüttelt.

 

Brosig schluckte. Irgendwas war fürchterlich schiefgegangen. Er konnte sich nur nicht erklären was. Verstohlen öffnete er seinen Aktenkoffer und spähte nach dem Fläschchen. Es war noch halb voll, so wie es sein sollte. Er hatte sich also nicht mit der Dosis vertan und es war noch immer von der Mischung, die er zu Anfang benutzt hatte.

    "Geht's dir nicht gut, Reiner?", fragte er zaghaft.

"Ach, das hat doch alles keinen Wert – alles für die Katz", sprudelte es aus ihm heraus. "Alles sinnlos und hoffnungslos..." seine Stimme brach und er vergrub das Gesicht in den Armen. Brosig stand langsam auf und ging zu Biedenbachs Schreibtisch. Vorsichtig legte er ihm die Hand auf die Schulter.

    "Kann ich dir irgendwie helfen?"

Biedenbach schreckte hoch und blickte ihn aus verquollenen Augen an.

    "Helfen? Mir? Wer soll mir noch helfen? Du etwa? Sonst jemand? Es ist alles zu spät, alles ohne Sinn. Ich kann nicht mehr, ich kann echt nicht mehr."

Brosig merkte, wie er nervös wurde. Was sollte er jetzt machen? Biedenbachs Zustand war katastrophal. Ein schwerer depressiver Anfall. Das vernünftigste wäre, den Werksarzt zu holen und ihm eine Spritze verpassen zu lassen.

    "Nur ruhig Reiner. Gleich wird's dir besser gehen", sagte er sanft und beugte sich über den Schreibtisch, um zum Telefon zu greifen. Herrgott, welche Nummer hatte der verdammte Werksarzt? Seine Hand mit dem Hörer zitterte. Neben ihm stemmte sich Biedenbach aus seinem Sessel.

   "Ich kann nicht mehr!", schluchzte er wieder. "Zwecklos... alles zwecklos. Mir geht's erst besser, wenn ich das alles... "

 

Noch bevor Brosig erkannte was vor sich ging, stürzte Biedenbach zum Fenster und riss es auf. Für einen Moment zeichnete sich seine Silhouette schwarz gegen den Nach-mittagshimmel ab. Dann schien sie kleiner zu werden und war plötzlich verschwunden.

 

"Reiner!" mit einem Schrei eilte Brosig zum Fenster und blickte hinunter. Biedenbach lag unten auf dem Hof, den Kopf und den rechten Arm unnatürlich abgeknickt. Unter seinem Gesicht quoll es dunkelrot hervor und rann die Pflasterfugen entlang. Von der Laderampe her kamen zwei Männer gelaufen.

 

Brosig merkte, wie ihm schwindlig wurde. Großer Gott, was hatte er da angerichtet. Nur wegen … wegen ein paar absoluten Nichtigkeiten. Aber wie hatte es passieren können? Trug er überhaupt Schuld an Biedenbachs Zustand? Vielleicht gab es ja ganz andere Gründe, die dazu geführt hatten …

Sein Blick klärte sich wieder und er blickte über das Werksgelände hinaus, hinüber, wo die alte Grubenstraße sich am Wald entlang wand. Er fühlte das Holpern und Rumpeln seines Autos, sah den Aktenkoffer neben sich auf dem Beifahrersitz hopsen …

 

Mit jäher Deutlichkeit begriff er, was geschehen war, und die Erkenntnis schüttelte ihn.

 

 

ENDE


Kostüme

(Urheberrechte & Copyrights © by Michael Kothe)

 

Die Zugänge sind geschlossen, die Tiefgarage kann durchs Treppenhaus noch betreten werden, umgekehrt ist es nicht mehr möglich. Die Lichter sind herab gedimmt oder teilweise gelöscht: Feierabend im Einkaufszentrum. Langsam schiebe ich meinen Putzwagen durch die Gänge. Ich liebe diese Ruhe, diese Stille. Nun kann ich meinen Gedanken nachhängen. Trotz meiner Pflichten, denen ich artig nachkomme. Tagsüber stören mich die vielen Passanten, die sich hier durchdrängen. Einem Gehaste und Geschiebe, da komme ich oft mit meinem Wagen kaum durch.

 

Einzelne Ladenlokale sind noch nicht abgeschlossen, die Betreiber machen Kassensturz, räumen neue Ware ein für den nächsten Tag oder entspannen sich bei einer Tasse Tee, die sie in ihrer winzigen Pantry gebrüht haben. Den einen oder anderen sehe ich, wie er das Gitter herabzieht oder einfach die Glastür absperrt. Wir kennen uns. Nur vom Sehen, weshalb der gegenseitige Gruß unverbindlich bleibt.

 

Still grinse ich in mich hinein. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn man mich hier vergäße oder ich mich mit Absicht in einem der Geschäfte einschließen ließe. Was könnte ich alles anstellen! Mich im Uhrengeschäft bedienen und danach nie wieder arbeiten müssen – ich weiß, wie ich ans Steuergerät gelangte, ohne Alarm auszulösen –, Kassen der kleineren Läden um das Wechselgeld erleichtern  –  schließlich lassen viele Ladenbesitzer das Hartgeld in der Lade. Mein wirklicher Traum aber ist es, nur für mich selbst in einem Bekleidungsgeschäft eine Modenschau zu veranstalten. Ohne Zuschauer, ohne Zeitdruck, ohne den gestelzten Schritt und ohne das nicht nur gelangweilte, sondern auch langweilige Model Gesicht aufsetzen zu müssen. Amüsiert schüttle ich den Kopf, ich muss weiter.

Meinen Putzwagen lasse ich stehen, auch dieser Papierkorb hier am Kreuzungspunkt zweier Gänge will geleert werden. Ich klappe den Deckel auf, hieve den vollen Plastiksack hoch und drücke den neuen, leeren so weit hinein, bis er den Boden der Tonne ganz bedeckt. So schmiegt er sich auch an die Innenwand und bietet das meiste Volumen. Nicht nur meine Gewissenhaftigkeit treibt mich dazu, den Kunden und Passanten möglichst viel Raum für ihren Abfall zu bieten. Ganz uneigennützig komme ich dieser Sorgfalt auch nicht nach. So habe ich weniger vom Boden aufzuheben, was sonst daneben fiele, und an den weniger belebten Tagen kann ich den ein oder anderen Papierkorb nach einem schnellen Kontrollblick auch mal unversorgt lassen. Nun verschwindet der volle Sack in der Tonne auf meinem Karren, ich drücke meinen Rücken durch, damit das Ziehen im Kreuz nachlässt. Dabei fällt mein Blick auf das Schaufenster des Spielzeugladens gegenüber.

 

Nach allen Seiten spähe ich ins Halbdunkel der Flure hinein, entdecke niemanden. Meinen Wagen schiebe ich vor den Laden. Falls man mich sieht, wird jeder denken, ich arbeite vor diesem Fenster. Es ist Karnevalszeit. Die Dekoration ist angepasst. Eisenbahnmodelle, Puzzlespiele und Barbiepuppen haben die Bühne verlassen und Harlekins, Clowns und Cowboys ihren Auftritt ermöglicht. Wie jedes Jahr in der fünften Jahreszeit. Mein Grinsen ist nicht nur amüsiert, sondern überheblich: Dem Inhaber fällt auch nichts Neues ein. Wieder ist die Szene farbenfroh dekoriert. Konfetti, eine Tröte und einige Sheriff Sterne aus Plastik bedecken den Boden, Luftschlangen verhüllen die nüchternen Wände. So wirkt die Auslage nicht ganz so begrenzt. Die Kostüme sind in mittleren Konfektionsgrößen erhältlich, also sind ihre Träger lebensgroße Schaufensterpuppen. Bei deren Anblick seufze ich. Mein Mann und ich genießen den Karneval, gehen gemeinsam zu mancher Narrensitzung und stehen bei mindestens zwei Umzügen in der Region am Straßenrand und recken uns zum Vergnügen ab und zu, um „Kamelle“ aufzufangen. Dieses Jahr aber hat mein Mann keine Idee, als was er „gehen“ möchte. Bei dem Gedanken an die Dringlichkeit eines guten Einfalls seufze ich. Vielleicht bringt mir der Anblick der Kostüme ja eine Erleuchtung. Intensiv betrachte ich alle Schaufensterpuppen, stelle mir meinen Mann in jedem dieser Gewänder vor und gerate ins Träumen. Ein schneller Blick sagt mir, dass der Dekorateur diesmal ein Farbschema aufgebaut hat: von Schwarz links über Bunt bis zum Weiß auf der rechten Seite.

 

Ein Vampir lehnt an der linken Wand, neben ihm hebt Zorro abwehrend die Hände, Superman im hautengen blauen Outfit eilt ihm zu Hilfe und wird dabei beobachtet von einem grünen Aquaman. Doch nicht nur Männern ist diese Ausstellung vorbehalten. Rotkäppchen, in sehr wenig Stoff gehüllt, drängt sich an einen Clown im karierten Anzug, der wohl mit dem Pierrot ins Gespräch über ihr weißes Make-up vertieft ist. Nur die Jackenknöpfe und der Kegelhut des Pantomimen zeigen noch etwas Farbe, die dem Koch am Ende der Reihe gänzlich fehlt. Überrascht blinzle ich. Fast hätt ich ihn übersehen, schließlich hat er nur die halbe Höhe: Ein Nackter sitzt auf einem Dekowürfel zu Füßen des Rotkäppchens und des Clowns! Mit gekrümmtem Rücken, den linken Unterarm auf dem Oberschenkel abgelegt, den rechten auf dem anderen Bein senkrecht aufgestellt und das Kinn auf die Finger der rechten Hand gestützt. Dass dies eine ernstgemeinte Kostümierung sein soll, will mir nicht so recht in den Sinn. Wohl vielmehr als Karnevalsgag hat der Ladeninhaber diese Figur ausgestellt, als Kontrast zu seinen Kostümen.

 

Mich fasziniert die plötzliche Assoziation mit der Skulptur von Auguste Rodin. Von der fein ziselierten Textur des perfekt nachgebildeten Denkers lasse ich mich in ihren Bann ziehen. Ich gehe in die Hocke, mein Kopf lehnt beinahe an der Scheibe. Mit einer Hand schirme ich die Augen gegen die Lichtreflexe ab, während ich neugierig versuche, pikante anatomische Details zu entdecken. Unwillkürlich zucke ich zusammen. Hat sich die Schaufensterpuppe etwa bewegt, der Zorro? Erschrocken fahre ich auf. Noch immer wehrt er diesen bleichen Dracula ab, aber deutlich sehe ich noch Bewegung in seinem Umhang. Richtig geflattert hat das Cape nicht, Zorro hatte sich in der Gewalt. So wie diese Straßenkünstler, die vornehmlich in Fußgängerzonen gold- oder silberfarben unbeweglich verharren und nur ab und an ruckartig ihre Haltungswechsel vornehmen. Besonders, wenn junge Frauen zu nah an ihnen vorübergehen. Mein Blick konzentriert sich auf diesen Romanhelden, den Beschützer der Schwachen. Sämtliche Klischees der Filme spulen vor meinem geistigen Auge ab.

 

Und nun hat er sogar gezwinkert! Ein kurzes Zucken nur im linken Schlitz seiner Maske. Es kann nicht sein, und dennoch bin ich mir ganz sicher. Ein leichter Schauer fährt über meinen Rücken, im selben Moment durchfährt Zorro ein leichtes Zittern. Blödsinn, schießt es mir durch den Kopf, sein Zittern war deine Wahrnehmung, als du dich geschüttelt hast! Hörbar atme ich aus, mein verhaltendes Lachen ist befreiend. Sicherlich hatte diese Schaufensterpuppe den gleichen Gedanken wie ich auf meinen ungezählten Runden durch dieses Einkaufsparadies: Sich einfach mal einschließen lassen und die Nacht über Schabernack treiben.

 

Aufmunternd zwinkere ich der Puppe zu und fasse die Schubstange meines Wagens. Schon habe ich mehrere Geschäfte hinter mir gelassen, als meine Fantasie mich glauben macht, schnelle Schritte zu hören. Drei, vier Männer denke ich an ihren Stimmen unterscheiden zu können, bin mir aber nicht sicher, schließlich klingt alles gedämpft. So, als käme es aus dem Geschäft, vor dem ich eben noch stand. Ich bilde mir ein, Gesprächsfetzen über Anzeige und Ärgernis zu hören. Auch ein dumpfes Rumpeln.

 

Während ich den letzten Abfallkörben zustrebe, spinne ich meinen Gedanken weiter. Zorro hat sich einsperren lassen und will dem gierigen Ladenbesitzer den mit überhöhten Preisen erzielten Kasseninhalt rauben, um ihn den sicherlich bedürftigeren Kunden zurückzugeben. Nun wurde er ertappt und zeichnet dem Wucherer mit der Degenspitze das berühmte Z auf die Brust, bevor er sich aus der Szene absetzt. Keinesfalls, ohne die Wachleute durch das Umwerfen eines Regals an der Verfolgung zu hindern. Ich kichere, während ich den letzten vollen Müllsack in meiner Tonne versenke.

 

Auf dem Weg zurück fällt mein Blick wieder auf das Schaufenster mit den Karnevalskostümen. Zorro hat wieder seinen Platz eingenommen und hält den Vampir Fürsten auf Abstand. Aber der Würfel ist leer, Rodins Denker ist verschwunden. 

 

 

ENDE

 


Bernhard Horwatitsch

Hintergründig und skurril sind seine Geschichten, seine Essays wenden sich kritisch und ironisch gegen allzu große Bescheid-wisserei. Der Münchner Autor schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der mvhs und anderen Institutionen. Besuchen Sie ihn auf:          www.literaturprojekt.com

 

Geniessen Sie eines seiner unverkennbaren Essays:

 

 

I. DER FÜRST  (Vorgeschichte)

(Urheberrechte und Copyrights © by Bernhard Horwatitsch)

 

 

Inzwischen grüßen ihn die Leute, wenn er in den Park kommt. Manche schüchtern, indem sie kurz nicken, andere nüchtern und souverän, indem sie ihm „Habe die Ehre“ oder „Grüß Gott“ sagen, und wenige sind so selbstbewusst, dass sie ihn in ein kurzes Gespräch verwickeln. Der Fürst ist ja von auffälligem Äußeren. Groß, über 1,90 Meter, kräftig gebaut und mit einem langen dichten Bart. Diesen dreifarbigen Bart pflegt er seit sechs Jahren, stutzt ihn regelmäßig nur leicht an den Spitzen. In den Park geht der Fürst seit längerem. An sich ist dieser Park reizlos, aber genau das mag er. Kein Meister, der sich darin selbst verwirklichen wollte, hat ihn angelegt. Es ist solides Handwerk, ausgeführt mit dem bescheidenen Budget der Kommune. Es gibt keine aufwendigen Rosenbeete, keine künstlichen Weiher oder Schatten werfende Alleen. Keine Hügel, Irrgärten, künstliche Ruinen oder Tempel. Nichts dergleichen. Einfach eine durch „Betreten verboten“ geschützte Wiese, ein paar Holzbänke und einen Rundweg. Wenige Bäume. Wenn sich der Fürst in die Wiese legt, wird das meist geduldet. Was wohl nicht zuletzt an seinem einschüchternden Äußeren liegt.

 

Heute war das Wetter trüb und daher wenige Menschen unterwegs. Nur die, die ihr eigentliches Ziel durch den Park und aus dem Park wieder hinausführte. Aber diese Passanten grüßten den Fürsten nicht. So lag er unbehelligt unter einem Baum und dachte nach. Das konnte er stundenlang machen. Er brauchte dazu nichts, keine Beschäftigung. Er war nicht immer so genügsam – oder faul (wie es der Skeptiker sehen würde). Vor sechs Jahren noch war sein Gesicht glatt rasiert, er war schlank und trug immer seinen dreiteiligen dunklen Anzug, knitterfrei, hochwertige Halbschuhe aus Leder, Manschettenknöpfe, dezente (aber teure) Armbanduhr, seine Taschen waren nie ausgebeult, das Jackett trug er auch bei großer Hitze zugeknöpft. Der Fürst schwitzte nicht zu dieser Zeit. Er verdiente ein Vermögen an der New Yorker Börse. Handstreich-artig sackte er Millionen ein mit Spekulationsgeschäften. Er würde das wohl heute noch so machen, wäre ihm nicht letztlich sein Verstand zu Hilfe gekommen. Denn während er immer reicher wurde, und ein paar seiner damaligen Freunde auch, konnte er beobachten, wie ganze Länder in der gleichen Zeit verarmten. Und im Gegensatz zu seinen damaligen Freunden stellte der Fürst einen Zusammenhang her zwischen seinem Reichtum und der Armut der anderen. Es konnte ja nicht in seinem Interesse sein, dass die Menschen verarmten und verhungerten. Was sollte er mit seinem Reichtum anfangen in einer Welt der Skelette? Was nutzte ihm das viele Geld, wenn niemand mehr Arbeit fand, weil die Aktionäre die Unternehmer ausraubten? Daher suchte er eine Weltformel. Mit dem nicht geringen Ziel, der Errettung der Menschen und der Errettung der Welt. Er fand seine Weltformel. Und zwar genau an dem Ort, wo er sich meist aufhielt, bei einem Verdauungsspaziergang am Paternoster Square. Er war gerade aus dem Corney & Barrow getreten, als ihn ein Mann anrempelte. Für solche Zwischenfälle hatte der Fürst nie ein besonderes Augenmerk, strich also nur desinteressiert seinen Anzug wieder glatt und ruckte etwas an der Krawatte. „Arschloch“, sagte der Mann und baute sich vor dem Fürsten auf – besser gesagt: versuchte es, was jedoch aufgrund der natürlichen Größe des Fürsten misslang.

 

Der Fürst blickte nach unten und sah auf völlig zerzaustes, fettiges Haarwerk, welches das Sonnenlicht beinahe strahlenförmig reflektierte. Da war dem Fürsten plötzlich alles klar! Er klopfte dem wütenden Mann dankbar auf die Schulter, ging dann etwas in die Knie, um Augenhöhe herzustellen. „Geld ist Licht!“, flüsterte der Fürst. Das musste dem wütenden Mann Angst eingejagt haben. Denn der schien seine Wut ganz vergessen zu haben und machte sich schleunigst aus dem Staub. Aber für den Fürsten war jetzt eine Wende eingetreten. Es war wie im Buddhismus. Ein Schlag zum richtigen Zeitpunkt konnte die Erleuchtung bringen. Daher ging der Meister mit einem Birkenstock durch die Gruppe meditierender Schüler und schlug ihnen von Zeit zu Zeit kräftig mit dem Stock auf den Rücken.

 

Und manchmal gingen dann dem einen oder anderen der Schüler regelrecht die Augen auf oder gar über. Die Weltformel war ganz einfach. Sie war längst gefunden und tagtäglich hantierten die Börsianer mit ihr herum. Mehr pfuschend und aus purem Eigennutz. Aber man musste die Weltformel nur für das Gemeinwohl anwenden. Einen exakt berechneten Anteil der Gewinne der Börse einfach direkt mit allen Konten der Menschen koordinieren. Dann hätte jeder sein bedingungsloses Grundeinkommen. Als der Fürst mit seiner Entdeckung die Öffentlichkeit suchte, wurde er ignoriert. Nicht einmal Spott gönnte man ihm. Es nahm niemand Notiz von seiner Weltformel, obwohl er sie inzwischen exakt berechnet hatte und die Zahlen unumstößlich stimmten. Es wäre für niemanden ein spürbarer Schaden entstanden, im Gegenteil, seine Weltformel war so konstruiert, dass die Geschäfte sogar besser liefen, wenn die Börsianer sie anwenden würden. Aber niemand nahm Notiz von ihr.

 

Eines Tages stand der Fürst am Times Square im Stau, als ihm klar wurde, dass niemals jemand die Weltformel anwenden würde. Es gab sogar mehrere Weltformeln, die alle auf die gleiche großartige Weise funktionieren würden. Das Los der Menschen war nicht, dass sie es nicht wussten. Das Los der Menschen war, dass sie es nicht wollten. Als dem Fürsten in seinem Taxi sitzend klar wurde, dass das so war und so bleiben wird, war es, als würde er noch einmal von dem kleinen Mann gestoßen werden, und diesmal würde sich sein Blick in die andere Richtung wenden. Der Fürst tippte dem pakistanischen Taxifahrer auf die Schulter.

 

 „Wot a du“, salbaderte der Taxifahrer.


„Wont too pay, now“, sagte der Fürst und hielt dem Taxifahrer einen Zwanzigdollarschein unter die Nase.


„Bara“, sagte der Taxifahrer und kramte nach Wechselgeld.


„No Problem, it’s yours.“


„Shukrya, Shukrya.“

 

Der Fürst öffnete mitten auf der Straße unter Hupen die Tür und stieg aus dem Taxi. Dann nahm er seinen Aktenkoffer vor die Brust, öffnete ihn und schüttete den ganzen Inhalt mit Papieren über die hupenden Autos, während er über die Straße lief. „It’s yours, it’s yours“, schrie er dabei, und als der Aktenkoffer leer war, warf er ihn auf den Gehsteig, wo er inzwischen angekommen war. Das erregte natürlich Aufsehen und kurze Zeit später wurde er auch schon von zwei Streifenpolizisten verhaftet. Er war nur wenige Stunden auf dem Revier. Als die nämlich dort feststellten, wen sie da festgenommen hatten, hagelte es Entschuldigungen. Der Fürst war ja immerhin der Fürst. Noch. Denn zu jener Zeit zog er sich zurück. Weltformel hin oder her.

 

Einen Großteil seines Vermögens hatte er inzwischen verschenkt und nur so viel für sich zurückbehalten, dass er nicht in Verlegenheit käme, noch einmal zu arbeiten. Er hatte sich eine kleine Wohnung gekauft und ein Häuschen in Italien (falls er mal raus müsste). Ansonsten lebte er von den Zinsen seines kleinen Vermögens, zahlte brav seine lächerlich geringe Vermögenssteuer an den Staat und lebte abseits der Öffentlichkeit.

 

Der Fürst hatte nun einige Stunden unter seinem Baum gelegen und nachgedacht. Er hatte in diesen wenigen Stunden drei weitere Weltformeln in seinem Kopf erdacht. Aber er würde sie weder aufschreiben, noch irgendjemandem je sagen. Er würde alle seine Weltformeln mit in sein Grab nehmen. Nun bekam er allmählich Appetit. Also machte er sich auf, ging zu einem Biergarten in der Nähe des Parks und verköstigte sich.

 
Das war alles. Täglich kann man den Mann sehen – wenn man will –, der im Besitz vieler Weltformeln ist, Formeln, die sowohl die Menschen als auch die Welt erretten würden, wenn man wenigstens eine davon tatsächlich anwendete. Na gut. Sie glauben mir nicht. Wollen mir gar nicht glauben. Der Fürst kennt das ja und er schweigt daher dezent. Aber welchen Grund – mal ehrlich – hätte der Fürst, in diesem Punkt zu lügen? Geltungssucht kann man ihm nun wirklich nicht vorhalten. Er sagt die Wahrheit, das können Sie ruhig glauben. Aber es spielt keine Rolle.

 

 Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis. Laudamus te. (Ehre sei Gott im höchsten und auf Erden Frieden, Wohlwollen gegenüber den Menschen. Wir preisen dich).

 

 

II. DER FÜRST

 

Es war einer der ersten schöneren Frühlingstage. Die Sonne schien und die Luft war milder als an den Tagen zuvor. Der Fürst war daher guter Laune und spazierte pfeifend in den Park. Dort legte er sich auf eine grüne Wiese, winkelte die Beine an und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Hätte er noch einen Grashalm in seinem Mundwinkel gehabt, wäre das Bild eines Taugenichts perfekt gewesen.

 

Der Fürst entspannte sich also unter der milden Frühlingssonne, ohne darüber nachzudenken, dass es viele Menschen gab, die so ein entspannter Anblick neidisch machte. So kam es auch. Ein sehr geschäftiger Geschäftsmann eilte – beinahe panisch dax-artig – durch den Park, in dem der Fürst mit angewinkelten Beinen herumlag. Der geschäftige Geschäftsmann blieb stehen und betrachtete kurz den herumliegenden Fürsten. Dann klopfte er kurz mit seinen Geschäftsfüßen an die Oberschenkel des Fürsten. Der Fürst öffnete schläfrig seine Augen. Ob er nichts zu tun hätte, wollte der Geschäftsmann nun wissen und warf seinen Schatten über den Fürsten. Er selbst hätte zu tun, viel sogar, deklamierte der Geschäftsmann weiter, er hätte eine Firma, die wüchse und wüchse, er brauche immer mehr Arbeiter, als er bekommen könne. Und der Anblick eines faul im Gras liegenden Taugenichts mache ihn traurig.

„Also“, sagte der Geschäftsmann, änderte den deklamierenden Tonfall in einen befehlenden,

„du kommst mit“, machte unruhige Flatterbewegungen mit seiner rechten Befehlshand. Der Fürst sprang behände und leichtfüßig auf und hämmerte noch im Aufspringen mit großer Wucht seine Stirn auf die Nase des Geschäftsmannes.

 

Dann legte sich der Fürst ebenso leichtfüßig wieder hin und murmelte Richtung Sonne: „Genug gearbeitet für heute.“ Der Geschäftsmann klappte nach vorne zusammen und hielt sich jammernd und fluchend zugleich die Hand vor die Nase. Blut quoll zwischen den Fingern hindurch. Sofort strömte eine Menge Leute herbei, wurde nach einem Arzt gerufen, nach der Polizei, ein Auflauf von Menschen entstand, eine rege Diskussion und Geschäftigkeit umgab nun den aus der Nase blutenden geschäftigen Geschäftsmann.

 

Viel Betrieb also.

 
Sozial ist, was Arbeit schafft, dachte derweil der Fürst unter seinem Sonnendach. Denn ihn hatte man bei der ganzen Aufregung um den geschäftigen Geschäftsmann und seine blutende Nase völlig vergessen. Der Fürst lag gemütlich im Gras, hatte sich nur kurz seine Stirn gerieben und genoss jetzt einfach die milde Frühlingssonne, so, wie er es beim Aufwachen beschlossen hatte.

 

 

ENDE

 


 

Dirk Tilsner ist als Pionier-Autor bei pierremontagnard.com seit Anbeginn dabei und imponiert mit seiner Vielseitigkeit unsere Leserschaft. Mit seinem gelungenen Essay aus der Welt der Lokalpolitik beweist er einmal mehr sein Gespür für die unter-schiedlichsten Belange.

Die Umgehung des Kerns

(Urheberrechte & Copyrights © by Dirk Tilsner)  

 

                       „… müssen  nach  der  vorliegenden  Verordnung  alle  vom

Rat getroffenen                                                     Entscheidungen, die eine 

öffentliche Investition                                                über                        den

im                                                     Gemeindegesetz               festgelegten

Mindestaufwand                               erfordern,                                     durch

einen                                                kommunalen Volksentscheid bekräftigt

werden ...

 

aus:                                   Grundlacher Verordnung zur Demokratisierung kommunaler                       Entscheidungsprozesse.                    22.07.2026

 

Hartmut Neumann stand am Fenster seines Büros und beobachtete die Straße. Viel zu sehen gab es um diese Uhrzeit nicht: erst allmählich erwachte ein Haus nach dem anderen. Hier und dort schob sich eine Jalousie wie ein schweres Augenlid nach oben; einige waren bei diesem Versuch offenbar auf halber Strecke wieder eingeschlafen. Schräg gegenüber saß eine Katze unschlüssig auf einer Abfalltonne und blinzelte in die aufgehende Sonne.

 

Es war Neumanns zweiter Tag als frisch gebackener Bürgermeister. Mit Sicherheit einer der wichtigsten seiner Amtszeit, dachte er bei sich, denn ab heute würde er die Gemeinde Grundlach in eine neue Epoche führen! Bereits seine Wahl versprach einen Wendepunkt: Keinem Unabhängigen vor ihm war diese würdevolle Aufgabe jemals beschieden worden. Er war der Mann des Konsensus, den die im Rat im Patt stehenden Parteien nach monatelangen Debatten der Bevölkerung zur Abstimmung vorgeschlagen hatten. Als jahrelanger Sekretär einer der Bürgerinitiativen war sich Neumann zunächst unschlüssig gewesen, beinhaltete das Amt doch so etwas wie einen Verrat an seinem Ideal, der Politik den Willen des Volkes gegen private Interessen gewissermaßen aufzuzwingen. Sein alter Schulfreund Jochen Voigt überzeugte ihn schließlich, sich zur Wahl zu stellen: „Als Chef deiner Gruppe kannst du zwar tolle Ideen haben, die ausschlaggebenden Vorbereitungen der Bürger-entscheide aber werden noch immer im Rat getroffen. Die wirst du direkt leiten können!“

 

Recht hatte er, der alte Jochen. Er kannte die Politik seit dreißig Jahren und hatte wohl über zweihundert Entscheide selbst vorbereitet, einschließlich jenen für seine  Wahl. Der Stimmzettel war außergewöhnlich schlicht ausgefallen:

 

Wollen Sie Dr. Hartmut Neumann als neuen Bürgermeister?

(3 Punkte)

                        JA:      Dr. Neumann ist der Beste.

 

                        NEIN: Es gibt in Grundlach ohnehin nichts mehr zu entscheiden.

 

Selbstverständlich war die NEIN-Frage als Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen gewesen. Unter Neumanns Führung sollte Bewegung in das örtliche Leben kommen; zu entscheiden gab es mehr als genug. Die 3 Punkte waren bei wichtigen Volksbegehren üblich. Wer wählte, bekam für jeden von ihnen ein Jahr lang 1 % Abschlag in der monatlichen Gebühr für einen der Dienste der örtlichen Verwaltung, zum Beispiel der Müllabfuhr. Auch ein demokratischer Akt bedarf gewisser Anreize.

 

Heute also würde er in der allerersten Sitzung die ersten, bedeutenden Beschlüsse fassen bzw. in die Wege leiten. Die ‚richtigen‘ natürlich: jene, die im Wohl und Interesse der Einwohner stünden und legitim von diesen für einen der monatlich geplanten Volksentscheide eingefordert werden könnten. Das schloss SEINE Initiative mit ein: die Umgehungsstraße um den historischen Kern herum, und darinnen eine Auto-freie Passage.  Das eigentliche Problem war jahrelang die übergroße Anzahl der Vorschläge gewesen. Seit der Einführung der neuen Verordnung waren die Bürgerinitiativen wie Pilze aus dem Boden geschossen und überhäuften die örtliche Verwaltung mit Anträgen. Pro Monat durfte es maximal drei Plebiszite geben, etwa 20 Anträge wurden im Durchschnitt eingereicht, die meisten immer und immer wieder mit neuem Titel und geringfügigen Abänderungen. Das begründete sich unter anderem mit der erbitterten Konkurrenz zwischen den größeren Aktionsgruppen, welche die Debatten im Rat und in der Öffentlichkeit mit ihren kaum zu unterscheidenden Vorschlägen monatelang dominierten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Neumanns Initiative seit mehr als einem Jahrzehnt vergeblich um Aufmerksamkeit bemüht hatte. Das würde sich mit dem heutigen Tage ändern.

~

 

Zwei Stunden lang hatte sich Neumann, am Fenster stehend, seelisch auf die große Herausforderung vorbereitet. Endlich war es so weit: pünktlich um neun Uhr begann die Sitzung. Zunächst mit den Förmlichkeiten: die Liste der Anwesenden und die Tagesordnung, die nach zwanzigminütiger Debatte sogar angenommen wurde. Hartmut war sich bewusst, dass die meisten Anwesenden darum kämpften, die vom politischen Gegner unterstützten Vorschläge NICHT in die Vorbereitungsphase zu bringen, es sei denn, mit den üblichen Kompromissen wie zum Beispiel ein Runder-Tisch-Abend im örtlichen Kegelklub, eine Studienfahrt auf dem Rhein unter dem Motto „Heine lebt in uns“ oder gar ein Besuch der Partner-Gemeinde auf Gran Canaria. Schließlich einigte man sich auf die folgenden Anträge:

 

1.   Subventionen für die lokale Pflaumenmus-Produktion

2.   Kostenlose Clown-Aufführung beim Kinderfest der Kleingartenanlage „Es grünt so grün“

 

3.   Bau einer Umgehungsstraße zur Entlastung des historischen Kerns

 

Das erste Thema war schnell abgehandelt. Genau genommen war es kein neues, denn  Schnorrenbauers hatten ihre gesamte Verwandtschaft schon vor Jahren für eine eigene Aktionsgruppe zusammengetrommelt und stellten jeden Monat neue Anträge, um den Umsatz aus der Ernte ihrer Gärten zu steigern. Da Schnorrenbauers allerdings in politischer Hinsicht nicht unter einen Hut zu bekommen waren, zeigte keine der Parteien bzw. Ratsmitglieder Interesse am Thema, mit Ausnahme von Herrn Klein, welcher Pflaumenmus über alles in der Welt liebte und sogar auf seine Käsebrötchen strich. Der Abstimmzettel war schnell entworfen:

 

Möchten Sie steuerlich belastet werden, damit die regionale Pflaumenmus-            Produktion massiv subventioniert werden kann? (0 Punkte)

     JA : Unter der Bedingung, dass eine extra-Behörde für diesen Zweck

     geschaffen wird.

 

     NEIN:  Mus ist im Discounter billig genug.

 

Flüsternd bekundete Neumann seinem Freund Voigt ein paar Bedenken: „Der Vorschlag verlangt doch eigentlich keine Behörde, und so viele Pflaumenmus-Produzenten hat die Kommune nun auch wieder nicht, oder?“ Voigt schüttelte lächelnd den Kopf: „Sicher. Das Dutzend Anbauer heute wird sich mit einer Subventionsverordnung pro Jahr mindestens verdoppeln. Bald wird man für Kirschen, Birnen und Rhabarber ‚gleiche Subvention für gleiche Arbeit‘ einfordern! Sag mal mein Lieber, willst  du deine Gemeinde schon mit den ersten Beschlüssen in den sicheren Ruin treiben?“

Neumann schluckte; sein Freund hatte recht. Es war ihm plötzlich peinlich, eine derart dumme Frage gestellt zu haben. Aber gut, dass er sich auf Voigt und seine Umsicht verlassen konnte. Mit einem leichten, verständnisvollen Schulterklopfen seinerseits wurde der Zweifel ad acta gelegt.

 

~

 

Das zweite Thema war etwas heikler. Die meisten der Anwesenden hatten Kinder oder Enkel, die am Kinderfest teilnehmen würden, wobei der eingeladene Clown stets in Begleitung seiner neunköpfigen Jazz-Band „die schrägen Besen“ anreiste. Da war unter 3.000 Euro nichts zu machen, von den üblichen Folgeschäden des jährlichen Ereignisses mal abgesehen: etwa zwei Dutzend Klagen wegen Lärmbelästigung nach 23 Uhr, zerbrochene Bänke in der Zufahrtsstraße und im letzten Jahr sogar ein noch junger, herausgerissener Baum, der als Material für ein Lagerfeuer diente. Nach zweistündiger Debatte wurde auch diese Hürde genommen:

 

Möchten Sie ein hoch-edukatives Programm für die Kleinsten beim jährlichen     Kinderfest, mit Freibier für die begleitenden Erwachsenen? (5 Punkte)

            JA:      Unter der Berücksichtigung, dass die Kinder nach der Aufführung

                       von freien Helfern gebührenfrei beaufsichtigt werden.

            NEIN: Aber sollte JA gewinnen, wäre ich gern freier Helfer beim Fest.

 

Dieses Mal kam Voigt seinem Freund Schultern-klopfend zuvor: „Keine Sorge, das Bier wird wie immer gesponsert.“

 

Nach der verdienten Mittagspause im Ratskeller ging es um 15 Uhr in die entscheidende Runde. Als Voigt zum Auftakt den von ihm vorbereiteten Bauvorschlag präsentierte, stockte nicht nur Neumann der Atem: Die neue Umgehungsstraße führte westlich des Zentrums quer durch den Park!

 

Schlammberger wetterte als erster los: „Dabei ginge wenigstens die Hälfte der Bäume im Park drauf! So ein bekloppter Vorschlag kommt nicht mal in der Klapsmühle durch!“ Steinschweiger schnappte verlegen nach Luft, während Frau Seiler zu bedenken gab: „Immerhin würde die neue Straße die Anfahrt zur psychiatrischen Klinik erleichtern.“ Sie warf Schlammberger einen wütenden Blick zu; den Begriff ‚Klapsmühle‘ würde jener noch bereuen; schließlich hatte sie dort ihre wöchentliche Selbstfindungs-Therapie.

 

Die Debatte stand somit 1 : 1. Demzufolge war eigentlich alles geregelt bzw. festgefahren, denn Schlammberger und Seiler vertraten die beiden großen Parteien im Rat: Purpur gegen Lila, die zentrale gegen die mittlere Mitte, zwei unversöhnliche ‚Gemeinde-Anschauungen‘ wie man zu sagen pflegt. Jede Seite rollte nun ihre schwersten Geschütze in Form unausweichlicher Fragen heran:

 

- Krummbach: „Warum nicht hinter dem Park?“

- Voigt: „Zu weit. Damit wird das Projekt für die Subvention aus der Landeskasse   zu teuer.“

- Kreuzer: „Warum den Kern nicht im Osten umgehen?“

 

- Voigt: „Weil wir dann das dort geplante Villen-Viertel weiter hinaus verlagern müssten; dorthin wo Schnorrenbauers ihre Kartoffel-Äcker haben.“ 

 

Ein Stöhnen ging durch den Saal. Neumann begriff überhaupt nichts und schaute hilflos auf Voigt. Sein Freund klärte ihn flüsternd auf: „Eine alte Geschichte. Vor ein paar Jahren wollte eine Initiative einen Kulturpark. Für das Gelände haben wir damals eine Reihe Kleingärtner mit der neuen Anlage ›Es grünt so grün‹ entschädigt, für einen symbolischen Aufpreis. Der Volksentscheid kam jedoch nicht durch; das im Abstimmungstext erwähnte wöchentliche Rockkonzert wollte niemand. Um den Fehler wieder gutzumachen, haben die Ratsmitglieder das gesamte Grundstück unter sich aufteilend für denselben symbolischen Preis zurückgekauft. Zufällig meldete sich Monate später die Baufirma Schmier & Schlier, zwecks Bauvorhaben für ein neues Villen-Viertel. Das für den Kulturpark vorgesehene Gelände war für dieses Projekt nahezu ideal.“

 

Mit gehobener Stimme setzte er fort: „In diesem Falle werden Schnorrenbauers ihr Land an die Baufirma verkaufen, während die Parzellen für den ehemaligen Kulturpark zwecks Straßenbaus von der Gemeinde zwangsenteignet werden müssen. Dafür muss der gesetzlich festgelegte Höchstpreis von 12,50 EUR pro ha eingehalten werden.“

 

Mehrere Minuten lang herrschte betretene Stille im Saal; nur Steinschweigers auf und ab schmirgelnder Adamsapfel war zu hören. Neumann blickte verzweifelt in die nicht weniger verzweifelten Gesichter der Ratsmitglieder. Sein Projekt schien zum Scheitern verurteilt.  Schließlich murmelte Voigt abwesend vor sich hin: „Kurios; Grundlach würde in Zukunft ZWEI Parks haben, jeweils einen zu beiden Seiten der Straße!“ Darauf rief er: „Ich hab‘s! Mit der JA-Stimme wandeln wir den alten Park in ein Naherholungsgebiet um: mit einem Kinderspielplatz im vorderen und einem Biergarten im hinteren Bereich. Dort kann man später sogar neue Bäume pflanzen.“

 

Die Welle der Erleichterung glich einem Jubel; sogar Steinschweiger ließ ein ‚Ja!‘ vernehmen. Voigt hatte einen Ausweg gefunden. Neumann würde seine Umgehungsstraße bekommen (Schmier & Schlier waren selbst für solche Projekte in der Region eine Referenz), kleine Kinder könnten nach Belieben spielen und größere ihre Eltern vom Biergarten abholen.

 

 ~

 

Zwei Stunden später saßen die beiden wie in alten Zeiten in der Kneipe an der Bushaltestelle. Am schwierigsten sei es stets, meinte Jochen, einen Konsens für eine Mehrheit im Rat zu finden. „Das Volk schlägt vor. Das Volk entscheidet. Aber die Fragen müssen immer noch wir bestimmen!“

 

Neumann nickte bedächtig und schlürfte am Bier. Eine neue Marke, die ihm sein Freund zur Probe bestellt hatte. Schlecht schmeckte es nicht, wobei …, er ahnte nicht, dass er dieses Bier noch sehr oft trinken würde. Zum Beispiel beim jährlichen Kinderfest und irgendwann bei der Einweihung der Umgehungsstraße, im Biergarten im neuen Park …

 

ENDE