GEDANKEN AKROBATIK

 

Beiträge aus dem Jahr 2021

 

 

 

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mit den 21 Beiträgen aus dem Jahr 2021

  

 

 

(Urheberrechte & Copyrights aller Beiträge © by Bernhard Horwatitsch)

 

 

Der 21. und letzte Beitrag 2021

 

BITTE NICHT LESEN! 

 

Schwere Kost zum Jahresende

(zum Abschluss des Dante-Jubiläumsjahres)

 

Streifschuss

vom 27. November 21

 

Anlass: Was sowieso keiner hören will,

passt an dieser Stelle gut.

 

Vorsicht! Nicht lesen,

 

dieser Text könnte tödlich sein.

 

Im Jahr 2020 starben nach der Statistik des RKI 47.000 Menschen an einer Infektion mit Covid-19.  Davon starben 40.000 Menschen unmittelbar daran und die anderen bekamen durch dieses Virus den letzten Todesstoß. Insgesamt verstarben im selben Jahr in Deutschland ca. 980.000 Menschen. Allein 250.000 davon hat der Krebs dahin gerafft und 10.000 haben den Tod selbst herbeigeführt. Über 300.000 Menschen hatten Herz-Kreislaufprobleme und hatten vermutlich mit der Hitze mehr Probleme, als mit der Todesdrohne Nummer eins. Gut 40.000 Menschen starben an einer akuten Vergiftung durch Pilze, Drogen, Gas (zum Beispiel Kohlenmonoxid), Tabletten (zum Beispiel Paracetamol), Schwermetalle, verdorbenem Fisch, ungewaschenem Gemüse. Knapp 2.000 Menschen sind im Mittelmeer ertrunken.


Nein. Das waren keine Badeurlauber.

 
Und 32 Menschen starben 2020 sogar an einer Ohrenerkrankung und des Warzenfortsatzes (an Fisteln oder Karies). Leben ist eben lebensgefährlich!


So viel zur Statistik. Seit zwei Jahren werden täglich Statistiken veröffentlicht, die Tagespresse ist voll mit Todesgrafiken. Doch die häufigsten Todesursachen bleiben weiterhin unerwähnt. Die letzten hundert Jahre wurde der Tod verdrängt. Es erschien beinahe unanständig, zu sterben. Insofern hat das Virus, hat die Seuche eine katalytische Wirkung auf unsere Gesellschaft und zeigt uns die Grenzen unserer Todesverachtung. Die täglichen Corona-Statistiken und ihre Angst verbreitenden Journalisten tragen weiter zur Verdrängung bei. Niemand möchte sich noch damit beschäftigen. Niemand mehr kann das C-Wort noch hören. Die Journalisten wirken wie Aasgeier, die über unsere Toten kreisen. Und die Gesichter von Wieler und Drosten werden zur Allegorie des Todes.

 

Wir sterben! Alle! Manche schon heute, andere morgen. Kein Grund zur Panik. Wir leben ja noch. Und als Lebende ist es uns nicht möglich, uns tot vorzustellen. Denn für jede Art von Vorstellung braucht man ein Bewusstsein und als Toter fehlt genau dies. Uns Lebenden ist lediglich bewusst, dass wir sterben und Statistiken sagen uns da nichts. Die grassierende Seuche macht uns Angst. Wir sollten auch Angst haben. Aber auch vor Krebs. Oder vor Zucker. Ja. Einer der häufigsten Todesursachen ist immer noch der Zucker. Niemand hat ernsthaft vor Zucker Angst und bricht in Panik aus, wenn die Kellnerin einen Zuckerspender auf den Kaffeetisch stellt. Wäre aber vernünftig. Auch das Virus hat es bei einem dicken Pink-Puffer leichter. Zucker ist ein scharfer Kristall, der mit seinen harten Kanten die zarten Arterienwände aufschneidet. Überzuckerte und denaturierte Fertignahrung führt zur Insulinresistenz und der Zucker bleibt in der Blutbahn, zerschneidet die winzigen Arteriolen, die unsere Augennetzhaut mit Blut versorgen. Wir bekommen Schlaganfälle, werden blind, uns faulen die Gliedmaßen ab und wir sterben einen qualvollen und widerwärtigen Tod. Danke Nestlé, danke Mars, danke Kapitalismus. Wir haben viele Seuchen in unserer Gesellschaft und es gibt keinen Grund zur Hoffnung.

 

Wir werden alle sterben. Alle werden vermutlich jämmerlich, qualvoll und unter brüllenden Schmerzen, schlimmer als wir es uns vorstellen können, unter Höllenqualen zugrunde gehen. So viel zum Ende des Dante-Jubiläumsjahres. Aber alles kein Grund zur Panik. Wir leben ja noch. Wir leben. Hurra. Also lasst uns gemeinsam die Seuche verbreiten, fahren wir herum in der Welt, gehen wir auf Massenveranstaltungen, lasset uns feiern und das Leben genießen. Wir sterben eh. Und mit etwas Glück früher als gedacht. Wozu sich impfen lassen? Ein Hoch auf die Barbaren.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 20. Beitrag 2021

 

 

Wie braun ist grün?

 

Streifschuss vom 04. November 21

 

 

Anlass: Ein Schuss auf die Kultur

 

 

In der Sprache der Natur bedeutet Tod Vernichtung. Und dass es mit dem Tode Ernst sei, ließe sich schon daraus abnehmen, dass es mit dem Leben, wie jeder weiß, kein Spaß ist. Wir müssen wohl nichts Besseres, als diese beiden, wert sein. So schrieb es Schopenhauer in seinen Todesreflexionen (im Band II der Welt als Wille und Vorstellung) nieder.

 
Erst ein freudloses und hoffnungsloses Dasein, bedroht von Armut, Hunger und Elend. Dann ein langsamer Tod unter Schmerzen, Atemnot, Selbstekel und einsam in der Abstellkammer eines städtischen chronisch unterfinanzierten Altenheims. Trotz der zehn Milliarden Dollar, die unsere fürsorglichen Regierungen weltweit für die Gesundheit ausgeben, klappt das noch immer nicht. Acht Milliarden Menschen und zehn Milliarden Dollar, also locker eine Milliarde pro Kopf und Jahr! Warum klappt das nicht? Warum muss ein Mensch so erbärmlich leben und noch erbärmlicher sterben? Wohin
 verschwindet all das Geld? Gegenfrage: Wo kommt es her? – Danke Herr Lindner für diesen nicht konstruktiven Beitrag. – Im Ernst. Das Leben ist kein Spaß und dann sterben wir auch noch, werden konsequent vernichtet! Mit dem Ergebnis: edite, bitite, post mortem nulla voluptas. Ab nach Malle und scheiß auf den Rest? Die Natur war nie, ist nicht und wird nie unser Freund sein. Unser Versuch ihr gerecht zu werden wirkt absurd. Auf jede einzelne Geburt kommt ein produzierter Neuwagen. Klimaneutral? Wird schwierig. Acht Milliarden Menschen wollen Kühlschränke, Fernseher, Computer, elektrische Zahnbürsten. Man kann die Natur verstehen, wenn sie uns zur Gegenwehr Überschwemmungen, Hitzewellen, Pandemien, Krebs und – für die Hoch entwickelten unter uns – das metabolische Syndrom schickt. Jeder morgendliche Laubbläser belegt unsere Feindschaft mit der Natur. Und was ist Natur? Eine Art Gottheit. Und schon Homer sagte, dass allein die Wahrheit das einzige Mittel im Kampf der Sterblichen gegen die Götter sei.

 
Wenn der Mensch als Tier es also tatsächlich hinbekommt, seinen Planeten (seinen Wirt) zu zerstören, kann man ihn als eine Krankheit des Planeten einstufen. Und so wie die aktuelle Lage sich darstellt, stehen menschliche Erfindungen und menschliches Wohlbefinden in 
einem unmittelbaren Zusammenhang mit Veränderungen auf der Erde, die dazu beitragen, dass alle auf dem Planeten lebenden Lebewesen gefährdet sind.

 
Der Mensch ist eine Bedrohung für alle anderen Tiere, eine Bedrohung für die gesamte Fauna und Flora des Planeten. Das lässt sich nicht wirklich abstreiten. Warum ist das so? Eine merkwürdige Frage. Manche Viren können nicht mit dem Wirt in verträglicher Symbiose leben und sterben so mit dem Wirt, indem sie ihn zerstören. Ähnlich zerstört auch der Mensch seinen Wirt. Der Mensch ist mutiert. Von einem harmlosen Säuger hin zu einem komplexen Geistwesen, das mit seinen umfangreichen und blütenreichen Gedanken und Gedankenspielen nicht mehr mit seinem Wirt kompatibel ist. Der berühmte Soldat und Spion Albert Leo Schlageter sagte einmal das inzwischen unselig geflügelte Wort: Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning. Nun ja. Die Politiker, sagt der Mund des Volkes, tun ja nichts. Das stimmt so nicht. Und genau das ist das Beunruhigende (Hinweis an den Joschka Fischer für Liberale, Mi(ni)ster Habeck).

 

Als der Mensch noch in kleinen Gruppen auf der Erde umher streunte und sich lediglich mit Knüppeln gegen die körperlich überlegenen Großtiere wehrte, war das Tier Mensch keine Gefahr für den Planeten. Inzwischen hat der Mensch mehrere Tausend Jahre Kultur auf die Natur gepackt und es erscheint uns so, als wäre fast nichts mehr natürlich aus sich selbst erwachsen im Sinne einer sich selbst erschaffenden Natur. Nahezu alles auf dieser Erde erscheint wie eine menschliche Schöpfung: gemacht und nicht geworden. Dieser Rundumschlag eines unaufhörlich Waren produzierenden Kapitalismus erdrückt jede natürliche Form des Geworden seins. Die große Frage ist also, ob der Mensch eine Kultur erschaffen kann, die in Symbiose mit der Natur lebt, ohne sie permanent durch Verdrängung zu zerstören. Eine Art Paradies mit Internetverbindung und elektrischem Rasiermesser? Halten Sie besser ihren Browning in Griffnähe.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 19. Beitrag 2021

 

 

 

MASSENMENSCHENHALTUNG

 

Vor knapp hundert Jahren beklagte sich einmal der Spanier Ortega Y Gasset, dass seit Erasmus von Rotterdams „Lob der Torheit“ nichts mehr über die Dummheit geschrieben worden sei, denn – so Y Gasset – die Seiten von Erasmus tun dem Gegenstand nicht genug. Über die menschliche Dummheit sind uns meistens Bonmots überliefert, wie die von Anatole France. Er war der Ansicht, die Dummheit sei sogar schlimmer als die Bosheit, denn die Bosheit setze wenigstens hin und wieder aus. Und da hatte er recht. Denn die Bosheit ist mit lebenslanger Anstrengung verknüpft. Und gelegentlich ist selbst der inspirierteste Bösian einmal müde, während der Dumme keinerlei Anstrengung fühlt, während seines Dumm seins und folglich sein ganzes Leben damit zubringt, dumm zu sein, ohne dabei je zu ermatten.

 

Doch vielleicht hat sich nie jemand so recht getraut über die Dummheit der Mehrheit zu schreiben, weil es einen verdächtig macht. Robert Musil hielt 1937 in Wien einen Vortrag über das Problemfeld und beginnt diesen so:  „Einer, so sich unterfängt, über die Dummheit zu sprechen, läuft heute Gefahr, auf mancherlei Weise zu Schaden zu kommen; es kann ihm als Anmaßung ausgelegt werden, es kann ihm sogar als Störung der zeitgenössischen Entwicklung ausgelegt werden. Ich selbst habe schon vor etlichen Jahren geschrieben: Wenn die Dummheit nicht dem Fortschritt, dem Talent, der Hoffnung oder der Verbesserung zum Verwechseln ähnlich sähe, würde niemand dumm sein wollen.

 

Von der Masse der vorzüglich Dummen lebenslanges Lernen zu fordern ist so absurd, als würde man von einem Blauwal das Fliegen fordern. Die Masse der Menschen heißt nicht so, weil sie so zahlreich ist, sondern weil sie so träge ist. Es wird ihr nie gelingen, sich zu bewegen, wenn nicht eine Notwendigkeit dies fordert. Insofern überrascht der Widerstand gegen die Impfungen nicht sonderlich. Eher überraschte mich die allgemeine Bereitschaft der Masse, sich impfen zu lassen, ohne  gesetzlichen Zwang.  Wir Menschen verfügen über einen gewissen Vorrat an Vernunft. Die meisten von uns vermissen darüber hinaus nichts und richten sich daher mit diesem kleinen Vorrat an Vernunft, an Ideen im Leben ein. Danach verschließen sie ihren Kopf und verharren in diesem geistigen Zustand bis zum Tode. Der Werbespruch der Volkshochschulen (lebenslanges Lernen) richtet sich nicht an einen ganz bestimmten Menschen, sondern an uns Menschen allgemein. Der Adressat des „lebenslangen Lernens“ ist also die Allgemeinheit, die Masse. Diese allgemeinen Menschen aber haben sich längst verschlossen und so prallt der Spruch an ihnen ab, wie ein Gummiball an einer Wand. Es gibt noch nicht einmal einen großen Widerhall. Denn Lernen ist für die Masse ein Vorgang, den sie längst vollzogen haben. Was sie dann noch tun – und was dumme Menschen immer tun, weil sie das keine Kraft kostet – sie spielen das Lernen, ohne je dazuzulernen. Kinder sind dagegen wirklich offene Wesen. Sie können sich gar nicht so verschließen, wie Erwachsene es tun können. Kinder würden in so einem verschlossenen Zustand jämmerlich zugrunde gehen. Daher können sie auch besser lernen und nehmen alles, was man ihnen hinwirft, begierig auf. Doch sie bleiben keine Kinder, denn man fordert von ihnen das Gegenteil. Benimm dich, sei vernünftig, ist das Mantra der Erwachsenen gegenüber den wissbegierigen Kindern. Denn Erwachsene sind bereits vernünftig. Sie können hier und wollen hier nichts mehr dazu lernen. Sobald Kinder also vernünftig geworden sind, lernen sie nichts mehr dazu. Wie auch, da ja ihre Vernunft bereits vollzogen ist. Die Masse der Menschen ist so völlig unzugänglich, denn ihr Horizont ist begrenzt und was über diesen Horizont hinausgeht, erscheint ihnen absurd. Da sie sich mit ihrer kleinen Menge an Vernunft und Ideen vollkommen fühlen, erkennen sie ihre eigene Narrheit nicht. Der Weise ertappt sich oft nur zwei Finger breit vor einer Torheit und beklagt seine eigene Unvernunft. Der Einfältige hält sich für gescheit und kommt mit seinem armen Geist vollkommen aus. Diese Narren brauchen nicht mehr Vernunft zum Leben und werden nur durch bittere Notwendigkeit zu mehr gezwungen.

 

Unter unseren Anführern gibt es zwei Formen des ducere. Die einen führen, indem sie sich der Masse anschließen und nach ihrem begrenzten Horizont ausschauen. Sie täuschen die Masse, umschmeicheln sie populistisch und rauben sie dann im besten Falle aus. Die anderen versuchen, die Masse über ihren Horizont zu treiben. Sie ermahnen sie ständig und peitschen sie voran, brüllen sie zuweilen unbeherrscht an, denn diese Art des ducere lässt sich nicht ohne Zwang ausüben. Diese letztere Form des ducere wird von der Masse abgelehnt. Man nennt sie dann verächtlich Diktatoren oder Tyrannen. Doch die Masse ist nicht nur dumm, sondern auch träge. Daher lassen sie sich nur behäbig von Tyrannen anbrüllen und zwingen. Dumm und träge kauern sie auf ihrer kleinen Vernunftweide. Das liegt in der Natur ihrer Erscheinung. Und ein störrischer Esel wird schwerlich klein beigeben. Daher lohnt sich der Einsatz von Leckereien, von Zuckerbrot und Peitsche. Ein Jammer, dass das so ist.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 18. Beitrag 2021

 

 

Wer an allem zweifelt,

muss glauben!

(oder daran glauben / hihi)

 

„Tradition ist bis auf den letzten Rest entflohen. Vorbilder, Normen, feste Formen nützen uns nichts. Wir haben unsere Probleme – seien sie künstlerisch, wissenschaftlich oder politisch – ohne die tätige Mitarbeit der Vergangenheit in voller Gegenwart zu lösen.“ So schrieb es im Jahr 1929 der spanische Intellektuelle José Ortega Y Gasset in seinem berühmten Essay „Aufstand der Massen“. Und dieser Satz trifft auch heute noch einen besonderen Nerv. Wir stehen vor der herkulischen Aufgabe nichts weniger als die gesamte Erde vor dem drohenden Untergang retten zu müssen. Dafür gibt es kein historisches Vorbild. Unser Weltklima entgleist mehr und mehr und Ursache dieser drohenden (und schon existierenden) Katastrophe ist die Ignoranz und die Arroganz der Masse. Das Klima, oder enger definiert „das Wetter“ (IPPC) war uns immer schon scheißegal, solange die Sonne schien. Das Wort „Klima“ stammt aus dem altgriechischen κλίνειν für neigen, krümmen. Das betraf bzw. betrifft die Sonnenneigung. Das Klima bezieht sich nicht auf die Ekliptik, den Neigungswinkel der Erde, sondern auf ihre Kugelform. Früher nannte man das den Himmelstrich, die berühmten Wendekreise. Wenn die Sonne senkrecht über dem Wendekreis der anderen Erdhälfte steht, beginnt der Winter und wenn sie senkrecht über der eigenen Erdhälfte steht, der Sommer. Das Klima sorgt für entsprechendes Wetter und wir nehmen Witterung auf. Es gibt ein Mikroklima und ein Makroklima. Es gibt Klimazonen. Und wir haben ein Klimasystem, das sich aus fünf Sphären zusammensetzt. Wir haben Klimaelemente, die man gut messen kann wie Feuchtigkeit, Temperatur, Druck, Dichte und Geschwindigkeit der Luft.

 
Wir haben inzwischen eine kleine Geschichte des Klimawandels. So entdeckte der Astronom Wilhelm Herschel bereits im Jahr 1801 einen Zusammenhang zwischen einer geringeren Anzahl der Sonnenflecken und schlechten Weizenernten und er beschrieb eine kleine Eiszeit für die Jahre von 1650 bis 1800. Immerhin ein hübscher Stimmungshintergrund für die barocke Epoche, die in diese kleine Eiszeit fällt und deren Vanitas-Verliebtheit.
 Das Gefühl der Vergänglichkeit war die führende Empfindung während dieser kalten Jahrhunderte. Als es dann wieder etwas wärmer wurde, dachte sich ein Polizisten-Sohn aus Irland, er könnte doch mal das Nachbarhorn des Matterhorns, das Weißhorn (immerhin 100 Meter höher) besteigen. Das war 1861 und dort hatte er offenbar etwas gesehen, gefühlt, erfahren. Denn ein Jahr später beschrieb er erstmals den natürlichen Treibhaus-Effekt: 

„So wie ein Staudamm ein lokales Anschwellen eines Flusses bewirkt, so erzeugt unsere Atmosphäre, die als Barriere für die von der Erde kommende Strahlung wirkt, einen Anstieg der Temperaturen an der Erdoberfläche.“

 

Es dauerte eine weitere Generation, bis der Sohn eines Landvermessers, der Schwede Svante August Arrhenius, im Jahr 1896 als erster von einer globalen Erwärmung sprach und dies in einem Zusammenhang mit Kohlenstoffdioxid, das für große Temperatursprünge sorge. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das erste Konzept für Klimaerwärmung aus dem kalten Schweden stammt.

 

Es dauerte wieder mehrere Jahrzehnte, bis ein englischer Ingenieur die globale Erwärmung nachwies und feststellte, dass die Zahlen nicht auf eine natürliche Erwärmung zurückzuführen seien. Im Jahr 1938 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er bewies, dass die Menschheit während der vergangenen 50 Jahre 150.000 Mio. Tonnen Kohlendioxid emittiert hat, und errechnete daraus eine jährliche globale Erwärmungsrate von 0,003 °C.


Das war also 1938. Heute spricht man hier vom Callendar-Effekt, denn so hieß dieser englische Ingenieur, Guy Stewart Callendar.
Trotz weiterer Warnungen in den 1950ern und 1960ern (davor waren wir vor allem damit beschäftigt, einander totzuschlagen – auch eine Klimalösung) kam es erst 1979 zur ersten Weltklimakonferenz.

 

Vor einigen Tagen ging nun die 26. Konferenz in Glasgow zu Ende.  Ausgerechnet der britische Premierminister Boris Johnson bezeichnete die Konferenz als „letzte Chance“ für eine gemeinsame Klimaschutz-Politik – bei einem Scheitern „scheitre alles“, es sei „eine Minute vor Zwölf“. Zuvor war dieser Mann mit der von Wind und Wetter zerzausten Frisur bereits aus dem europäischen Projekt ausgestiegen und er verströmte die Glaubwürdigkeit eines veralteten Diesel-Motors bei seinen Panik-Worten.

 
Ich möchte aber nicht auch noch Panik verbreiten, indem ich auf unfähige Politiker hinweise, deren Uhren offensichtlich falsch gehen – denn es ist bereits fünf Minuten nach zwölf, glaube ich. Nein, ich möchte noch einmal abschließend den Geist der Tradition aufrufen, den Ortega Y Gasset bereits vor fast 100 Jahren entflohen sah. Vor 2.400 Jahren lebte in der Provinz Izmir der Begründer der akademischen Skepsis. Arkesilaos sagte vor so vielen Jahren schon den Satz aller Sätze: Nichts ist sicher und nicht einmal das ist sicher.

 

Der schottische (wegen Cop26 und Glasgow passend) Philosoph David Hume meinte einmal, dass wir nicht einmal Gewissheit darüber haben, dass morgen die Sonne aufgeht. Er nannte diese Haltung „Fallibilismus“. Und doch habe ich genau das (den Sonnenaufgang) nun bereits über 20.000-mal erlebt und halte es für sehr, sehr wahrscheinlich, dass sie morgen auch aufgehen wird. Also im metaphorischen Sinn, denn die Sonne geht nicht auf, sondern die Erde dreht sich zu ihr hin. Aber das tut sie. Das alles könnte ich genauso gut bezweifeln und dann bliebe mir als letzte Gewissheit nur mein Zweifel selbst, den ich (so René Descartes einst) nicht anzweifeln kann. Mein Vater, der heute 102 Jahre alt werden würde, sagte es treffender als alle Philosophen der Welt es könnten:

 

Egal wie man sich dreht und wendet, der Arsch bleibt immer hinten.
Wer daran zweifelt, der glaubt aber auch alles.

 

 

ENDE 

  

 

 

 

 

 

Der 17. Beitrag 2021

 

 

WOHER UND WOHIN UND WIE?

 

Warum sind wir hier und vermehren uns wie die Karnickel? Wir wissen es nicht. Wir haben zwar zahlreiche Erklärungsversuche unternommen, um den Sinn des Lebens zu ergründen. Aber es waren eben nur Versuche. Daher haben die Philosophen und dann alle anderen Menschen es allmählich aufgegeben, den Sinn des Lebens zu ergründen. Die meisten von uns konzentrieren sich voll und ganz auf den Sinn ihres eigenen Lebens und sind damit mehr als beschäftigt. Fragt man mich jedoch nach dem Sinn meines Lebens, habe ich das ungute Gefühl, es wäre Hybris darauf zu antworten. Warum sollte ausgerechnet mein Leben irgendeinen Sinn haben, den vielleicht ein anderes Leben nicht hat? Das ergibt keinen Sinn. Wenn man über den Sinn wie über irgendeinen Sachverhalt nachdenkt, verhält sich die Sache vor dem Denken anders als nach dem Denken. Es ist tatsächlich eine Art hinterher denken. Die Sache kommt einem hinterher anders vor. Es kommt zum Vorschein, was dahinter ist, aber was dahinter scheint nicht zum vor ist. Wenn ich darüber nachdenke, wie mir das vorkommt, was mir da beim Vordenken nachkommt, dann verstehe ich Walter Benjamins Einräumung, wir würden nicht mit der Sprache denken, sondern in der Sprache. Die Sprache ist oft selbst ganz sinnlos. Sie ist nicht so smart, wie die FDP das gerne hätte. So kommen wir oft nur ex negativo auf irgendeine Spur. Wir sagen „das ist sinnlos“, wenn jemand eine Tätigkeit ausführt, die nicht zu einem erkennbaren Ergebnis führt. Wir bezeichnen es aber auch als sinnlos, wenn jemand ein Gedicht schreibt, oder überhaupt sich für irgendetwas schindet ohne Geld oder irgendeinen Preis dafür zu bekommen. Wozu die Anstrengung? Oder wir empfinden es als sinnlos, wenn sich jemand für etwas Gutes einsetzt, weil wir glauben, dass er das Ideal seiner Anstrengungen nie erreichen kann. Warum für den Umweltschutz engagieren? Die Menschen werden doch eh alles zerstören. Warum sich für die Armen engagieren? Es wird immer Reiche und Arme geben. Warum für den Frieden demonstrieren? Der Mensch wird immer Krieg führen. Und so weiter. Auch mit Kindern sind wir nicht gnädig. „Lass den Unsinn“, sagen wir zum Kind, wenn es etwas macht, das uns zu stören scheint. Dabei ist Unsinn, anders als bei den Unkosten (oder der Unmenge), nicht mehr Sinn, sondern weniger.

 

„Erzähl keinen Unsinn“, sagt man mir oft, obwohl ich gar kein Kind mehr bin. Andererseits ist man im Werden immer auch noch ein wenig das, was man mal war. Also steckt in uns allen ein Kind, das gerne Unsinn macht oder wenigstens machen würde, wenn man es ließe. Unsinn verstößt gegen Normen. So schafft der Sinn ein normatives Verhältnis zum Leben. Es ist daher eine merkwürdige Unwissenheit, den Sinn des Lebens nicht zu kennen. Wir kennen die normative Grundlage von allem gar nicht. Alle unsere Regeln und moralischen Vorschriften sind im wahrsten Wortsinne aus der Luft gegriffen. Wir leben alle in einer normativen Enge des „Du darf dieses nicht und jenes nicht“. Vieles von dem, was man nicht darf, ist sinnvoll. Aber warum?  Stehlen, morden und huren wird überall verurteilt. Andererseits fühle ich mich täglich von meinem Vermieter bestohlen, vom Finanzamt, von der Telekommunikationsgesellschaft,

 

 

den Nahrungsmittelherstellern. Warum dürfen diese mich bestehlen und ich sie nicht? Warum muss ich mich auf dem Arbeitsmarkt (früher auch Sklavenmarkt genannt) zur Hure machen? Das ist nicht nur sinnlos, es ist sogar unmoralisch! Ausbeutung für ein paar reiche Arschlöcher, die sich dann intergalaktische Raumstationen bauen, auf denen sie mit ihren scheiß reichen Freunden sinnlose Partys feiern, während ich auf die nächste Überschwemmung warte?

 

Nestlé darf mich sogar langfristig mit überzuckerten Nahrungsmittel umbringen, ohne bestraft zu werden. Das Leben ist sinnlos, weil es ungerecht ist oder ist es ungerecht, weil es sinnlos ist? Oder ist Gerechtigkeit eine Frage der Perspektive und für eine arme Socke wie mich ist das Nachdenken über Gerechtigkeit ein zu spät denken? Kann man beim Nachdenken nicht mehr hinterherkommen und ist das Denken dann ganz sinnlos? Ergibt es Sinn, hier herumzusitzen und über Gott und die Welt nachzudenken, ohne je auf ein vernünftiges Denkergebnis zu kommen? Ich könnte diese Zeit jetzt sinnvoll damit verbringen, Geld zu verdienen. Selbst schuld, statt reich.

 

Der Mensch verfügt über Sinne und es ergibt Sinn, Augen zu haben um die Welt zu sehen, Ohren um die Welt zu hören, eine Nase um die Welt zu riechen, Beine um durch die Welt zu gehen und Hände um die Welt anzufassen. Darüber muss man gar nicht groß nachdenken. Aber wie steht es um Blinde, Taube, Gelähmte? Ist ihr Leben jetzt sinnloser als meines? Nicht immer ist das, was einen Sinn ergibt auch ein Sinn. Handlungssinn, Bedeutungssinn, Verstehen. Eine Definition – sagte einmal Hans Jonas – kann Wissen nicht ersetzen. Definitionen sind für den Philosophen wie Klebstoff für den Bastler. Bei der Handarbeit mit Schere und Papier klebt man schnell mal was zusammen, was gar nicht zusammen gehört. Gelegentlich ist das Sinnlose aber schön und berührt so den Sinn. Ein Gedicht mag sinnlos sein, sobald es jemand mit Genuss liest, berührt es den Sinn. Was uns in den Sinn kommt, ist nicht immer sinnvoll und daher filtern wir vieles wieder aus unseren Sinnen heraus. Das ergibt Sinn. Niclas Luhmann sah im Sinn die ständige Aktualisierung von Möglichkeiten. Andererseits ist das Unmögliche gelegentlich sinnstiftend. Oder macht eine Utopie etwa gar keinen Sinn? In gut 50 Tagen beginnt die sinnliche Jahreszeit, die für einen Atheisten schlicht nur kalt ist. Leuchtende Kugeln auf Tannenbäumen ergeben gar keinen Sinn, aber die Stimmung die zur Weihnachtszeit in unseren Landen herrscht, möchte ich nicht missen. Auch wenn Jesus, der Weihnachtsmann, der Nikolaus und andere Fabelwesen nur abergläubischer Unsinn sind, sie berühren unsere Sinne. Wenn Unsinn Sinn ergibt und das Sinnlose unsere Sinne berührt, dann eröffnet mir die Sprache Räume und dies immer wieder, sogar nach tausenden von gesprochenen Jahren. Ein weiteres sinnloses Wunder.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

Der 16. Beitrag 2021

 

 

 

ENTROPIE ALS METAPHER

  

 

Entropie ist eine extensive physikalische Zustandsgröße. Bei geschlossenen Systemen besteht die große Wahrscheinlichkeit zunehmender Unordnung. So ist ein Kartenspiel anfangs in einem geordneten Zustand und damit auf einem niedrigen Entropie-Niveau. Wenn man die Karten mischt, verändert sich der Zustand. Die Karten geraten in Unordnung und damit auf einen höheren Level der Entropie. Es ist unwahrscheinlich, dass man die Karten durch Mischen wieder in den ursprünglichen geordneten Zustand bringt, aber nicht unmöglich. Je größer allerdings das System ist, desto unwahrscheinlicher wird es, und das Gesetz der Thermodynamik besagt, dass Entropie immer zunimmt, physikalische Zustände sich also immer mehr vermischen, bis sie keine Ordnung mehr vorzuweisen haben. Das gilt für geschlossene Systeme. Der Mensch ist allerdings ein offenes System. Physiker hassen es, wenn man ihnen die Begriffe klaut und sie auf andere Wissensgebiete anwendet. Das mag legitim sein, weil es Verwirrungen vorbeugt. Hier nutze ich den Begriff der Entropie als Metapher.

 

Der biologische Zerfall des Menschen ist eine Ereignisfolge der Reproduktion von Zellen. Der Alterungsprozess ist ein energetisches Problem. Im Laufe meines Lebens gelingt es immer weniger, Energie durch Arbeit und Wärme abzugeben und so den ursprünglich niedrigeren Entropie-Zustand wieder herzustellen. Entropie ist eine extensive Größe. Zeitmachen ist ein innerer Vorgang zur Synchronisation von immer höherer Entropie, also eine Methode, sich in einem zunehmend ungeordneten Zustand zurechtzufinden bzw. ihn wieder in Ordnung zu bringen. Das ist wieder mal ein Paradoxon. Um einen geordneten Zustand (niedrige Entropie) zu erreichen, muss man Energie aufwenden. Nehmen Sie einen Kasten mit Gas. Nun zieht man eine Wand in die Mitte des Kastens. Man presst mithilfe von Energie die Gasteilchen in eine Hälfte des Kastens. Damit hat man einen Zustand niedriger Entropie geschaffen. Aber der Aufwand dazu kostete Energie, die wiederum zu Entropie führt. Die Ordnung in dem Kasten war nur möglich auf Kosten mehr Unordnung außerhalb des Kastens.

 

Zeit ist nicht nur eine Maßeinheit, sondern eine intellektuelle Arbeit. Denn mit der Zunahme der Entropie verliert man als Subjekt die Orientierung im Lauf der Ereignisse. Zeitmachen ist daher eine Arbeit, um Entropie zu verringern. Zum Beispiel schreibt man ein Buch, um etwas, was geschehen ist, verständlicher zu machen. Das schafft inhaltlich einen Zustand von geringerer Entropie, weil Ordnung in das Geschehen kommt. Ein Buch selbst als physikalischer Gegenstand ist dagegen von extrem hoher Entropie, denn es ist ein Zustand von größter Unordnung der Informationseinheiten. Je dicker das Buch, desto größer die Unordnung, die physikalisch in dem Buch steckt. Physikalisch betrachtet hat eine Wurstsemmel mehr Ordnung zu bieten. Der Preis für intellektuelle Ordnung ist die Zunahme physikalischer Entropie. Um mit Koheleth zu reden: Viel Studieren ermüdet den Leib.
   Hier sieht man dann doch, dass Begriffe nicht bedingungslos auf andere Wissensgebiete übertragen werden können. Doch eine gewisse metaphorische Gültigkeit bleibt bestehen.

 

 

Die Welt braucht eine atlantische Zäsur

 

Wenn wir die Geschichte der Menschheit im Sinne der Entropie betrachten, dann ist der Preis, den wir für unsere historische Ordnung zahlen, offensichtlich.  Geschichte ist dann wie der Kasten mit dem Gas. Je mehr Ordnung wir hineinbringen durch intellektuelle Anstrengung, desto größer wird die Unordnung außerhalb der Gebiete der Geschichte. Das erklärt dann auch die zunehmende Aufspaltung der Wissensgebiete. Es gibt immer mehr Kästen, in die wir Ordnung bringen müssen. Doch immer mehr solcher Kästen verursacht immer mehr Unordnung. Inzwischen gibt es so viele Wissensgebiete, dass sich keiner mehr wirklich auskennt. Auch innerhalb der Wissensgebiete spaltet sich alles schon auf. Wir können als Subjekt kaum noch eine Ordnung im Ablauf der Geschichte erkennen. Es gibt daher Spezialisten für das Mittelalter, für die Antike, für die Neuzeit, für die Moderne, und auch innerhalb dieser Gebiete gibt es bereits Spezialisten. Kein Mediävist hat das gesamte MA im Blick. Als gesamtgesellschaftliche Anstrengung schaffen wir ein paar Generationen Geschichte. Doch dann entgleitet uns diese Ordnung. Im Fluss der Zeit müssen wir zugleich unsere Deutungen immer wieder korrigieren, weil neues Wissen entstanden ist. Wie ich eingangs an den fehlerhaften Bezugssystemen illustrierte, fürchte ich, haben wir kaum noch ein echtes Wissen davon, welche Bezugssysteme tatsächlich in den frühkulturellen Gesellschaften vorherrschte. Auch zur Begriffsgeschichte verlieren wir den Zugriff und verstehen nicht mehr, wie etwas vor ein paar Hundert Jahren wirklich gemeint war.


Der Zustand der gesellschaftlichen Unordnung zeigt sich dabei nur mit gebührendem Abstand. Daher sprach Friedrich Nietzsche auch von seinem Adlerhorst, seiner Vogelperspektive der Wahrnehmung. Die räumliche Perspektive suggeriert ein merkwürdiges Gewimmel. Die zeitliche Perspektive ist dann eine Frage der Geschwindigkeit. Die Menschheit im Zeitraffer suggeriert Ordnung, weil sie weniger Entropie aufweist. Die Informationen sind im historischen Schnelldurchlauf geringer, daher auch die Entropie. Je langsamer man sich jedoch geschichtliche Abschnitte vor Augen hält, desto seltsamer und ungeordneter werden sie, weil die Zunahme der Informationen nun einen höheren Entropie-Level erzeugt.

 

Steht man auf einem Marktplatz einer größeren Stadt, erscheint einem die Menschheit sehr bunt und heterogen. Steht man weit oben und blickt von einem großen Turm auf diesen Marktplatz herunter, sehen alle Menschen ziemlich gleich aus. Räumliche Distanz reduziert die Informationsmenge und führt zu einem Zustand niedriger Entropie und höherer Ordnung.

 

So kann man zum Schluss sagen: Wer mehr weiß, weiß viel weniger, weil die höhere Anzahl an Informationen die Entropie erhöht und so zu Unordnung führt.

 

Simplex ratio veritatis sagte Cicero. Die Wahrheit ist konkret, sagte wiederum Lenin. Ich fürchte, es ist ein bisschen komplizierter. Es scheint eine Tautologie zu sein. Die Wahrheit ist nur einfach, wenn sie einfach ist. Meistens jedoch ist sie mehrfach und dann wird es mit der Wahrheit schwieriger.

Sokrates sagte den berühmten Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Dieses Paradoxon ist damit gemeint. Wer viel weiß, dem erscheint es meistens so, als wüsste er gar nichts. Verwirrung, sagte Konfuzius wiederum, ist der Beginn der Weisheit. Ich denke, was der alte Chinese aus der Zeit der östlichen Zhou-Dynastie aus der Provinz Shandong meinte, ist, dass der distanzierte, verschwimmende Blick jene Grenze markiert, die uns die Grenzen unseres Wissens aufzeigen.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 15. Beitrag 2021

 

 

CAFÉ Parsifal

 (heute Café Hummel im 8. Wiener Bezirk)

 

 

Se. Erlaucht hat sich augenblicklich zu der Erkenntnis durch-gerungen, dass es in der Geschichte der Menschheit kein freiwilliges Zurück gibt.

 

Langsam kam die Kamera vom Himmel herunter, durch die Wolken durch, schwenkte über das Schwarze Meer zur Donau, dann scharf links zum Altlerchenfeld, Breitenfeld und zum Ziel Josefstadt, Josefstädter Straße, Café Parsifal, dann durch die Tür, links, zum großen Tisch. Robert schob Martha gerade einen Stuhl hin, setzte sich, bestellte einen Kaffee, zündete sich eine Zigarette an.

 
„Küss die Hand“, sagte Franz zu Martha. Diese deutete im Sitzen einen Knicks an, lächelte, streckte aber die Hand nicht hin. So konnte Franz seinen Handkuss nicht durchführen. 

   „Wir waren gerade bei der Liebe“, sagte Egon.

„Eine Sommernacht …“, antwortete Robert, blies Rauch aus.

  „Macht noch keine Ehe. Hugo, erzähl doch noch mal die Geschichte.“

   Franz beendete gerne die Sätze von Robert. Und es war Franz mehr oder weniger egal, wie der Satz wirklich enden sollte. Für ihn waren alle nur merkwürdige Tierfiguren in seiner kleinen Fabelwelt. Und der Vivisekteur Robert, war ein Winterschläfer mit gesundem Knochenbau.
    „Das ist eigentlich keine Geschichte. Es ist ein Fall.“
„Immer fällt doch wer in der Geschichte“, meinte Bela. Bela war der Jüngste im Kreis. Nicht nach dem Alter. Er war sogar etwas älter als Robert, nein, er war erst vor kurzem aus Ungarn geflohen. Ihm steckte der Terror noch in den Knochen. Kaffeehäuser waren ihm eher noch Sanatorien.

   „Ja“, sagte Hugo. „Aber in meinem ‚Fall‘ ist es ein nervöser Patient, der in meine Praxis kam und darüber klagte, seiner Partnerin nur beiwohnen zu können, wenn sie dabei gelangweilt sei, ein Buch lese oder einen Apfel esse.“

   „Was in gewisser Weise ein ‚Nebenbeiwohnen‘ wäre, oder?“ Franz zwinkerte Gina zu. Gina erwiderte dieses Augenzwinkern mit einem bösen Blick Richtung Martha. Diese merkwürdige Verschiebung konnte eigentlich nur Robert wirklich verstehen. Gina wurde zu sehr als Frau wahrgenommen und litt unter dieser Einschätzung nicht weniger als Robert, der zu sehr als Mann wahrgenommen wurde. 

Martha hingegen lebte unter Männern so natürlich wie Flechten oder Farne auf Bäumen. Manchmal ging Martha fast als Mann durch, nicht äußerlich, Martha hatte weibliche Kurven, einen sinnlichen Mund, nein etwas an ihrer Art ließ sie unter Männern selbstverständlich sein, während Gina dies ihr neidete.


„Mein nervöser Patient“, alle lauschten dem Analytiker, der auch Roberts Geheimnisse kannte, 

   „stellte sich gerne vor, wie sich seine Partnerin, während er in sie eindringt, mit ihrer Freundin über die neueste Damenmode unterhalte. Diese Vorstellung errege ihn absonderlich.“
   „Und was wollte der arme Mann von dir?“ Egon stopfte die Pfeife nach.
   „Absolution?“ Robert sagte das leise. Martha drückte seine Hand.
„Das ist eine Frauenangst.“ Gina musste das sehr laut sagen. Und erntete doch nur ein Augenzwinkern von Franz.

 
„Da muss ich dir widersprechen“, antwortete Hugo. „Die Angst vor der Liebe ist eine Männerangst. Frauen haben Angst vor Gewalt, nicht vor der Liebe. Männer haben keine Angst vor Gewalt. Aber …“,
„vor der Wahrheit, die sich in der Liebe offenbart.“ Bela sagte das mit all seinem ungarischen Feuer.

 

Alle bis auf Martha rauchten und so hatte sich um diesen altösterreichischen, cis- und auch transleithanischen Kreis eine Wolke gebildet, die kaum noch zu durchdringen war. Innerhalb der Wolke war es merkwürdig klar, wie im Auge eines Hurrikans.


Aber so abgeschottet, nahm unser Kreis nicht alles wahr. Robert saß am günstigsten und konnte einige Tische weiter eine Gruppe junger Männer durch die Rauchschwaden beobachten, die weder rauchten noch viel sprachen. Sie waren alle gleich angezogen, trugen diese neumodischen braunen Hemden. Ein paar der Männer wirkten brutal, zwei andere aber saßen so schüchtern und verängstigt am Tisch, dass Robert den Eindruck hatte, man hätte sie unter Androhung des Schlimmsten dazu gezwungen, diese Hemden in der Farbe von Kamelscheiße anzuziehen.


Der Gegensatz zwischen den beiden Tischen konnte nicht größer sein. Aber ein einzelnes Objekt existiert gar nicht. Es kann nur als eine Beziehung zwischen Objekten und als eine Beziehung zu einem fühlenden, wissenden Wesen existieren. Kein Baum ohne seinen Boden und Baum und Boden erkennendes und fühlendes Wesen. Während alle jetzt durcheinander sprachen und die Liebe zum Thema hatten, beobachtete Robert den Tisch mit den Jungsozialisten. So bekam er auch als einziger mit, wie einer der Jungsozialisten schwungvoll aufstand und mit geschwellter Brust in 
ihre Richtung ging. Dann stand dieser Jungsozialist vor dem Tisch der Altösterreicher, eine durch den Rauch verschwommene Figur, die gleichzeitig die Hacken zusammenschlagend und den rechten Arm in die Höhe werfend schrie: „Heil Hitler.“ Das musste er ein paar Mal wiederholen, erst dann nahm man seine verschwommene Gestalt am Tisch der Altösterreicher wahr. Die eben noch heiß über die Liebe diskutierenden Köpfe wandten sich dem Jungsozialisten zu, sahen durch den Rauch seine kackbraun verschwommene Gestalt.

   „Heil Hitler, schämen Sie sich. Sie verpesten hier die Luft.“
Als erster lachte, noch etwas verschämt, Bela. Von der weißen Garde gestählt und abgehärtet. Dann lachte Franz und dann Egon (sehr laut), dann der ganze Tisch. Schallend. Während sie lachten, kam schon der Oberkellner und schob den Jungsozialisten energisch vom Tisch der Altösterreicher weg Richtung Ausgangstür.

 

Die anderen Jungsozialisten folgen unter Protest und ständigem „Heil Hitler“-Rufen ihrem Anführer nach draußen.

Dann war es wieder ruhig. „Was ist dieses High Ilta?“

Bela beugte sich dabei etwas vor und klopfte Asche ab.
   „Da beziehen sich die jungen Herren wohl auf einen vorbestraften Arbeiterführer‘“, meinte Egon. „Ein gewisser Hitler.“

 

„Immerhin einer, dem Königgrätz noch was bedeutet.“ Ob Robert das ironisch meinte oder ernst, konnte man bei Robert nie genau sagen.
   „Ein Hinterlader?“ Das war nun wirklich deutlich ironisch gemeint von Franz. „Was ist ein Hinterlader?“, fragte Gina.

 

„Das meine Liebe, ist, wenn dir die Liebe keinen Spaß macht“, antwortete Hugo. Franz zwinkerte Gina wieder einmal zu. Doch Gina reagierte darauf gar nicht, nur mit einem wieder ganz verschobenen, Furien haften Blick Richtung Martha. „Und all das ohne die Mechanik des Geistes“, meinte Egon und spielte damit auf die intellektuelle Auseinandersetzung Roberts mit dem deutschen Außenminister an.
  „Vielleicht nicht ohne Mechanik, aber gewiss ohne Geist“, antwortete Franz für seinen Winterschläfer.


Wieder sprachen alle durcheinander, rauchten. Die Kamera drang nun aus der Wolke heraus, schwebte Richtung Ausgangstür, blickte versonnen auf die Josefstädter Straße, wo braun gekleidete Jungsozialisten in kurzen Hosen Flugblätter verteilten, auf dem sie zu einem altdeutschen Volksfest, einer Sonnwende einluden, wo auch ein gewisser Ludwig Klages eine Rede halten würde. Die meisten Menschen blieben stehen, lasen neugierig das Flugblatt und begegneten den Jungsozialisten sehr wohlwollend.

 

Die Kamera stieg langsam gegen den Himmel auf, so wurden die Menschen immer kleiner und bedeutungsloser, die Kamera stieg weiter auf, drang durch eine echte Nikotinfreie Wolke und nun sah man gar nichts mehr. Und wusste auch gar nichts mehr. Vielleicht würde die Kamera jetzt bald bei Gott sein. Aber das – wie gesagt – war längst reinste Spekulation. 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 14. Beitrag 2021

 

Anlass: wir wissen, was wir sehen!

 

 

Aber sehen wir auch, was wir wissen?

 

Streifschuss vom 06. Oktober 21

 

Der französische Kubist George Braque gehörte ja zusammen mit Pablo Picasso zu diesen untalentierten Leuten, die – weil sie nicht richtig malen konnten – einfach eine eigene Stilrichtung gründeten. Sie nannten sich „Die Würfler“ und malten geometrische Figuren, die immer ein bisschen wie ein missglücktes Mathe-Experiment aussehen. Sie, die Kubisten (Würfler) gingen davon aus, dass Objekte nicht im eigentlichen Sinne existieren. Nicht für sich selbst sozusagen, sondern nur als Beziehung zwischen Objekten und als Beziehung zwischen fühlenden und erkennenden Lebewesen zu Objekten, die als Beziehung zueinander erkannt werden könnten. Also ein Apfel existiert nicht allein als Objekt, sondern nur als Beziehung zum Baum, an dem er hängt oder zum Teller, auf dem er liegt und als Beziehung zum Obstkonsumenten, der ihn vom Baum pflückt oder auf dem Teller zerhackt.

 

Heute nennt man diese Auffassung Prädictive Coding, was gelehrt klingt, aber ein alter Hut ist und worunter man ein Gehirn versteht, das laufend Prognosen erstellt über zukünftige Ereignisse und diese nach zwei Methoden berechnet. Entweder die eigenen Erwartungen beeinflussen die Wahrnehmung der Wirklichkeit oder die reine kognitive Verarbeitung von Sinnesreizen beeinflusst permanent die eigene Wahrnehmung. Vielleicht ist es auch so, dass viele erwarten, ihr Gehirn würde es schon richtig machen. Was ein großer Fehler in der Sache ist, weil das Gehirn ohne seinen Besitzer ein nicht existierendes Objekt ist und nichts berechnen könnte.


Tatsache ist, dass wir tatsächlich eher sehen, was wir wissen und seltener tatsächlich wissen, was wir wirklich sehen. Das beginnt schon mit der Augenmotorik. Vier Hirnnerven steuern die Augenbewegungen. In einem komplexen Zusammenspiel muss das Auge  Blickzielbewegungen durchführen, sogenannte Mikrosakkaden. Das geschieht ca. dreimal in der Sekunde und hilft dabei, die unterschiedlichen Lichtverhältnisse gleichmäßig auf die Rezeptoren zu verteilen. Wäre der Kopf fixiert und die Augenmuskeln gelähmt, käme es zur Erblindung. Doch zwischen den Blickzielbewegungen bleibt noch ein Rest von 30 Millisekunden übrig. In dieser Zeit sind wir alle blind. Bei ca. 100.000 Sakkaden pro Tag kommen wir immerhin auf eine knappe Stunde, in der wir nichts sehen. Was will 
Gott, dass wir nicht sehen? Doch das ist noch nicht alles. Alle vier Sekunden müssen wir die Augen schließen, um sie zu befeuchten. Während eines Lidschlags sind wir 300 Millisekunden lang blind. Es kommen also noch einmal ein paar Minuten dazu. Doch wir bemerken es nicht. Wir haben nicht den Eindruck vorübergehender Erblindung. Unsere fehlende Wahrnehmung wird durch unser Wahrnehmungsgedächtnis im präfrontalen Cortex kompensiert. Somit erleben wir einen Teil des Lichtes, das unser Auge formte, als Erinnerung.

 

Erinnerungen, Vorwissen, Erwartungen, Reize. Diese Reihe bildet ein mentales Modell der Wirklichkeit ab und die vorgestellte Wirklichkeit in unserem Gehirn hat gar nicht so viel zu tun mit der wirklichen Wirklichkeit. So ist die Aufnahme kollidierender Elementarteilchen in einer Blasenkammer (Teilchendetektor) ein viel genaueres Abbild der Wirklichkeit als es mein Gehirn grob zusammengeschustert hat.


Es ist daher ein großes Wunder, dass wir uns dennoch in der Welt zu Recht finden und den Weg zum Arbeitsplatz. Doch sollten Sie mal eine Ausrede für Ihren Arbeitgeber brauchen, dann sagen Sie ihm, dass der von ihm zur Verfügung gestellte Arbeitsplatz in Ihrer Erinnerung und Ihrer Erwartung ganz woanders war und Sie daher auch woanders waren an dem Tag, an dem Sie hätten arbeiten sollen.

 

Denn! Was könne man schon für sein Gehirn? Das sei einem gegeben. Die Schule weckte auch nur falsche Erwartungen vom Leben …

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 13. Beitrag 2021

 

 

ASSOZIATIONEN 

 

ZUM GESCHICHTE(N)MACHEN

 

Geschichte gehört zu denjenigen Gegenständen der Erkenntnis, schreibt Dath in seiner Niegeschichte, die sich verändern, wenn man sie untersucht. Nun denke ich, dass mit jeder Geschichte, also auch mit erfundenen Geschichten, das Gleiche geschieht. Sie verändern sich, wenn man sie untersucht. Als Leser ist man lediglich ein Beteiligter. Je aufreibender, je intensiver die Beteiligung, je stärker die Bereitschaft zur Beteiligung und Einlassung, desto gravierender ist der Eingriff in die Geschichte durch Beteiligung an Geschichte. Das betrifft auch erfundene Geschichten und deren Rezipienten. Wer der erfundenen Geschichte eines Romans nur beiläufig folgt, findet darin dann nichts, womit er sich beschäftigen könnte und wird so auch keinen epistemologischen Einfluss auf die erzählte Geschichte nehmen. Was geht es mich an, wenn in China ein Sack Reis umfällt.

 

Sobald ein Autor seinen Rezipienten zur Teilnahme ermuntert, wird die erzählte Geschichte verhandelt. Was bedeuten diese oder jene Ereignisse tatsächlich? In welchem Zusammenhang stehen diese oder jene Figuren eigentlich? Was ist die Moral der Geschichte? Der Autor verteidigt nun sein Urheberrecht und wirkt dabei immer lächerlicher. Die Differenz zwischen faktischer und fiktionaler Wirklichkeit hat sich in den Begriffen des bürgerlichen Geschichte-machens (den Gesetzen der Geschichte) mehr und mehr aufgehoben. Die Grenzen verfließen. Nicht nur im Stoff, sondern auch der Form halber. Einerseits nimmt die Fiktion Anleihen aus der faktischen Wirklichkeit, kann gar nicht anders, um verstanden zu werden, andererseits dient die Fiktion zur Evaluation der faktischen Wirklichkeit. Die bürgerlichen Ideale (zum Beispiel Fortschritt, oder gar Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit /Hegel) lassen sich durch Fiktion überprüfen.

 

Daher ist der Roman die bevorzugte schriftliche Kunstform der Bourgeoise. Doch das Geschichtemachen der bürgerlichen Geschichtsschreibung von Condorcet bis Ian Kershaw, muss immer den Prozess des Geschichtemachens in ihr Geschichtemachen mit einbauen.  In den Reflexionsstufen explodiert die Informationsdichte und führt das ganze Projekt ins Absurde. Der Roman füllt die Lücken im historischen Haus. Ob sich die Fiktion in die Zukunft oder die Vergangenheit richtet ist nicht relevant, denn immer steht die Gegenwart Pate. Der Blick zurück ist bereits durch das Geschehene korrumpiert. Es gibt Romane, die alternative Geschichte erzählen. So erzählte der US-amerikanische SF-Autor Norman Spinrad in seinem Roman „Der stählerne Traum“, wie Hitler überlebte und zum Pulp-SF-Pionier wurde. Hitler schreibt in Spinrads Roman selbst Romane über die Kommunisten, die er als telepathische Kollektivmenschen karikiert.  Wir wissen, dass Hitler nicht überlebte.

 

Der Roman „Lord of Swastika“, den Hitler angeblich schrieb, existiert nicht. Aber auch der Hitler, den Lion Feuchtwanger in seinem ersten Teil der Wartesaal-Trilogie „Erfolg“ beschreibt, existierte nie. Der Unterschied zwischen Spinrads Hitler und Feuchtwangers Hitler liegt im Kern lediglich in der Nähe zum historischen Vorbild. Vergangene Ereignisse werden zum Füllstoff unserer Tagträume. Und unterhalb der Bewusstseinsschwelle erarbeiten wir Bilder und Texte, die, sobald sie dafür tauglich scheinen, aufscheinen in unserer Wahrnehmung. Sie ergänzen die bewusste Arbeit nicht nur, sie grundieren sie geradezu. In den Tiefen des Ozeans entstand das Leben, im Verborgenen. Wer Geschichten schreibt, taucht ab, taucht unter und mit einem Heureka wieder auf. Sowohl die Fiktion, als auch die faktische Geschichte unterliegt einer soziokulturellen Bewertung, Einschätzung. Für gegenwärtige Populationen sind Erfahrungen der Kohärenz wichtig, aber auch Erfahrungen der Differenz. Beides erzeugt eine bipolare Spannung, unter dessen Druck die praktische, emotive und kognitive Schwingungsfähigkeit des Einzelnen sich erhält. Gerade die Intensität dieser Schwingung verursacht ein Gefühl von Konstanz. Gesellschaftliche Brüche entstehen nicht bei hohen Schwingungsgraden, sondern beim Ausleiern der Schwingung.

 

Am Ideal der Antike lässt sich das erläutern. Wahrheit war im antiken Bewusstsein auch schön und das Schöne naturgemäß wahr. Dieses Ideal der Antike funktionierte, weil den meisten Menschen klar war, dass dieses Ideal in der Wirklichkeit nicht erreicht ist. Die Kunst schuf daher Formen, die diesem Ideal dienten. In der Spannung von der Differenz zwischen einer von Phidias geschaffenen Athena aus Gold und Elfenbein und der eigenen durch permanente Schwangerschaft früh gealterten Ehefrau lebte dieses Ideal erst. Ab dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert zerfiel diese Kunst und lebte erst wieder in der Neuzeit auf.

 
In der Renaissance erlebte dieses Ideal eine bizarre Blüte, weil Pest und moralischer Zerfall ein solches Schönheitsideal brauchten.  Im Barock geriet das Wahrschöne in den Hintergrund, denn diese Ära lebte von der Spannung zwischen dem Ideal der Regelhaftigkeit und der chaotischen Wirklichkeit. Die Zeichenhaftigkeit des Himmels widersprach in seinem steten Lauf dem chaotischen Schicksal des Einzelmenschen (dem in der Renaissance erwachten Individuum).

 

Das seit der Aufklärung propagierte Bürgerideal künstlerischer Vielfalt lebt in der bipolaren Spannung zur Uniformität der einzelnen Existenzen. Die Möglichkeiten übersteigen unsere Fähigkeiten. Keiner ist mehr in der Lage, eine homogene Einheit seines Daseins zu exemplifizieren. Jede Darstellung von Welt und Geschichte zerfällt augenblicklich und widerspricht dem Kohärenz-Bedürfnis. Das heißt: Unser Bedürfnis nach Zusammenhang in der Darstellung, einer Art einheitlichen Weltanschauung steht in bipolarer Spannung zur kulturellen Vielfalt als Ideal unserer Gesellschaft.

 
Fiktion und faktische Geschichtsschreibung kooperieren beide mit dieser bipolaren Spannung, um die praktische, emotive und kognitive Schwingungsfähigkeit des Einzelnen aufrechtzuerhalten.

 

Die Transformation des soziokulturellen Ozeans unterliegt naturgemäß einer Entwicklung.  Die Differenz zwischen Geschichte-machen als Aufdecken dessen, was wirklich geschehen ist und der Fiktion als Aufdecken der Möglichkeiten und Perspektiven dessen, was geschehen ist oder geschehen könnte, erzeugt eine bipolare Spannung unseres emotiven, praktischen und kognitiven Bewusstseins. Die Differenz zwischen dem was war bzw. ist, und dem was möglich war, bzw. möglich ist, hat die gleiche Grundfunktion wie die Differenz zwischen Gottes Güte und der realen Hungersnot einer mittelalterlichen Lebenserfahrung.


Die Illusion der Möglichkeiten erfahren wir tagtäglich durch die harte Wirklichkeit. Unsere kapitalistische Traumfabrik-Gesellschaft lebt vom real existierenden Alptraum der Menschen.

 
Aus der Vogelperspektive betrachtet, hat jede soziokulturelle Epoche ihr Ideal, das sich negativ vom Mangel ihres Daseins ernährt. Die in der jeweiligen soziokulturellen Epoche erschaffene Kultur spiegelt die  Illusion ihres eigenen Ideals wider.

 

Unsere soziokulturelle Aufmerksamkeit fokussiert sich stark auf Erinnerungen. Seien es Erinnerungen an andere Epochen, seien es Erinnerungen an sich selbst. Dieses im Gedächtnis angesammelte Vermögen, sich zu erinnern, bedarf eines ausgeklügelten auf  Sequenzen und Episoden angelegten Zeitsystems. Fiktion und faktische Geschichte sind daher überproportional an unserem soziokulturellen Ideal beteiligt. Denn sowohl die Fiktion, als auch die faktische Geschichte liefern uns das methodische Rüstzeug im Sinne des Erinnerungsideals zu denken, aber auch den Füllstoff den der einzelne Taucher dann ohne es bewusst wahrzunehmen aus den Tiefen seines Kollektiv-Bewusstseins emporhebt.

 

Die komplizierte Fähigkeit zwischen Fiktion und faktischer Wirklichkeit zu differenzieren, fordert uns. Als der Roman im 18. Jahrhundert seine Erfolgsgeschichte begann bis er als bürgerliche Kunstform unverzichtbar wurde, sprach man noch von Lesewut bzw. einer Lesesucht und sah darin eine Bedrohung. Auf dem Büchermarkt stieg die Produktion von Belletristik und wissenschaftlicher Literatur, während die Produktion religiöser Erbauungsliteratur stark zurückging. Die gesellschaftliche Trans-formation von barocker Regelhaftigkeit zur bürgerlichen Vielfalt und Heterogenität gründet sich im Niedergang des absolutistisch geprägten Adels. Der zunehmende Verlust von Form und Etikette in den adligen Gesellschaften reduzierte das bipolare Spannungs-verhältnis zwischen Regel und Chaos im Barock. Die Welt wurde zu ordentlich, und das Ideal der Regelhaftigkeit brauchte niemand mehr. Eine geordnete Welt benötigt dagegen ein Ideal der Heterogenität und der Vielfalt.

 

Die Chaostheorie befasst sich nicht mit Systemen, die dem Zufall unterliegen, sondern mit dynamischen Systemen, die mathematisch beschreibbar sind und sich prinzipiell deterministisch verhalten. Die Wissenschaften ordnen weiterhin die Welt. Die Weltbeschreibung wird damit immer feinkörniger. Das Bild einer prinzipiell nicht beschreibbaren Welt, einer vielfach komplexen und sogar unzugänglichen Welt entspricht nicht der Realität. Doch dem Einzelnen erscheint die Welt zunehmend magisch. Wie können ganze Datenpakete von einem fernen Ort innerhalb von Sekunden bei uns ankommen? Schon die Funktion eines Kühlschranks oder eines Telefons fordert die meisten Menschen heraus. Wir gehen in einem Discounter einkaufen und profitieren von der geheimnisvollen Wissenschaft der Logistik. Der Mensch ist heute wesentlich durch technische Artefakte bestimmt, die ein einzelner Mensch nicht mehr versteht. Aber gesamtgesellschaftlich werden all diese technischen Artefakte sehr feinkörnig verstanden.


Fiktion bedient sich dieser Feinkörnigkeit und schöpft ihre Möglichkeiten für das Subjekt weiter ab. Die sogenannte schöne  Literatur verfolgt keine praktischen oder rein kognitiven Zwecke, ist nicht nur politisch oder sozial, sondern auch seelisch und innerlich. 
Was denken wir, worüber phantasieren wir, was lieben oder hassen wir, wie oder was feiern wir, wie ist unser Alltag, wie könnte er sonst noch sein.  Die schöne Literatur ist im weitesten Sinn Seelen-geschichte, ein Ensemble der handlungsleitenden Gestimmtheiten.  Während unser Leben einem steuerlosen Boot im offenen Meer gleicht, liefert uns die schöne Literatur kohärente Geschichten mit einer Handlungslogik. Innerhalb eines Romans hat alles seine Ordnung.

 

Vielleicht ist unsere Welt tatsächlich schon zu sehr geordnet und verortet? Ein bisschen Irrsinn oder Wahnsinn täte uns allen ganz gut? Unser Ideal ist das Verborgene, Unerforschte. Die real existierende Ordnung der Welt liegt dazu in Spannung. Daher wird die Ordnung immer wieder zerschlagen und was gestern noch für wahr galt, ist morgen bereits ungültig. Diese permanente Reor-ganisation ist ebenfalls Teil unserer kapitalistischen Traumfabrik-Gesellschaft. Die Welt wird immer noch feinkörniger und subatomarer geordnet auf der einen Seite und mit dem Ideal des Geheimnisvollen und Verborgenen immer weiter getrieben und in seine Einzelteile zerlegt. Das Ideal einer heterogenen und vielfältigen Welt ist die Karikatur eines längst fertig gestellten Puzzles. Daher lieben wir Geschichte und Geschichten. Mit ihnen tauchen wir in die Welt hinein, als sie noch nicht erforscht und offen da lag. Doch gerade dadurch schaffen wir auch in der Geschichte und den Geschichten wieder Ordnung. In dieser bipolaren Spannung von längst Bekanntem und Sehnsucht nach Unbekanntem findet sich der Einzelne heute wieder.

 

So wie dieser Text inzwischen seine Kohärenz längst aufgegeben hat, weil er dem Ideal der Sehnsucht nach Unbekanntem zum Ende erlag, stiftet der Versuch, etwas ganz Neues zu entdecken, inzwischen mehr Verwirrung als Ordnung. 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 12. Beitrag 2021

 

 

DEUS SIVE NATURA

 

oder, eigentlich ist alles

nicht der Rede wert

 

 

Wir haben getan, was wir immer schon getan haben

 

Unser 21. Jahrhundert könnte man als Zeitalter der Störung, ja der Belästigung, der permanenten Emissionen bezeichnen. Wir werden zwar älter und immer älter. Aber wir brauchen diese Zeit auch, um all den Belästigungen Herr zu werden. Bis wir endlich Ruhe haben, sind wir ständig in Bewegung. Sogar im Schlaf pumpt unser Herz Blut, zucken unsere Muskeln, entwirft unser Gehirn Pläne. Dass wir am Morgen erfrischt aufwachen, ist eigentlich ein Wunder. Doch kaum sind wir wach, sind wir uns auch noch ständig darüber im Klaren, dass wir wach sind. Wir werden also nicht nur nicht in Ruhe gelassen, sondern ständig wird uns diese Störung auch als Bewusstsein vorgehalten. Und selbst unser Ruhemodus im Gehirn, den die Neurowissenschaftler als Default Mode Network bezeichnen, ist ständig am Machen. Ruhemodus ist ein Widerspruch in sich.

 

Vor 350 Jahren war es noch etwas ruhiger. Es gab kein Internet, kein Fernsehen, keine Autos. Wenn die Sonne unterging, war es tatsächlich dunkel. Und vielleicht liegt es daran, dass ein Mann in jener Zeit so etwas denken konnte, was ich nun im Exkurs ein wenig erläutern möchte. Aber auch schon damals war ein Mensch, der einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, um in aller Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen, für die anderen Menschen offensichtlich eine Bedrohung.

 

Der Exkurs

 

Gott ist nicht. Das gerade zeichnet ihn aus. Und gerade deshalb muss man Gott aus reiner Einsicht lieben. Diesen merkwürdigen Gedanken entwickelte ein zunehmend hustender Mann im Alter von 30 bis 40, während er Glas schliff in einer Mietwohnung an der Paviljoensgracht in Den Haag. Nun kann man sich vorstellen, dass ein Mann, der Glas schleift für hochwertige Mikroskope, den Durchblick hat. Und der Mann hatte auch die Zeit, nachzudenken. Man ließ ihn in Ruhe. Nicht freiwillig. Wann wird man in diesem Leben schon freiwillig in Ruhe gelassen? Nein. Die Gemeinde hatte ihn schon vor Jahren verbannt. Ach verbannt! Verflucht! Er hatte den Vornamen Benedictus und man verspottete ihn als Maledictus, als lichtscheuen Schreiber, als scheußliches Ungeheuer, als verblendeten Tropf und vieles mehr. Man verbot, sich diesem Mann zu nähern, mit ihm zu sprechen, seine Schriften zu lesen, mit ihm Geschäfte zu machen. Man ließ ihn in Ruhe, um ihn zu bestrafen. Der Mann hat sich nie dagegen gewehrt, dem Bannspruch blieb er fern, seine Wohnung verließ er kaum und seine wenigen Schriften hat er anonym veröffentlicht oder gar nicht. Sie wurden dann zum großen Teil erst posthum herausgebracht und auch da noch lange unter Angabe falscher Namen und falscher Titel. Der Geächtete war bescheiden genug, um von seinem Geschäft des Glasschleifers überleben zu können. Kein böses Wort von ihm. In aller Ruhe dachte er nach, schliff Glas und lebte sein kurzes Leben, bis ihn die Schwindsucht  im Alter von 44 Jahren dahinraffte. Der Mann war Materialist, aber ein so reiner Materialist wie das Glas, das er schliff. So rein und glasklar war sein Materialismus, dass er schon wieder zum Mystiker wurde.

 

Vor 350 Jahren am 27. Juli 1656 wurde die Verbannung gegen den damals noch 23 Jahre jungen sephardischen Juden Bento de Espinosa ausgesprochen.  Über hundert Jahre später, 1785, bricht Friedrich Jakobi – damals noch mit Goethe befreundet – den berühmt gewordenen Spinozastreit vom Zaun. Jakobi war Empiriker, reines Glas ekelte ihn. Im Schmutz zu wühlen hielt er für die einzig vernünftige Art zu leben. Aber die Speerspitze der deutschen Unterhaltungsindustrie des 18. Jahrhunderts (Lessing, Goethe, Herder) verteidigten den von seinen eigenen Leuten verbannten und von Jakobi erneut angegriffenen.  Bedenkt man, was gerade die Deutschen 150 Jahre später den Juden angetan haben, ist solch ein Diskurs im Geburtsalter Deutschlands nicht frei von höherer Ironie. Der Bann gegen Spinoza ist bis heute nicht aufgehoben! Noch 1956 versuchte Herr Douglas den damaligen israelischen Minister-präsidenten Ben Gurion dazu zu überreden die Exkommunikation aufzuheben, und den unter dem Namen Spinoza bekannten Philosophen zu rehabilitieren. Die orthodoxen Juden reichten sofort ein Misstrauensvotum gegen Ben Gurion in der Knesset ein. Ben Gurion machte einen Rückzieher gegenüber den Kaiphas-Leuten. Im Grunde hing Spinoza einfach nur zwei Jahrzehnte lang seinen Gedanken nach. Ich glaube nicht, dass er sehr viel mehr wollte. Aber das wollte er sehr.

 

Alles fing damit an, dass ein achtjähriger Junge in einer Synagoge in Amsterdam mit ansehen musste, wie ein erwachsener Mann erst mit Geißelhieben von der lieben Gemeinde traktiert, und danach gezwungen wurde sich auszuziehen und auf den Boden der Synagoge zu legen. Dann schritt die Gemeinde über ihn hinweg. Alles eine Demonstration der Erniedrigung. Als alles vorüber war, und der so beschämte Mann wieder zu Hause saß mit seiner Pistole, die im Versuch sich zu rächen versagte, richtete der Gedemütigte die Waffe auf sich selbst. Er hieß Uriel da Costa und war ein Religionsphilosoph, der nichts weiter getan hatte, als darauf hinzuweisen, dass sich der Talmud in einigen Regeln nicht an die Bibel hält. Daraufhin sprach man über ihn den Bann. Uriel da Costa kehrte reuig zurück in die Gemeinde. Und das macht man dann mit reuigen Sündern. Religion darf man nicht kritisieren. Das liegt im Wesen von Religion. Demut erreicht man durch Demütigung.

 

Der achtjährige Junge, der das Treiben in der Synagoge beobachtete war Bento de Espinosa, der Gesegnete aus der dornenreichen Gegend, auch bekannt als Baruch oder Benedictus Spinoza. Die Eltern flüchteten vor der portugiesischen Inquisition in die republikanischen Niederlande. Dort wuchs der Junge in der liberalen Republik des Ratspensionärs Jan de Witt auf. Diesen Mann verteidigte Spinoza stets aufrichtig gegen die Oranier. Zu denken, was man möchte, also die Freiheit des Denkens war nie besonders religiös. Und das, obwohl Spinozas philosophische Schlussfolgerung lautete: Amor dei intellectualis.

 

Aber was heißt das? Und was machte Spinoza aus?  Sein Hauptwerk ist die Ethik. Doch was für eine Ethik! Eine Ethik, die von Beginn an ihr eigener Gegenstand ist. Die Causa Sui ist das einzige, was ist. Das „unbedingte Sein“. Dass etwas ist, ist ja unstrittig. Doch so sehr wir uns in Tausenden Jahren Denken bemühten, herauszufinden, was das alles überhaupt im Kern bedeutet – wir ziehen bis heute blank. Bei Spinoza ändert sich da gar nichts. Er sagt im Grunde nur, dass diese Causa Sui die einzige echte Freiheit ist, weil sie eine Freiheit ist, die durch nichts begründet und damit durch nichts gezwungen, bedingt, gefordert ist. Sie ist einfach aus ganz eigenen Stücken. Und immer, wenn wir versuchen, diese Freiheit als etwas zu fassen, entzieht sie sich. Benennen wir Causa Sui, dann ist sie nicht mehr Causa Sui, sondern nur noch ein Attribut von der Causa Sui. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. So steht es im 2. Buch Mose. Spinoza legt das fein geschliffene Glas zur Seite, dreht sich etwas weg, um ein wenig zu husten, nicht ohne sich vornehm die Hand vor den Mund zu halten, und sagt dann: Du sollst? Du kannst gar nicht. Denn das, was es selbst ist, ist zugleich immer auch nicht es selbst. Zugleich! Weil es eben immer schon gewesen sein muss, sonst könnte ich es nicht erfassen. Wenn ich es aber erfasse, ist es zugleich auch wieder ein Ausschluss dessen, was ist. Und was ich da erfasse, ist eigentlich nur ein Bild. Denn um es zu erfassen, muss es mir vorgestellt sein. Ich bin aber auch zugleich das, was ich erfasse. Dass ich etwas begreifen kann – und wir können ja durchaus vieles begreifen – diese Fähigkeit nennt Spinoza Intellekt. Die Einsichtsfähigkeit, das Erkenntnisvermögen. Meinen Intellekt wende ich auf eine bestimmte Art und Weise an, und so erkenne ich eine Eigenschaft von etwas, erkenne ich das Attribut, attribuiere ich. Also was ich im Grunde gemacht habe ist das Gemachte selbst, das schon längst in mir angelegt war, weil es eben immer schon gewesen ist. Sonst hätte ich es nicht machen können. Das klingt wunderbar schräg, ist aber simpel, so simpel, dass es uns in seiner brillanten Einfachheit den Kopf verdreht. Nichts in dieser schönen Welt, ob das nun unsere bunte Warenwelt ist, oder die Luft, die wir atmen, war je nie, sondern immer schon. Nur die Art und Weise wie es war – Spinoza nennt dies den Modus – liegt unendlich in unendlicher Art und Weise vor. Daher ist alles Substanz, sub stare. Das, woraus etwas besteht, ist immer schon aus sich selbst heraus.

 

Gott hat damit keine Persönlichkeit, keine Bildhaftigkeit, sondern all dies hängt ihm als Attribut an. Ziehen wir alle Attribute ab, dann ist Gott nicht. Nicht nichts, sondern nicht. Ist das nicht genau ein modernes Bild des Universums, das in erster Linie aus Leere besteht?

Und es war ja klar, dass so ein geradezu intellektueller Buddhismus den ganzen Hokuspokus, auf den die Machthaber religiöser Institutionen bauen, zu entzaubern drohte. In seiner kleinen Mietwohnung in Den Haag entzauberte ein zurückgezogener, bescheiden lebender und stiller Jude all das, was die Menschen daran hinderte, frei zu denken. Und zwar im Kern frei zu denken. Auch wenn Spinoza sinngemäß Sätze sagte wie: Würde ein Pfeil mitten im Flug sich seiner selbst bewusst werden, glaubte er, aus freien Stücken zu fliegen. Wir sind nicht frei, weil wir uns immerzu attribuieren. Indem wir uns als Attribut ausschließen, rauben wir uns auch die Freiheit, weil jedes Attribut als Zuteilung einer besonderen Art und Weise und damit Bedingungen, Notwendigkeiten unterliegt.


Der Amor dei intellectualis aber ist für Spinoza die Zusam-menführung von Affekt und Intellekt. Die Liebe ist ja ein Affekt, ein Erregungszustand, der zuvor von einer erlebten Emotion in Bewegung gebracht wurde. In Spinozas Begriffswelt können wir Intellekt und Gefühl noch nicht trennen. Es war zu seiner Zeit mehr oder weniger eine Einheit. Was aber Spinoza macht, das ist schon 
zu bewundern. Der Intellekt hat die Fähigkeit sich selbst als Attribut zu attribuieren. Das ist Selbstbewusstsein. Im Gegensatz zu dem Schreibtisch, vor dem ich sitze, bin ich mir meiner selbst bewusst. Da ich mich nun als etwas erkenne, das selbst nur ein Attribut dessen ist, was ich erkenne, erlebe ich einen Mangel an mir selbst. Alles, was nicht ich bin, bin ich. Spinoza sieht ja in der Negation das Wesen des Begriffs. Wenn ich Schreibtisch sage, schließe ich aus, dass der Schreibtisch ein Hund ist, ein Telefon, ein Buch und so weiter. Ich habe durch die Attribuierung „Schreibtisch“ alles andere verneint. Spinoza nennt dies Conatus. Das Wesen des Seins strebt immerzu danach, zu verharren, zu Persistenz.

 

Zu Amor dei intellectualis gelange ich, indem ich diese Verneinung wiederum verneine. Also durch Negation der Negation. Indem ich mich entzeitliche. Da ja alles, was ich erkenne, immer schon gewesen ist und ich dies als immer schon erkenne, komme ich zu der Einsicht meines Zustands. Ich bin mir selbst Substanz, also der Grund, auf dem ich stehe, bin ich selbst. Und dies ist der Pantheismus von Baruch Spinoza, dies ist sein Deus sive Natura. Gott ist in allem als Causa Sui, als Substanz aus sich selbst heraus!

Diesen Durchblick kann man wirklich nur haben, wenn man in Ruhe gelassen wird, und dann in all der Ruhe durch ein fein geschliffenes Glas blickt. Im Grunde war der Bann, der über Spinoza gelegt wurde, ein Philosophie-historischer Glücksfall. Denn der Bann, der Ausschluss aus der Gemeinde ist der zündende Gedanke. Im Zustand dieses Ausgeschlossen seins bemerkte Spinoza ganz rational, dass er weiter lebte. Aus sich selbst heraus, als sein eigener Grund.

 

Gott ist nicht. Und durch dieses Nicht umgibt und durchdringt er uns vollständig. Und das ewig. Und das Leere, das Nicht ist als reines Abstraktum weiblich. Wobei Spinoza die Ewigkeit nicht als Modus der Zeit begreift, da für Spinoza die Zeit eigentlich ganz seine Bedeutung verloren hat. Zeit ist für Spinoza auch nur ein Attribut. Er meint mit Ewigkeit alles, was war, ist und sein wird in all seinen Formen der Erscheinung. Das, was ich gerade mache (den Text schreiben) und das, was sie jetzt machen (den Text lesen) und das, was irgendwer sonst irgendwo sonst macht, machte und machen wird, all das ist Causa Sui: aus sich selbst heraus seine eigene Ursache.

 

Wer also diesen Gedanken Spinozas in sich aufgenommen hat, der ist dem Irdischen nun wirklich entflohen und in die ewige Singularität des Seins vollständig zurückgekehrt. Was soll ihm all das? Es ist der Gedanke der Unsterblichkeit. Alles verändert sich, aber das ist immer schon so gewesen. Sub specie aeternitatis. Wir haben getan, was wir immer schon tun. Dies zu wissen und zu erleben ist nicht mehr Modus, sondern das Erfahren der Causa sui als Causa sui. Alle Störungen sind aufgehoben, wenn ich mich als etwas erfahre, das nicht mehr attribuiert ist.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

INTERMEZZO ZUM 26. SEPTEMBER 2021

 

 

Streifschuss vom

 

26. September 21

 

Anlass: Heute

 

 

Es ist die 20. Bundestagswahl dieses Landes. Am 07. September 1949 tagte er zum ersten Mal. Der schlesische Tischler-Junge Paul Löbe eröffnete die Sitzung in einer Turnhalle in Bonn. Paul Löbe war noch wegen Majestätsbeleidigung und Aufheizung zum Klassenhass im Gefängnis gesessen, so alt war der Mann damals schon. Er gehörte zur alten Garde, die für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich eintraten.  Und in seiner Antrittsrede 1949 machte er es zur ersten großen Aufgabe, Deutschland wieder zu vereinen. Tja. Das wurde dann vierzig Jahre später auch geschafft. Damit wäre alles erledigt und die Nazis können wieder kommen, oder? Unter Beifall der insgesamt 410 Abgeordneten (aus CDU, SPD und FDP) fügte Löbe hinzu: „Uns bewegt nicht, wie es früher geschehen ist, der Gedanke an irgendeine Form von Vorherrschaft; wir wollen mit allen anderen gleichberechtigt in den Kreis der europäischen Nationen treten.“ Vor ein paar Jahren ermordeten sie noch sechs Millionen Juden und dann wollen sie Gleichberechtigung. In seiner Rede sprach Paul Löbe die Opfer des Widerstandes an und die verstorbenen deutschen Soldaten, aber kein Wort von den Juden. Nichts. Nada. Nur ganz allgemein sprach er von den Kriegsopfern aller Völker. Dieses Land, beide, also Deutschland und Österreich hätte man schon damals zwischen Franzosen und Russen aufteilen sollen. Holstein hätte man den Dänen schenken können. Als Wiedergutmachung den Hamburger Hafen den Engländern.

 

Die Tatsache, dass Angela Merkel die erste amtierende Bundeskanzlerin ist, die sich nicht mehr zur Wiederwahl stellt, spricht dafür, dass der Bundestag fertig ist.

 

Man sollte ihn noch heute auflösen, statt ihn wiederzuwählen. 72 lange Jahre pflegte man hier einen heimlichen Nationalismus, einen Hinterhof-Heil-Fahnen-Nationalismus. Schon Adorno erkannte in einem Gruppenexperiment von 1950 (finanziert von den Alliierten und durchgeführt vom Institut für Sozialforschung), den sogenannten Heimkehrer-Studien, ein großes Demokratie-Defizit. Wie fühlten sich die neuen Demokraten und ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, die für die Nazis im Krieg waren 1950? Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung kursierte unter den Rückkehrern vom Feld eine von dieser erheblich abweichende nicht öffentliche Meinung wie eine zweite Währung. Dies führte zu der Erkenntnis: das Nachleben des Nationalsozialismus gegen die Demokratie. Und bedenkt man nun, dass Löbe in seiner Eröffnungsrede des ersten offiziellen deutschen Nachkriegsparlamentes den Beschluss des Ermächtigungsgesetz (1933 in der Berliner Kroll-Oper) lediglich als einen illegalen Akt bezeichnete („Das war ein illegaler Akt, durchgeführt von einer illegalen Regierung. Der Widerstand dagegen war eine patriotische Tat.“), dann kann man sich immer schön herausreden.

 

Im November 1913 erschien in der expressionistischen Monatsschrift „Die weißen Blätter“ (1913–1920) ein Aufsatz des österreichischen Schriftstellers Robert Musil mit dem Titel „Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes“. Einige Passagen dieses Textes hören sich erstaunlich aktuell an. „Einstweilen treiben wir Politik, weil wir nichts wissen“, schreibt Musil darin, weiter schreibt er von den Parteien „sie existieren durch die Angst vor der Theorie. Gegen die Idee, fürchtet der Wähler, lässt sich stets eine andere Idee einwenden. Darum schützen sich die Parteien gegenseitig vor den paar alten Ideen, die sie ererbt haben. Sie leben nicht von dem, was sie versprechen, sondern davon, die Versprechen der andern zu vereiteln.“

 

Musil kritisiert die sogenannte Realpolitik. „Sie nennen diese gegenseitige Behinderung, die nur kleine praktische Ziele erreichen lässt, Realpolitik.“ Weiter stellt Musil fest: „Sie wollen gar keine Politik machen, sondern Stände vertreten und für bescheidene Wünsche das Ohr der Regierung haben.“ Interessant an dieser Passage ist, dass Musil zwischen Parteien und der Regierung unterscheidet. Denn zeitweise hat die Monarchie in Österreich-Ungarn sogar das Parlament ausgesetzt. Heute dagegen haben die Parteien nicht nur das Ohr der Regierung, sondern bereits den gesamten Körper besetzt. Parteien sind inzwischen die Regierung. Und sie haben sich nicht verändert. Was Robert Musil dort als grade mal 33-Jähriger schreibt, trifft heute noch zu oder sogar verstärkt. „Ich bin überzeugt“, schreibt Musil weiter „dass das wirtschaftliche Programm keiner einzigen von ihnen (der Parteien A. d. A.) durchführbar ist und dass man auch gar nicht daran denken soll, eines zu verbessern.“

 

Wenn wir heute eine Koalition aus drei Parteien (anders wird es nicht mehr möglich sein, hier zu regieren) in den 20. Bundestag wählen, dann haben wir eine Konstellation, die für die nächsten vier Jahre jede Art von tiefgreifender Politik sabotieren wird. Denn – wie Musil schreibt und heute noch gilt, ist es das Ziel jeder Partei, die Ziele der anderen Partei zu verhindern. Wir haben das ja nun die letzten vier Jahre bis zum Überdruss erleben dürfen.

 

Bedenkt man, dass Musils Text nur ein halbes Jahr vor Kriegsausbruch veröffentlicht wurde, wirken seine folgenden Worte  besonders erschreckend: „Sie werden weggeblasen, sobald der Wind sich erhebt, wie allerhand Mist, der sich auf stillem Boden angehäuft hat. […] Noch aber ist es still und wir sitzen wie in einem Glaskäfig und trauen uns keinen Schlag zu tun, weil dabei gleich das Ganze zersplittern könnte.“

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 10. Beitrag 2021

 

 

 

MAN KANN NICHT, NICHT WÄHLEN

 

Streifschuss: vom 09. September 21

 

Anlass: postdemokratische Wahlpanik

 

 

Man kann nicht, nicht wählen

 

Ehrlichkeit ist eine sittliche Eigenschaft, die in Vorwahlzeiten oft gesucht und selten gefunden wird. Redlich, aufrichtig, wahrhaftig, offen, gradlinig und fair sind die wenigsten Menschen und am allerwenigsten ist das die Jobbeschreibung eines Politikers.  Ich zapple nun fast sechs Dezennien auf dieser bescheuerten Erde sinnlos herum. Lange genug, sagt mein sich langsam in seine Bestandteile auflösender Organismus. Lange genug jedenfalls, um mir mal einen Augenblick der Ehrlichkeit zu gönnen. Frei nach dem Motto: Was soll’s.

 
Vor etwa einer Woche lag ein Brief in meinem Postkasten. Einer dieser Briefe mit beigefarbenen Umschlag. Finanzamt, Jobcenter, Staatsanwalt? Es war ein Brief der Wahlbehörde. Ich nahm ihn noch mit in meine Wohnung, legte ihn auf die Kommode. Die Folge längerer Bewegung ist Erschütterung. Zwischen Enddarm und Blase liegt eine Drüse in der Größe und Form einer Kastanie, die dann 
 bei jedem Schritt mal auf den äußeren Schließmuskel und mal auf die Blase drückt …, aber darüber wollte ich jetzt gar nicht schreiben.

 

Das sind nur Ausflüchte.  Machen wir es kurz und schmerzlos. Als mir klar wurde, dass in dem beigefarbenen Umschlag ein Brief der Wahlbehörde drin ist, zerriss ich den Brief in einem panischen Anfall mitten durch, ohne ihn zu öffnen. Als wäre ätzende Säure auf der Umschlagoberfläche, warf ich die beiden Briefteile von mir in die Papiertüte mit dem Altpapier. Ja. Ich zerriss den Brief mit der Wahlbenachrichtigung, den Brief, mit dessen Hilfe man zur Wahl berechtigt ist oder Briefwahl beantragen kann. Ich zerstörte meine demokratische Stimme. Und ich bin nicht stolz darauf. Ich war schlicht panisch! Was um Himmelswillen soll ich wählen?

 
Nach den vielen Jahren der Koalition kann ich die CDU und die SPD gar nicht mehr auseinanderhalten. Ihren Wahlversprechen misstraue ich, denn immerhin haben beide Parteien über Jahre auf ihre eigenen Positionen gut verzichtet, sonst wäre realpolitisch eine solche Partnerschaft gar nicht möglich gewesen. Die Grünen kann man sich in einer Koalition mit der CDU genauso vorstellen wie in einer Koalition mit der SPD. Das Klima wollen sowieso alle schützen. Da sind sich alle wählbaren Parteien einig. Nur darüber, wie man das Klima schützt, gibt es die eine oder andere technische 
Diskussion. Ich habe keine Ahnung, wie man das Klima schützen soll. In diesem Jahr wurden bis jetzt fast 60 Millionen Autos produziert. Auf jede zweite Geburt kommt ein Auto. Womit sollen all diese Autos in Zukunft fahren? Klimaneutral? Keine Ahnung. Die Grünen sind realpolitisch und es wird mit ihnen auch nächstes Jahr eine IAA geben. Warum auch nicht. Die Industrie brauchen wir. Was also – um auf meine Panikattacke zurückzukommen – soll ich noch wählen? Die FDP? Schwierig, denn der politische Wille dieser Partei scheint sich mit dem Wetter zu ändern. Die AFD besteht aus Faschisten, die von Faschisten gewählt wird. Die LINKE könnte man noch wählen. Aber die erreichen grade mal über fünf Prozent. Ein bisschen Sozialismus wäre schön.


Daher zerriss ich meine Wahlbenachrichtigung. Der Rabbi Maimonides aus dem 13. Jahrhundert sagte einmal, eine falsche Entscheidung zu treffen sei besser, als die Hölle einer langen Unentschlossenheit. Und ratsch, vorbei war es mit dem politischen Einfluss des kleinen Herrn Horwatitsch, diesem älteren Herrn aus dem zweiten Stock. Ja. Ich bin überfordert! Und so schloss ich mich einfach der größten Partei an, der Partei der Nichtwähler. Sie ist die bunteste und heterogenste Partei Deutschlands. Zu ihnen gehören Antidemokraten, denen die AFD nicht weit genug geht. Harmlose Spinner, die von einem Märchenkönig träumen, von der Komplexität 
der Welt restlos überforderte wie ich, Ignoranten, die nicht einmal mitbekommen, dass überhaupt eine Wahl ansteht, Vollidioten, die tatsächlich glauben, es sei ein politischer Protest, nicht zu wählen, und schließlich Leute, die behaupten, sie würden wählen, es aber tatsächlich nicht tun, die sich aber schämen, zuzugeben, dass sie zur Partei der Nichtwähler zählen.

 
Nein. Ich bin nicht stolz darauf, ein Nichtwähler zu sein. Meine Panik beim Anblick des Briefes war allerdings nicht gewollt. Plötzlich wurde mir klar, dass meine Stimme ebenfalls über Wohl und Wehe der Zukunft unseres Staates mitentscheidet. Ich entschied mich dagegen, mich zu entscheiden. Ich war einfach überfordert! Ich kann über Politiker schimpfen, über den Zustand der Welt jammern und über die Dummheit der Menschen endlos den Kopf schütteln. Aber ich kann doch nicht entscheiden, wie es weiter geht! Klar. Ich könnte mich herausreden, ich wolle eine andere Art der Demokratie, ich sei gegen diese Parteiendemokratie und würde daher nicht wählen.

 

Alles schön und gut. Aber wie ich schon eingangs sagte, nach fast sechs Dezennien, in denen ich mich von knapp vier Kilogramm Geburtsgewicht auf fast 120 Kilogramm Lebendgewicht gesteigert habe, will ich mir nicht mehr selbst etwas vormachen. Ich kann und ich will nicht entscheiden wie es weiter geht und ich kann und will auch nicht diejenigen bestimmen, die dann für mich entscheiden. Wie sollte ich Letzteres machen? Wie soll ich hier eine richtige Wahl treffen können? Das ist absurd. Am besten, man wählt halt eine der üblichen Parteien. Zumindest wenn man alle fünf Sinne beisammen hat und kein Faschist ist, wählt man auf keinen Fall die AFD. CDU, SPD, die Grünen, die LINKE, sogar (unter Vorbehalt) die FDP kann man wählen. Dann ändert sich ganz sicher nichts.


Denn dieses Paradox müssen die Politiker inzwischen den Wählern verkaufen: Alles muss sich ändern und es bleibt dabei wie es ist. Diese kognitive Dissonanz kann ich nicht mitmachen. Es tut mir weh. Ich spüre fast körperlich die Schmerzen dieser kognitiven Dissonanz. Ich will ja auch, dass alles so bleibt wie es ist und sich komplett ändert. Aber ich will nicht mehr, was ich will.

 

Das war der Inhalt meiner Panik, als ich die Wahlbenachrichtigung in zwei Hälften zerriss. Komprimiert. Danach herrschte eine sehr unpräzise Gefühlsmischung aus Erleichterung und Bedauern in meinem Kopf. Gott sei Dank musste ich nicht mehr wählen, aber ich hatte die falsche Entscheidung getroffen. – So wie demnächst Millionen Deutsche. Egal, was sie wählen werden.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 9. Beitrag 2021

 

 

DER ERLÖSER

 

 

Streifschuss vom 13. August 21

Anlass:  Es kommt, wie es kommt

Der äußere und der innere Mensch

 

 

Stellen Sie sich vor, Sie haben über 20 Jahre mit einem Menschen eine rege Korrespondenz geführt, sich mit diesem Menschen über alles Mögliche ausgetauscht. Nun sitzt er plötzlich ganz leibhaftig vor Ihnen und entspricht überhaupt nicht den Vorstellungen, die sich über ihn in Ihnen während der ganzen Zeit gebildet haben. Genau so ist es mit unserem Leben. Plötzlich ist es da, mehr oder weniger fest und stofflich geworden. Das eigene Leben erscheint überhaupt nicht als das, was man sich darüber vorstellte, als man einmal jung war und man mit der Zukunft nur korrespondierte. Jetzt ist die Zukunft da, von der man einst glaubte, sie beeinflussen zu können. Sie ist aber ganz anders. Gegenüber dem Ideal ist das Leben eine Enttäuschung, weil Schönheit meist durch Nähe einbüßt. Es ist nicht so bunt, nicht so makellos, nicht so mondän, nicht so schillernd, nicht so intensiv, nicht so verwirrend, nicht so außergewöhnlich wie man es sich in seiner Jugend vorstellte.

 

Jetzt, wo es ist wie es ist, dieses Leben, muss man es bis zum Ende behalten. Es geht nicht mehr weg. Alle Versuche dieses fertige Leben loszuwerden, wirken absehbar lächerlich oder sogar bösartig. Menschen, die sich neu erfinden sind am Ende hohle Nüsse. Ihnen ist alles abhandengekommen und mangels jugendlicher Spannkraft können sie das Neue nicht formen. Dafür rächen sie sich auch mal. Die Kraft der jungen Jahre, in denen wir unser Leben so formten, wie es nun ist, ist dahin. Es war eine blinde Kraft, ja die Blindheit war überhaupt Voraussetzung dieser jugendlichen Kraft das Leben zu formen. Wenn alte Menschen versuchen, sich zu regenerieren, verfällt nur ihre Form, ohne dass sich eine neue Form bilden könnte. Menschen die ihre Form verlieren zeigen das Äußere eines Monsters. Denn ihre Kraft ist nicht blind. Diese Kraft deckt auf, was jungen Menschen verborgen blieb und erzeugt so großen Horror. Jeder Versuch der Einflussnahme mündet in der Paradoxie. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit.

 

Nun ist es heute so, dass sich kein Leben mehr ganz durchformen kann. Junge Menschen scheitern nicht etwa an der Vielzahl der möglichen Entwürfe. Das war noch das Lebensgefühl der Moderne, in der neue Moden und neue Freiheiten mehr Auswahl suggerierte. Heute sind die angebotenen Entwürfe selbst formlos. Es besteht strukturell keine Möglichkeit mehr, den angebotenen Lebensentwurf zu formen. Entwürfe sind Illusionen geworden. Hat man erst die Verpackung entfernt, sieht doch jedes Smartphone gleich aus. Am Ende gleichen auch wir Menschen einander. Nur der Besitz von Dingen, materiellen Dingen und geistigen Dingen bildet Schichten, wie Dinge eben dazu neigen, sich zu schichten, aufzuschichten. Am äußeren Glanz der oberen Schicht zeigt sich der Mangel an Tiefe und Form: Ein geisterhaft leuchtendes Flackern, das man nicht mit den Händen greifen kann. Durch den statischen Druck der weiteren Schichten wird die Form in den unteren Schichten noch am deutlichsten. Aber dort ist sie nicht mehr sichtbar. Die Glanzlosigkeit in den unteren Schichten, deren Leben sich durch die Discounter-Dinge formte, ist kaum erstrebenswert. Wie aus Polyethylen geformte Legobausteinchen bilden die unteren Schichten die Basis für die wabernde und formlose Oberfläche.

 

Das tatsächliche Leben, so wie es ist, ist meist reinste Massenware. Diese Menschen unterscheiden sich in ihren Leben kaum noch.  Die Unterschiede tauchen nur an der formlosen Oberfläche auf, die einen Firnis bilden, der schon beim Auftragen Patina anwarb. So träumen wir der Zukunft unseres Lebens hinterher. Längst ist unser Leben wie es ist, während wir uns in die Vergangenheit träumen, in der wir noch von Zukunft träumen konnten. Der äußere Mensch erscheint daher in seiner vergangenen Form. Der innere Mensch dagegen bleibt sich entweder neurotisch vor sich selbst verborgen oder er deckt sich psychotisch auf. Denn äußerer und innerer Mensch passen nie zusammen. Treffen wir uns auf der Oberfläche, laufen wir in unserem Auftreten unserem eigentlichen Sein Jahrzehnte hinterher. Wir sind antiquierte Menschen, weil wir unser tatsächliches Sein, unser Sein wie es ist, nicht aushalten würden. Es käme zum Denkzerfall und am Ende zum Stillstand, zur völligen Antriebslosigkeit, wenn wir den inneren Menschen aufdecken würden.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 8. Beitrag 2021

 

Das Leben von Aristoteles

 

Aristoteles kam 385 vor Chr. in Stageira zur Welt. Stagira liegt östlich auf der griechischen Halbinsel Chalkidi in Mazedonien. Man nannte ihn daher auch „der Stageirit“. Der Vater von Aristoteles war Leibarzt am mazedonischen Hof Philipp II.  Er genoss eine gute Ausbildung und ging als junger Mann im Alter von 17 Jahren  (367 v. Chr.) nach Athen. Als Mazedo-nier war er in Athen kein aner-kannter Bürger, hatte dort lediglich einen Aufenthaltsstatus und konnte sich auch nicht politisch betätigen. Ob Aristoteles tatsächlich Schüler der Akademie von Platon war, bzw. dort arbeitete, ist ungewiss. Aber dass Aristoteles die Lehre von Platon kannte, ist gewiss.

 

Da der mazedonische König Philipp II. und Athen eigne Interessen verfolgten und die Lage immer unsicherer wurde für einen Mazedonier in Athen, verließ Aristoteles 347 v. Chr. als 37-jähriger Mann Athen. Es folgten einige Jahre auf Wanderschaft, bis Aristoteles als Erzieher des 13-jährigen Alexander 343 v. Chr. an den mazedonischen Hof gerufen wurde.  Es gibt eigentlich keinen erkennbaren Einfluss der Erziehung des Aristoteles auf Alexander den Großen. Wenngleich Alexander der Große sehr gebildet war und die griechische Philosophie hoch schätzte.


Im Jahr 335, als über 50-jähriger, ging Aristoteles noch einmal nach Athen. Zwischenzeitlich hatte Makedonien Athen besiegt und seinen Herrschaftseinfluss auf den Stadtstaat ausgeweitet. Für Aristoteles war es daher weniger gefährlich, nach Athen zu gehen. Er ging an das Lykeum, an das Gymnasium, nicht an die Akademie.

 

323 v. Chr. stirbt Alexander der Große und der Einfluss von Makedonien lässt wieder nach. Aristoteles verlässt daraufhin Athen erneut. In Chalkis (zu dieser Zeit unter makedonischem Einfluss) verstarb Aristoteles nur kurze Zeit darauf.

 

 

Nikomachische Ethik –Tugendethik des Aristoteles

 

Der Name „nikomachische Ethik“ stammt wohl vom Namen seines Vaters (dem Vater gewidmet) oder vom Namen seines Sohnes (vom Sohn herausgegeben). Zur Echtheit der Schrift lässt sich mit großer Gewissheit sagen, dass sie echt ist. Als Lehrbuch ist sicher auch von Schülern des Aristoteles das eine oder andere beigefügt worden.

 

In seiner Ethik ist es Aristoteles wichtig, vor allem vom menschlichen Handeln zu sprechen, weniger vom allgemein tierischen Handeln. Daher überlegt er zu Anfang, was das menschliche Handeln im Großen auszeichnet. So kommt er auf ein „höchstes Ziel“, das „telos teleioteton“. Das vollkommenste Ziel des Menschen ist immer ein Ziel um seiner selbst willen und nie um eines anderen Willen. Damit schließt Aristoteles viele weltliche Ziele wie Reichtum, Liebeserleben, Weisheit erst einmal aus. Das höchste Ziel um seiner selbst willen ist nach Aristoteles die Eudämonie, das gelungene Leben, oder Glückseligkeit. Diese Glückseligkeit will man nur um seiner selbst willen erreichen. Und sie unterscheidet sich von der reinen sinnlichen Begierde der Tiere, ist nicht hedonistisch. Wenn ich also viel Geld verdienen will, dann dient mir – nach Aristoteles – das Geld lediglich als Vehikel, um mein eigentliches Ziel zu erreichen. Die Glückseligkeit. Wenn ich Sport treibe und mich gesund ernähre, dann dient dieses Handeln dazu, mein eigentliches Ziel zu erreichen. Die Glückseligkeit.

 

Da dieses Ziel nun sehr teleologisch (zielorientiert an dem, was ich will) klingt und gar nicht nach Tugendethik (und als Tugendethik wird die aristotelische Ethik verstanden), gilt es weiter zu klären, was nun ein gelungenes Leben überhaupt ist?

 

Im weiteren Sinne unterscheidet Aristoteles hierfür zwei Verben: Handeln und herstellen.  Während das Herstellen sich auf Dinge, Gegenstände, auf ein Werk außen bezieht, geschieht das Handeln für sich selbst, oder um seiner selbst willen. Beim Herstellen kommt es tatsächlich auf das Ergebnis an. Beim Handeln dagegen nicht, sondern vielmehr geht es beim Handeln um den Prozess. Ziel des Handelns ist inklusiv, nicht dominant. Handeln hat also sein Ziel im eigenen Vollzug. Das Gute zu tun unterscheidet Aristoteles vom guten Ergebnis. Aber es ist schwer vorstellbar, dass etwas Schlechtes herauskommen kann, wenn man etwas gut macht.

 

Diese Aussage: Ziel eines Handelns kann nicht in einem erweiterten Zustand liegen (Herstellen), sondern im Handeln selbst – klingt wieder sehr deontologisch (orientiert an dem, was ich soll und nicht was ich will).

Tugend oder auch Arete (lateinisch virtus) sind bei Aristoteles erst einmal nicht mehr als Tauglichkeit, Vortrefflichkeit. Das deutsche Wort Tugend leitet sich auch ab von dem Verb „taugen“. Tauglichkeit und Tüchtigkeit  sind die dazu gebildeten Nominative.

 

Auch ein Baum kann vortrefflich gewachsen sein. Dieses Argument ist bekannt als „Ergon-Argument“. Die Fähigkeit zu leuchten spricht für die Tauglichkeit einer Lampe. Die Fähigkeit Früchte zu tragen spricht für die Vortrefflichkeit eines Fruchtbaums. Und so weiter. Übersetzt auf den Menschen heißt dies im Wesentlichen, dass Tugend bei Aristoteles auf Fähigkeiten reduziert werden.

 

Die Kritikpunkte für das Ergon-Argument liegen natürlich nahe: Spezifizismus, das heißt, dass Aristoteles damit einem geistig Behinderten in Abrede stellt, Glückseligkeit zu erreichen. Weiter unterliegt Aristoteles einem naturalistischen Fehlschluss, da er von der Funktion auf das Tun schließt, als von Sein auf Sollen. Dennoch werden wir später sehen, wenn wir den aristotelischen Tugendkatalog im Einzelnen durchgehen, dass Aristoteles das viel komplexer betrachtet hat und die Kritik des Spezifizismus nicht stichhaltig ist. Der naturalistische Fehlschluss (John Edward Moore lebte von 1873 bis 1958 und entwickelte den naturalistic fallacy in seiner Ethik) ist dagegen schon problematischer. Man kann nicht von einer Beschreibung des Zustands der Welt automatisch auf ein ethisches Gebot schließen, ohne zusätzlich den beschriebenen Zustand der Welt zu bewerten. Was tüchtig und tauglich ist, also tugendhaft, liegt nicht automatisch in der Natur vor. Erst im Nachhinein können wir durch Bewertung des natürlichen Zustands sagen, dass es gut und tauglich ist. Doch hier können wir uns immer wieder irren, zum Beispiel wissen wir nicht sofort, wozu ein Gegenstand oder eine Eigenschaft taugt. Auch eine kaputte Lampe kann tauglich sein, wenn ich sie für ein Kunstwerk verwende, oder einfach als Zierde einsetze.

 

Für Aristoteles jedenfalls ist Tugendethik die Lehre vom richtigen Handeln. Dieses Handeln muss messbar sein. Die Messlatte bei Aristoteles ist hierbei die richtige Haltung, also der Charakter eines Menschen.

 

Der Philosoph Bertrand Russell schrieb in seiner Philosophie-Geschichte daher kritisch, das Buch von Aristoteles wendet sich an ehrbare Menschen mittleren Alters, und solche Leute haben es auch, besonders seit dem siebzehnten Jahrhundert, dazu verwendet, dem Überschwang und Eifer der Jugend einen Dämpfer aufzusetzen. Auf einen etwas tiefer empfindenden Menschen wird es aber wohl geradezu abstoßend wirken. Ich bin nicht ganz seiner Meinung. Vor allem lässt sich das Buch von Aristoteles noch heute sehr gut lesen (natürlich in der deutschen Übersetzung), was für ein Werk, das nun fast 2.500 Jahre alt ist, schon allein bemerkenswert ist. Aristoteles nahm darin auch viel modernes psychologisches Wissen voraus. So machte sich Aristoteles schon viele Gedanken zum Problem der „kognitiven Dissonanz“ (wenn wir etwas anderes wollen, als wir tun). Jeder Raucher kennt das Problem, wenn er verzweifelt versucht, damit aufzuhören und trotz allgemeiner Volksbildung und Durchalphabetisierung und bei voller psychischer Gesundheit mit dem Brustton der Überzeugung sagen kann: „Rauchen erzeugt Krebs, das ist ja wohl erwiesen“, und sich dann genüsslich eine anzündet. Wie schafft es der Mensch, am Abend vor dem Fernsehapparat zu sitzen, sich eine investigative Sendung über die katastrophalen Zustände in deutschen Schlachtbetrieben anzusehen, entsetzt über den Zustand der armen Viecherl, während er sich das billige Rindshack in den Mund stopft? Und wütend schimpfen wir über den Schlachthofbetreiber, der – nach eigener Aussage – gar nicht anders konnte, als polnische Hilfsarbeiter zu zehnt in fünf Quadratmeter große Baracken zu stapeln. Er sei schließlich Unternehmer! Und als wir erfahren, dass die Börsenkurse wieder fallen, machen wir uns ernsthaft Sorgen um die Wirtschaft.

 

Über diese besondere Eigenschaft des Menschen Widersprüche zu denken, machte sich Aristoteles ein ganzes Kapitel lang seine heute noch originellen Gedanken.

 

Die Seelenernte des Aristoteles

 

Aristoteles unterteilt nun das menschliche Handeln in zwei Felder:

Das theoretische Leben zeigt sich in der Kontemplation, also der Vernunft, und ist damit eigentlich gar kein Handeln. Sehr griechisch ist diese Einstellung. In der Antike führte man noch keine oder so gut wie keine Experimente durch, um die Natur zu befragen. Vielmehr war alles reine Beobachtung. Für einen antiken Philosophen wäre es nicht vernünftig gewesen, eine Blume aufzuschneiden, um sie zu analysieren, denn dann wäre die Blume ja zerstört. Was sollte man da noch erkennen können?

 

Das politische Leben ist für Aristoteles das eigentliche Ziel der Ethik. Berühmt ist seine Aussage vom Menschen als „zoon politikon“, als Mitglied einer Gemeinschaft. Und anders als Thomas Hobbes (17. Jahrhundert / siehe deskriptive Ethik) sah Aristoteles das menschliche Glück in der Gemeinschaft. Wir schließen uns – nach Aristoteles – gerne zusammen und lieben die Geselligkeit. Hobbes dagegen meinte, wir schließen uns nur zusammen, weil wir Angst davor haben, dass uns der andere erschlägt und die Gemeinschaft uns davor schützt.

 

Um Aristoteles ganz zu verstehen, benötigen wir auch sein spezielles Seelenmodell, das dem von Platon sehr ähnelt. Primär unterscheidet Aristoteles einen rationalen und einen irrationalen Teil der Seele. Nach Aristoteles gibt es drei Seelen-Vermögen.

 

Das denkend-vernünftige Vermögen. Das to dianoetikon, die Fähigkeit zu überlegen, zu sprechen, Einsicht zu haben. Heute würden wir das als unsere kognitiven Fähigkeiten bezeichnen.

 

Das sinnlich-begehrende Vermögen. Das to aisthetikon / to orektikon. Unser Streben, unsere Sinne, unser Begehren ist hier gemeint. Wir streben allgemein nach Lustgewinn. Wir brauchen unsere Augen um zu sehen, unsere Ohren um zu hören. Wir sehnen uns nach anderen Menschen, lieben es auch uns zu bewegen und streben danach wieder zur Ruhe.

Das organisch-vegetative Vermögen. Das to threptikon, hier ist vor allem die Ernährung gemeint. Unser Körper benötigt Vitamine, Kohlenhydrate, Treibstoff. Wir wechseln zwischen Schlaf und Wach sein, wir haben wie Tiere oder Pflanzen organisches und vegetatives (Nerven) Leben in uns. Wir reagieren auf Reize teilweise unwillkürlich oder willkürlich.

 

 

Die Tugendlehre des Aristoteles

 

Aus diesen Seelenvermögen ergeben sich zwei Tugendgruppen:

Die Verstandestugenden, dianoetische Tugenden. Das sind Fähigkeiten der Weisheit, Klugheit.

 

Die Charaktertugenden, ethische Tugenden, das sind Fähigkeiten in der Beherrschung der Sinne und der Triebe.

 

Damit wird schnell klar, dass es sich hier auch um eine Hierarchie der Fähigkeiten handelt. Denn ohne Klugheit wird man seine Sinne nicht optimal beherrschen können. So unterscheidet Aristoteles weiter in Lebensbereiche und in Gegenstandsbereiche.

 

Die dianoetische Tugend, das theoretische Wissen, Weisheit, Klugheit, wird weiter unterteilt in notwendiges, unveränderliches Wissen. Das Erkennen dessen, worauf kein Einfluss besteht, Dinge, die man schlicht nicht ändern kann, sondern eben nur „erkennen“ kann. Dazu zählen die Wissenschaft, episteme, allgemeines Wissen. Unsere Einsicht, nous, in Prinzipien, das sind die obersten Regeln, Maximen des Wissens, Lehrsätze. Und die Weisheit, sophia, Weisheit ist die Kenntnis der ehrwürdigsten Dinge von Wissenschaft und Einsicht, also die Kenntnis der Gestirne.

 

Ein weiterer Punkt unseres Vernunftwesens liegt darin, kontingentes (zufälliges), veränderliches Wissen, das Tätig sein, also Dinge, auf die man Einfluss nehmen kann, zu verstehen.

 

Dazu zählt Aristoteles die Kunst, techne, einerseits und das Herstellen (poiesis) andererseits. Unter techne und poiesis versteht Aristoteles vor allem das Handwerkliche, also Schreinern, bauen, aber auch musizieren, dichten. So schließt sich der Kreis, denn für einen antiken Philosophen wäre es eine ganz andere Art von Wissen, nämlich auf Zufall beruhendes Wissen, wenn man eine Blume aufschneidet, um sie zu analysieren. Es machte daher nur Sinn eine Blume aufzuschneiden, wenn man auf diese Weise etwas Neues herstellen wollte. Daher war das Experiment nicht gleich bedeutend wie die Erkenntnis durch Beobachtung dessen, was immer gleich sich verhält. Ein Experiment zerstörte ja dieses Immer Gleiche.

 

Die Klugheit, phronesis, ist für Aristoteles die sittliche Einsicht in mein Handeln. Hier spricht Aristoteles von der „zweiten Natur“ des Handelns, der Hexis, im Lateinischen der Habitus. Dies bezieht sich auf das praktische Handeln und ist das eigentliche Feld der Ethik.

 

Ethische Tugenden (Charaktereigenschaften) gibt es bei Aristoteles genau elf. Diese Tugenden zeichnen sich durch den betont interaktiven Charakter aus. Während bei Platon Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit ausreichen, unterscheidet Aristoteles noch weitere Tugenden voneinander. Aristoteles zeigt, dass das „rechte Handeln“ immer genau in der Mitte liegt.

 

 

Der aristotelische Tugendkatalog

 

Die Tapferkeit, andreia, liegt zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Diese Tugend bezieht sich vor allem auf den Krieg bzw. den Konflikt. Aristoteles bringt das Beispiel eines unerfahrenen Feldherrn, der naiv den Feind angreift und seine Truppen gefährdet, weil er sich als tapfer erweisen will. Dagegen hält sich der erfahrene Feldherr zurück, verlagert seine Truppen und wartet auf eine günstigere Gelegenheit. Daher ist der erfahrene Feldherr durch seine Klugheit tugendhafter. Mut zeichnet sich nicht durch Übermut aus, sondern durch den vernünftigen Einsatz meiner Fähigkeiten. Daher liegt die Tapferkeit als Tugend in der Mitte. Das kann man durchaus subjektiv sehen. Jeder hat seine eigene Mitte, die er suchen und finden muss. Sie ist auch nicht immer gleich. So ist die Tapferkeit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Trainings. Mut kann man wie einen Muskel trainieren. Dazu benötige ich aber zusätzliche Fähigkeit auf dem Gebiet, wo ich meinen Mut unter Beweis stellen will. Es ist unsinnig, als Nicht-Schwimmer oder ungeübter Schwimmer mutig den Ärmel-Kanal überqueren zu wollen. Jedem sei angeraten, zuvor ein paar Übungs-Einheiten im nahegelegenen Schwimmbad einzulegen.

 

Die Besonnenheit, sophrosyne, liegt zwischen Zügellosigkeit und Stumpfheit. Diese Tugend bezieht sich auf unseren Körper, aber vor allem im Sinne unseres Verhaltens bei Festlichkeiten oder Zusammenkünften. Es gibt hierzu einen schönen Sketch von dem bayrischen Kabarettisten Gerhard Polt. Zwei ältere Herren sitzen im Bierzelt und beobachten, wie die Saalwärter einen anderen Mann aus dem Zelt werfen. Da sagt der eine ältere Mann zum anderen: „Des hob i ma glei dacht (das habe ich mir gleich gedacht), dass mit dem wos ned stimmt (dass mit dem was nicht stimmt).“

 

Der andere ältere Mann schaut ihn fragend an.
„Na, der hod ja bloß a Wasser trunken (der hat ja nur ein Wasser getrunken).“

 

Besagt: In einem bayrischen Bierzelt nur ein Selters zu trinken, zeugt eher von Stumpfsinn. Allerdings kann es auch mal zügellos werden in bayrischen Bierzelten. Wenn wir in eine Benefiz-Veranstaltung hinein stürmen und das Buffet leer futtern ohne Rücksicht auf den Hunger anderer, oder bei einer ausgelassenen Party in der Ecke stehen und jegliches Gespräch mit den Gästen ablehnen – hier zeigt sich, dass das Leben in einer Gesellschaft gelernt sein will. Und es ist eine Form der Klugheit, sich im jeweiligen Umfeld „mittig“ zu verhalten.

 

Die Freigebigkeit liegt zwischen Geiz und Verschwendung. Dies bezieht sich auf Geld und Haushalten (oikos). Hier dürfte jedem klar sein, was gemeint ist. Es ist besonders bezeichnend, dass in den westlichen Industrienationen die Spendenbereitschaft der ärmeren Bevölkerungs-anteile höher liegt, als bei den reicheren Bevölkerungsanteilen. Wenn ich als Empfänger von Sozialhilfe einem obdachlosen Bettler 100 Euro schenke, zeige ich mich sicher nicht geizig. Aber klug verhalte ich mich dann auch nicht. Wenn ich als Multimillionär diesem Bettler nur zwei Cent in den Hut werfe, ist das schon fast Zynismus. Die Mitte zwischen Geiz und Verschwendung hängt also stark mit den individuellen ökonomischen Verhältnissen zusammen.

 

Die Hochherzigkeit (Großmut, oder auch Altruismus) liegt zwischen Kleinlichkeit und Prahlerei. Auch diese Tugendfähigkeit bezieht sich auf unser Haushalten. Hier bezieht sich Aristoteles auf ein gutes Handeln, das nicht als Pflicht zu sehen ist. In der christlichen Ethik gibt es den schwer auszusprechenden Begriff der Supererogation, das Wort setzt sich aus dem lateinischen Wort „super“ (oberhalb) und „erogare“ (verteilen) zusammen und hier tut man mehr, als die Pflicht verlangt. Nicht wenige Menschen haben sich für andere regelrecht aufgeopfert. Das mussten sie nicht tun. Sie taten es aus einem höheren Gefühl heraus. Wer in ein brennendes Haus stürmt, um ein Kind zu retten, der bringt sich selbst in höchste Gefahr. Der Gesetzgeber verpflichtet uns nicht, das zu tun. Da sollten wir nur die Feuerwehr rufen und abwarten, bis die Profis das regeln. Die müssen es wiederum. Aber die sind ja dafür ausgebildet. Wer nicht warten kann, weil es vielleicht sonst zu spät ist und trotzdem in das brennende Haus stürmt und das Kind rettet, ist daher ein Held. Dieser Großmut kann schiefgehen. Dann ist er ein toter Held. Damit wäre niemandem geholfen. In der großartigen Serie „Fargo“ (die sich nur in Teilen an den originalen Spielfilm der Coenbrüder hält) gibt es eine Szene, in der ein Millionär viel Geld verschenkt, um anderen zu helfen. Leider ist die Welt nicht besser geworden. Schließlich verschenkt er all sein Geld und lebt selbst in Armut. Die Welt ist immer noch nicht besser geworden. Das Letzte, was er verschenken kann, ist sein Leben. Er bringt sich schließlich aus purem Altruismus um. Diese Parabel sagt uns viel über den Edelmut, wenn es schiefgeht.

 

Das Ehrbewusstsein liegt zwischen Ehrsüchtigkeit und Ehrgeizlosigkeit. Sehr schön formulierte es einmal der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“: Die Ehre ist das äußere Gewissen und das Gewissen die innere Ehre. Die Ehre ist objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung. ... Ruhm muss daher erst erworben werden, die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehen.


Manche Menschen glühen geradezu vor Ehrgeiz und sie sind süchtig nach der Anerkennung durch andere. Gerade in den westlichen Indus-trienationen wird der Ehrgeiz positiv bewertet als Karriere. Es ist ein Fundament der Moral, dass das Bild, das man sich von sich selbst macht, ununterscheidbar sei von dem Bild von sich, das uns von den anderen zurückgeworfen wird. Doch viele verwechseln dies mit Anerkennung. Anerkennung jedoch ist die Achtung der Bedürfnisse von Menschen, die einem nicht gleichgestellt sind, oder eine andere Meinung vertreten.

 

Es gibt andererseits auch Menschen, die keinerlei Ehrgeiz haben und denen ziemlich egal ist, was andere von ihnen halten. Das kann eine Tugend sein, ist aber oft eher mangelnde Selbstpflege. Nicht selten liegen hier auch psychische Störungen zugrunde, wie zum Beispiel Suchtverhalten oder eine Depression. Antriebslosigkeit kann dann zum persönlichen Verfall beitragen.

 

Die Seelengröße liegt zwischen Wichtigtuerei und Unbedarftheit. Die Tugendfähigkeiten von Ehrbewusstsein und Seelengröße betreffen unser Ansehen in der Welt. Vom eitlen Geck bis zum demütigen Eremiten spannt sich der Bogen hier.  Die Mitte liegt darin, sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, aber auch nicht weit darüber. Wer etwas zu sagen hat, sollte es – bitteschön – auch sagen, wer nichts zu sagen hat, sollte dann doch lieber schweigen. Wir wissen alle, dass in unserer modernen Mediengesellschaft meistens das Gegenteil der Fall ist. Viele Dummköpfe, die nur äußerlich glänzen, breiten sich aus und allzu viele wirklich kluge Köpfe halten sich immer bedeckter, um dem Schmerz zu entgehen, von Dummköpfen angeblafft zu werden.

 

Die Sanftmut liegt zwischen Zornmütigkeit und Zornlosigkeit. Es ist für einen Menschen, der dazu neigt aufzubrausen (cholerischer Charakter) eine besondere Tugend, wenn er es schafft, sich zu beherrschen und es ist für einen Menschen, der jedem Streit aus dem Weg geht, der phlegmatisch zu nichts eine Meinung hat eine Leistung, endlich einmal ein tosendes „NEIN“ zu brüllen. Jeder hat seine eigene Mitte. Und die Sanftmut, die Aristoteles anspricht, bedeutet nicht, dass man den ganzen Tag säuselt wie ein Blatt im Wind. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es wenig Sinn macht, Kinder anzubrüllen. Sie schreien selbst schon laut genug. Aber ich erzielte einen Wirkungstreffer, wenn meine Stimme plötzlich betont leise wurde. Emotionen werden leicht übertragen. Gefühle sind infektiös. Vielen vergeht die Lust am Streiten, wenn sie keinen Widerstand erleben. Die Geschichte lehrte uns auch, dass so manchem Herrscher die Lust am Regieren verging, wenn das Volk sich widerstandslos zeigte.

 

Die Freundlichkeit liegt zwischen Streitsüchtigkeit und Anbiederung. Anders als die Sanftmut steht bei der Freundlichkeit die Frage im Raum, ob ich immer mit Gewalt mein Recht durchsetzen muss. Es gibt Menschen, die ständig widersprechen und es gibt Menschen, die einen umschmeicheln und belecken, bis man sich glitschig wie ein Fisch fühlt. Für sich selbst muss man immer wieder entscheiden, ob man nun nachgibt und es dabei belässt, oder bis aufs Blut widerspricht. Für freundliche Kritik sind die meisten Menschen immer zu haben. Eine einfache Technik der Kommunikation ist die Sandwichtechnik. Wie bei einem Sandwich bringe ich eine Kritik zwischen zwei anerkennenden und lobenden Sätzen unter. Ein Lob – die Kritik – ein Lob. Ich finde es super, wie du dich für deine Belange einsetzt, auch wenn es mir schon zu heftig ist, aber du erstaunst mich mit deinen Argumenten. Das als kleines Beispiel. Übertreiben sollte man das allerdings auch nicht, sonst wird man durchschaut und als hinterlistig bewertet.

 

Die Wahrhaftigkeit liegt zwischen Prahlerei und Tiefstapelei. Angenommen sie laden ihre alten Freunde vom Fußballverein ein, und dann tischen sie Kaviar, Champagner auf und ein eigenes Orchester spielt extra für alle, dann die alten Kumpels, die eigentlich nur einen Kasten Bier und ein paar Tüten Chips erwarteten, etwas irritiert sein. Wenn nun aber ihr Chef mit seiner Gattin zum Abendessen kommt und sie dann zu ihm sagen: „Wieso haben sie nichts zum Essen mitgebracht?“ Nun dann fehlt ihnen die rechte Mitte. Manche Menschen geben an, was sie alles können, was sie alles haben. Andere wiederum tun so, als wären sie gar nichts. Karl und Theo Albrecht, die beiden Begründer der Discounter-Kette ALDI, traten stets auf, als wären sie kleine Kiosk-Verkäufer. Sie hatten Angst davor, entführt zu werden, auf ihren Reichtum reduziert zu werden und so weiter. Sie stapelten auf eine Weise tief, dass es fast nicht mehr als wahrhaftig anzusehen war. Es ist also ein Unterschied zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Heute würden wir dazu Authentizität sagen.

 

Die Artigkeit liegt zwischen Possenreißerei und Steifheit. Sie erinnern sich, in jeder Schulklasse gab es einen Clown und einen Streber. Der eine machte ständig Faxen und störte notorisch den Unterricht, der andere saß stocksteif da, machte alles nach Vorschrift, meldete sich brav und arbeitete Jahre später beim Finanzamt. Der Klassenclown wurde entweder Alkoholiker oder Künstler.

 

Die Tugenden Sanftmut, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit und Artigkeit betreffen unsere Tugendfähigkeit zur Kooperation, sind damit vor allem Friedenstugenden.

 

 

Die Tugend der Gerechtigkeit

 

Die elfte Tugendfähigkeit, die Gerechtigkeit, sehen wir uns genauer an. Denn sie ist die eigentliche Tugendfähigkeit in Friedenszeiten. Für das aristotelische Ideal der Polis, der Gemeinschaft, ist sie zentral von Bedeutung.

 

Gerechtigkeit im weitesten Sinn ist die Beherrschung sämtlicher Tugendfähigkeiten (1-10). Also ähnlich wie bei Platon: Wenn ich weise, tapfer und besonnen bin, bin ich auch gerecht.

 

Im engeren Sinne lässt sich die ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit unterscheiden.


Die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft den Verkehr zwischen einzelnen Personen. Unter den freiwilligen Verkehr zwischen Menschen fällt alles, was wir heute unter Zivilrecht verstehen würden, wie Kauf und Verkauf, Miete, Darlehen, Bürgschaft. Unter den unfreiwilligen Verkehr zwischen Menschen zählt Aristoteles all das, was wir heute im Strafrecht verhandeln, wie Mord, Körperverletzung, Diebstahl, Raub.


Durch den Verkehr einzelner entstehen stets Vor- oder Nachteile. Der Dieb hat einen Vorteil, wenn er jemandem Geld stiehlt. Wer eine Ware über Wert verkauft hat einen Vorteil, der andere den Nachteil. Wer eine Ware unter Wert kauft wiederum einen Vorteil. Und so weiter. Daher braucht es Richter, die jene entstandenen Vor- und Nachteile in irgendeiner Form ausgleichen. Dies ist die ausgleichende Gerechtigkeit. Dabei spricht Aristoteles von einer „arithmetischen Proportionalität“, indem hier die 
entstandene Differenz ausgeglichen wird. Der Status, idem wird also wieder als rechte Mitte hergestellt.

 

Die austeilende Gerechtigkeit betrifft die Zuteilung der öffentlichen Güter. Bekannt ist dieses Prinzip als Meritokratie (Zuteilung nach Verdienst). Denn für Aristoteles werden die öffentlichen Güter nach Verdienst verteilt. Die rechte Mitte hier ist eine „geometrische Proportionalität“ nach Quotient. Das heißt, nicht der Bedürftige, sondern der Verdienstvolle erhält Zuteilung der öffentlichen Güter. Da spielt es keine Rolle, was man schon zuvor hatte oder nicht hatte.

 

Aus diesen Tugendfähigkeiten hat Aristoteles einen praktischen Syllogismus entwickelt. Man könnte nun anhand des Tugendkatalogs sagen: Es ist geboten, die Wahrheit zu sagen. Peter sagt nun die Wahrheit. Also hat Peter gut gehandelt, nach dem zuvor proklamierten Gebot. Das ist nun eine sehr pflichtenorientierte Ethik. Hier bezieht sich also nichts auf ein Ziel hin, sondern lediglich auf ein Handeln für sich.

 

Ein teleologischer Schluss dagegen wäre es zu sagen, dass es geboten ist, mein Glück zu vermehren. Peter vermehrt nun sein Glück. Also handelte er gut. In diesem Fall entsteht eine klare und zielorientierte Handlungskette.

 

So lassen sich nun zwei Handlungstypen unterscheiden. Einmal der unerfahrene Mensch, der im Wesentlichen auf seine Klugheit bauen muss, weil er die Situation, in der er handeln muss, noch nicht kennt.

 

Beispiel: Tapferkeit ist im Krieg das höchste Ziel (Nennung der Tugend).

Jetzt anzugreifen realisiert Tapferkeit (Leistung der Klugheit, dies zu erkennen).

 

Also sollte ich jetzt angreifen.

 

Die moralische Fehlerquelle liegt hier im Mittelsatz, die sich auf die Leistung der Tugend bezieht, also auf die theoretische Fähigkeit, bzw. auf die Ausbildung der Vernunft, überhaupt zu erkennen, ob in der jetzigen Situation der Angriff wirklich tapfer wäre. Tapferkeit zu erkennen ist kein Problem. Tapferkeit ist weder feig noch tollkühn. Aber zu erkennen, ob in diesem Moment ein Angriff tollkühn wäre, ist Klugheit, bzw. ob Kneifen jetzt feige wäre, ist Klugheit und appelliert an unsere Vernunft. Erfahrung haben wir noch keine.

 

Ganz anders ist dies beim erfahrenen Menschen:

 

Ein Angriff in Situation X ist tapfer (Leistung der Tugend, durch Erfahrung zu wissen Situation X – Erfahrung – erfordert einen Angriff). 

Jetzt ist eine Situation X (Leistung meiner Klugheit, Situation X zu erkennen).

 

Also muss ich jetzt angreifen.

 

Hier liegt die Fehlerquelle im Habitus, also im Obersatz. Denn habe ich meine Tugend falsch ausgebildet, handle ich auch falsch. Wenn in Wirklichkeit Situation X  gar nicht tapfer sondern tollkühn wäre. So habe ich meine Tugend nicht nach der rechten Mitte ausgebildet, sondern neige zur Tollkühnheit. Also sehe ich Situation X – die zu erkennen nicht besonders schwer ist – reagiere aber letztlich falsch, weil ich Situation X falsch einschätze.

 

Nun wird auch die Kritik von Bertrand Russell klarer. Das Buch von Aristoteles wendet sich an ehrbare Menschen mittleren Alters, und solche Leute haben es auch, besonders seit dem siebzehnten Jahrhundert, dazu verwendet, dem Überschwang und Eifer der Jugend einen Dämpfer aufzusetzen. Auf einen etwas tiefer empfindenden Menschen wird es aber wohl geradezu abstoßend wirken. Idee von Aristoteles ist es also gewesen, die Tugend als Erfahrungswissenschaft überprüfbar zu machen.

 

Die Überprüfbarkeit der zweiten Natur dagegen, ist schwierig. Denn die Klugheit als ausgebildeter Habitus kann ja von naturalistischen Fehlschlüssen geleitet sein. So wie heute der Zwang Geld zu verdienen reflexhaft zur Tugend erhoben wird, also dass man auch Geld verdienen soll. Menschen  die in westlichen Industrienationen leben und kein Geld verdienen, werden dann als nicht tugendhaft betrachtet. Darin liegt ein wesentliches Kernproblem der aristotelischen Ethik. Wir müssen also immer überprüfen, ob unsere zweite Natur, unser kulturelles Kapital, unser Habitus tatsächlich gut ist. Doch hier müssen wir regelmäßig an der Überprüfbarkeit dieser Frage scheitern. Eine Anekdote mag das veranschaulichen. Der berühmte Jazz-Trompeter Miles Davis sagte einmal über seinen Konkurrenten Ornette Coleman, dass dessen Spiel respektlos sei gegenüber denen, die ihre Instrumente beherrschen. Tatsächlich stammt Ornette Coleman aus sehr armen Verhältnissen. Er konnte keine Musikschule besuchen und brachte sich das Spielen und Notenlesen selbst bei. Doch niemand hatte ihm gesagt, dass ein Saxofon anders gespielt wird, als es notiert ist. Und so hörte sich seine Musik recht schräg an und führte dazu, dass ihm ein Musiker sogar einmal Geld anbot, nur damit er nicht spielt. Doch heute gilt Coleman als großer Erneuerer der Jazzmusik. In Colemans letzter Scheibe Sound  Grammar spielt Coleman Geige, er spielt viel Geige. Dabei so genial schlecht, dass man aufspringen und „Chapeau“ rufen will auf dass das Geigen nie enden möge. Und auch in der Literatur ist die Geige nicht selten ein disruptives Instrument zur Offenbarung lebendiger Kunst. Schon darin sehen wir, wie schwer es ist. Wir können nicht automatisch davon ausgehen, dass das, was gerade Mode oder Sitte ist, auch zugleich gut ist. Auch Folterknechte sammeln Erfahrungen und sind dann gute Folterknechte …!

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der 7. Beitrag 2021

 

 

Ludwig Wittgenstein 1910

 

Sprache und Sprachspiel

 

Von der logischen Tiefenstruktur

zur Sprachhandlung.

 

 

Ludwig Wittgenstein wurde 1889 geboren, als Spross einer wohlhabenden und kinderreichen Familie in Wien. Zur Philosophie kam er auf Um-wegen über Bertrand Russell, der in Cambridge lehrte. Wittgenstein war kein besonders guter Schüler, vor allem die technischen, naturwissenschaftlichen Fächer bereiteten ihm Schwierigkeiten. In Religion und Englisch jedoch hatte er gute Noten. Nach dem Vorbild des Vaters studierte der Sohn dennoch Ingenieurswissenschaft in Berlin. Schließlich lernte Wittgenstein Russell kennen und kam so durch die Anregung seines Mentors und Freunds zur Philosophie.

 

Wittgenstein brauchte Anregung von außen, aber einmal in Gang, war er dann sehr überzeugt von seinen Ideen. Als jüdisch-stämmiger Homosexueller dürften ihn nicht nur einmal Steine in den Weg gelegt worden sein. Sein nicht unbeträchtliches Erbe verschenkte er ohne Zögern an seine Freunde. Geblieben ist ihm eine Blockhütte in Norwegen, die offensichtlich niemand haben wollte. Er verstarb 1951. Sein einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk ist der Tractatus logico-philosophicus.

 

Beim Lesen der großen Klassiker, etwa Kant und Hegel, brach Wittgenstein die Lektüre stets vorzeitig ab, so sei er nie zu den eigentlichen Problemen dieser Philosophen durchgedrungen, weil ihm die Unklarheit der Sprache Missbehagen bereitete. Er suchte vor allem nach Klarheit und Orientierung.

 

Wittgenstein hinterließ kein philosophisches System, so gibt es zahlreiche Versuche, Kohärenz in seinem Werk zu finden.

 

Philosophie wird in Sprache formuliert, wenn diese Sprache jedoch nicht gut formuliert ist, ist die Philosophie nicht zu verstehen, so Wittgenstein, der nach der idealen Sprache suchte. Die Sprache verhext unsere Gedanken, sagte er, Sprache verzerrt gleichsam unser Denken, umkleidet es.

 

Wittgenstein ging es darum, die reine Sprache dahinter zu finden, quasi den Gedanken zu finden, der in der Sprache steckt, den Gedanken von der Sprache zu entkleiden. Dieses Bedürfnis, die Sprache zu „enthexen“, ergibt sich womöglich auch durch den Einfluss der Aufklärung, der Wittgenstein in England ausgesetzt war und nicht zuletzt durch seinen Mentor und Freund, den Neopositivist und Wissenschaftstheoretiker Bertrand Russell (Hauptwerk: Prinzipia Mathematica, in der Russell die Sprache in mathematische Ausdrucksformen zu bringen sucht).

 

Philosophie wird in Sprache formuliert, wenn diese Sprache jedoch nicht gut formuliert ist, ist die Philosophie nicht zu verstehen, so Wittgenstein, der nach der idealen Sprache suchte. Die Sprache verhext unsere Gedanken, sagte er, Sprache verzerrt gleichsam unser Denken, umkleidet es.

 

Wittgenstein ging es darum, die reine Sprache dahinter zu finden, quasi den Gedanken zu finden, der in der Sprache steckt, den Gedanken von der Sprache zu entkleiden. Dieses Bedürfnis, die Sprache zu „enthexen“, ergibt sich womöglich auch durch den Einfluss der Aufklärung, der Wittgenstein in England ausgesetzt war und nicht zuletzt durch seinen Mentor und Freund, den Neopositivist und Wissenschaftstheoretiker Bertrand Russell (Hauptwerk: Prinzipia Mathematica, in der Russell die Sprache in mathematische Ausdrucksformen zu bringen sucht).

 

 

Ludwig Wittgenstein 1930

 

 

Animiert auch von Gottlieb Frege (Begründer der modernen Logik – Präzisierung der Sprache mit Hilfe der Mathematik) sucht Wittgenstein vor allem nach dem Ende des Fragens. Er fragt nach sinnvollen Grenzen des Redens (so wie Kant etwa nach den Grenzen der Erkenntnis). Die Philosophie soll nach Wittgenstein die Grenze des Unsagbaren markieren. Diese Grenze des Unsagbaren vom Sagbaren her zu bestimmen, gilt sein Hauptaugenmerk. Man miß-deutete ihn als Wissenschaftstheoretiker, was er jedoch nicht war. Vielmehr setzte er sich mit Worten konkret auseinander. Er spricht vom Abbild der Tatsachen, nicht der Dinge. So könne man zum Baum, Baum sagen, aber wie sei es mit Worten wie sogar oder fünf? Was ist sogar für ein Ding? Gibt es eine Fünfheit? Die Logik hat einen rein tautologischen Charakter, das dem Denken und Sein gemeinsame könne nicht ausgesagt, sondern nur gezeigt werden mittels Symbolen, bzw. Zeichen.

 

Daher muss Tiefe in die Sprache hineingedacht werden. Cäsar wird von Brutus ermordet. Oder: Brutus ermordet Cäsar. Das diesen Aussagen Gemeinsame liegt in der Formel aRb. a steht für Cäsar, b steht für Brutus, R steht für Relation. a steht zu b in einer Relation. Sprechen wir also über die Welt, gibt es nur einen logischen Sachverhalt. Da reine Gedanken durch die Sprache verkleidet werden, müssen wir wieder zu einer logischen Form (Tiefenstruktur) kommen.

 

Das Abbild: Grammophonplatte, musikalischer Gedanke, Partitur, Schallwellen, ihnen allen ist ein logischer Bau gemeinsam, sie stehen in einem internen logischen Zusammenhang, beziehen sich gewissermaßen aufeinander.

 

Wie kommt nun Wittgenstein von der logischen Form zu etwas Substantiellem? Das Abbild zeigt nicht das Abgebildete. Man schaut durch das Abbild hindurch auf den Sinn des Abbildes, wobei der Verweisungscharakter keineswegs klar ist. Man müsste, um über Sprache zu sprechen, eine Sprache jenseits der Sprache erfinden. Wittgenstein lehnt dies ab. Es bleibt somit das Zeigen und Schauen.

 

Später relativiert Wittgenstein in seinen philosophischen Untersuchungen diese reine Form der Logik, er sieht darin nichts Erfindbares, da die logische Form auf nichts verweist. So muss man empirisch vorgehen. So passen rot und rund zusammen, aber nicht rot und grün, da sich dies beißt (Ausschließungscharakter). Das Abbild missfällt Wittgenstein, denn sie gibt keine Sicherheit. Mit Sprache könne man alles und nichts aussagen. Es gibt nichts Verborgenes mehr in der Sprache, keine reine Logik der Form. Man muss suchen, nach dem, was da ist.

 

So kommt Wittgenstein zu den Sprachhandlungen. Er entwickelt eine Art Grammatik, nicht im Sinne unserer Natursprachen (Subjekt, Objekt etc.), vielmehr eine allgemeinere, grundsätzlichere Grammatik, welche zur Beschreibung des Kontexts von Sprache und Welt verwendet werden kann. Diese Grammatik dient als Handlungsregel von Worten. Sprachhandlungen finden in der Welt statt und es gibt hier keine Trennung von Sprache und Welt. Die Harmonie zwischen Sprache und Welt entsteht durch den Kontext der Handlungsregeln.

 

Das Wort Baum bezeichnet also nicht das Ding Baum, sondern tritt mit dem Ding in eine Harmonie, sodass es Sinn ergibt, Baum zu sagen. So kann es sinnlose Sprachhandlungen geben, die eben mit dem Kontext nicht in Harmonie stehen. Wenn ich jetzt behaupte, dass gerade ein Elefant durch mein Zimmer geht, während ich dies schreibe, so stört dies den Kontext, die Harmonie dieses Texts als Welt.

 

Wittgenstein kommt so von der logischen Analyse der Sprache zur Beschreibung der Sprache, nachdem sie verwendet wurde. Wir können also nicht Sprache beschreiben, während wir sie verwenden. Der Gebrauch eines Worts ist seine Bedeutung. Die Bedeutung deutet hin auf ein Ding durch das Wort (Frege: Jede Bezeichnung hat eine Bedeutung).

 

Es besteht also zwischen Ding und Wort keine notwendige Korrelation, sondern eine Handlungsharmonie. Wir können die Sprache demnach als ein Spiel auffassen, das nach gewissen Regeln funktioniert. Hier kann man Sprache mit dem Schachspielen vergleichen.

 

Von der logischen Form kommt Wittgenstein also zum Spiel, zur Harmonie von Sprache und Welt. Die Regeln sind dabei nicht fundamental, können jederzeit gebrochen werden, und daher kann man erst Regeln herausfinden, nachdem gesprochen wurde.

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 6. Beitrag 2021

 

„Hegel auf Kant“

 

 

Das Wahre ist das Ganze (Hegel)

 

Es gibt eine alte Nebenschrift von Immanuel Kant, die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Schon im Titel offenbart sich der kosmopolitische Ansatz des Aufklärers Kant. Kant benutzt hier den Begriff der „Idee“, was für ihn ein Terminus technicus ist. Kant versteht unter der Idee ein regulatives Ordnungsprinzip. Während unsere sinnliche Anschauung die Phänomene in Zeit und Raum feststellen kann, und man sich darauf verlassen kann, dass alles, was erscheint, sich in Zeit und Raum befindet und das in festen Kategorien des Verstandes, nach Prinzipien der Kausalität oder als einzelnes oder vieles, notwendig oder zufällig, ist das mit den Ideen anders.

 

Ideen sind regulativ. Das heißt, dass sie eine Norm bilden. Bei Immanuel Kant gibt es drei regulative Prinzipien, bestehend aus der Homogenität, Spezifikation und der Kontinuität. Hunde und Pferde sind Tiere. Das heißt, das Einzelne ordnet sich dem Allgemeinen unter und umgekehrt findet sich immer noch eine Einteilung des Einzelnen. Dackel und Pinscher sind zwar Hunde, aber sie unterscheiden sich eben auch wieder spezifisch voneinander. Aber sie sind miteinander auch verwandt, das ist die Kontinuität.  Diese Ordnung der Dinge ist nicht transzendental (transzendental ist eine Erkenntnis an sich, wie zum Beispiel „ich denke, also bin ich“) gerechtfertigt, sondern subjektiv. Man kann alles auch anders einteilen.

 
Wenn Kant in diesem oben erwähnten Aufsatz von einer Idee der allgemeinen Geschichte spricht, dann möchte er den historischen Fortschritt als ordnende Idee verstanden wissen. Mehr nicht. Gott, Willensfreiheit und Unsterblichkeit der Seele werden in seiner praktischen Vernunft als Ideen gesehen, die man sinnvoll annehmen sollte. Man kann weder die Existenz Gottes beweisen, noch die Freiheit unseres Willens und genauso wenig die Unsterblichkeit der 
Seele. Doch Gott ist als höchstes Gut und sittliche Vollendung eine leitende Idee. Die Willensfreiheit ist eine Voraussetzung für Moralität. Beweisen kann man es nicht, aber ohne die Freiheit des Willens würde man kein Gesetz gestalten können. Wozu? Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Idee, die uns antreibt, immer weiter voranzuschreiten und unser individuelles Ende nicht nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ zu leben. Ohne die Idee von der Unsterblichkeit der Seele fehlt uns ein gewaltiges Stück generativer Verantwortung.

 

Hegels Weltgeschichte erhebt dagegen den Anspruch einer transzendenten, also über das Subjekt hinausgehenden Erkenntnis. Hegel operiert hier mit einer durchgehenden Dreierregel. Es gibt den subjektiven Geist, den objektiven Geist und den absoluten Geist. Diese Dreischritte haben Sie bei Hegel immer. Daher kann man Hegel gut lesen, wenn man daran denkt, dass alles bei ihm gedrittelt wird. Aber Hegel denkt sich diese Drittel nicht als Linie, sondern als eine Art Kreis. Denn jedes Drittel ist immer mit vorhanden. Fortschritt ist für Hegel daher kein Hinauf, sondern ein Streben nach Vollendung. Und das Unvollendete ist ein Teil des Vollendeten geworden.

 

Der subjektive Geist ist ebenfalls in drei Teile zerlegt in die Seele (Sinne), das Bewusstsein (Selbstreflexion) und den Geist (Selbst-bestimmung).


Der objektive Geist ist in die normative Ordnung von Recht, Moral und Sitte gedrittelt. Hegel unterscheidet also Moral und Sitte. Das macht Kant nicht. Für Kant sind Moral und Sitte gleichbedeutend. Bei Hegel beginnt es mit dem abstrakten Recht, das einfach Regeln zum Eigentum, Vertrag etc. aufstellt und klärt, was Recht und Unrecht ist. Das beginnt im Grunde mit den Vieh züchtenden und Ackerbau treibenden Barbaren. Er nennt hier explizit die Ehe und den Ackerbau als maßgebend. Für ihn war die Ehe ein sittliches Verhältnis in dreierlei Hinsicht. Das hat der Alte (wie man ihn im Tübinger Stift nannte) auch mit dem Wort „Aufheben“ gemacht. Einerseits kann man etwas aufheben im Sinne der Negation, dann kann man es aufheben, um es zu bewahren und zugleich aufheben im Sinne des Emporhebens. So sah Hegel die Ehe als Aufheben der Romanze und Überführung, Emporheben und Bewahren als eheliche Verbindung. Ein schöner Gedanke.

 

Die Moral ist dann die normative Verinnerlichung dieser Regeln in Form des Empfindens von Schuld und Vorsatz, Absicht und Wohl, das Gute und das Gewissen. Hier bestimmen der Wille und die Reflexion des Willens, indem sich das Subjekt selbst bestimmt. Doch die Sittlichkeit ist bei Hegel als dritte Stufe überindividuell in drei Weisen vorhanden.  Die Familie in Form von Liebe, da die Familie unmittelbare Substantialität des Geistes darstellt und somit die Grundlage jedes Individuum ist. Dabei ist auch die Auflösung der Familie wichtig, da sie zu weiteren Familiengründungen führt. Wenn man sich nicht löst von seinen Eltern, dann steht die Entwicklung still in irgendwelchen Sippen.

 

Aus all diesen Familien bildet sich naturgemäß die bürgerliche Gesellschaft, die eine Form der Kooperation der familiären Eigeninteressen darstellt. Und aus dieser bürgerlichen Gesellschaft formt sich der Staat als wahre Vereinigung aller Individuen und Wirklichkeit der Sitten.

 

Der Staat ist bei Hegel nicht das Volk. Vielmehr ist der Staat die formelle Verallgemeinerung des Geistes, der Völkergeister. Der objektive Geist drückt sich bei Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts aus. Ein Volk ist für ihn noch lange kein Staat. Dazu bedarf es der Realisierung der Form des Rechts. Das vollziehen seine Völkergeister. Und bei Hegel ist der Krieg die Triebfeder zur Bildung von Recht. Was er das Heroenrecht zur Stiftung von Staaten nennt.


Der absolute Geist ist als Kultur in Kunst (Anschauung und Bild), Religion (Gefühl und Vorstellung) und Philosophie (reiner, freier Gedanke) gedrittelt.

 

Während Kants Weltgeschichte eine kosmopolitische Idee vom Fortschritt ist, nur als regulatives Ordnungsprinzip gedacht und keineswegs gewährleistet, ist Hegels Weltgeschichte eine Art Gerichtsgebäude, das die Verwirklichung des allgemeinen Geistes auslegt. Hegels Ordnungsprinzip erhebt den Anspruch einer transzendentalen Erkenntnis, gipfelnd in Hegels berühmten Satz: 

Was wirklich ist, ist vernünftig und was vernünftig ist, ist wirklich. In diesem hegelschen Sinn haben wir noch keine Wirklichkeit vorliegen, da sie sich noch nicht voll verwirklicht hat. Und wir haben auch keine vollständige Vernunft vorliegen, da die Wirklichkeit noch wirkt.

 

Viele verstehen nicht, dass dieser Dreischritt kreisförmig verläuft. Sie halten Hegels Philosophie daher für brisant und behaupten, Hegel würde so auch eine Diktatur als sittlich ansehen. Das stimmt aber nicht. Der Staat als höchste sittliche Wirklichkeit bürgt für das abstrakte Recht und dieses abstrakte Recht schafft die Moralität des Subjekts, indem das Subjekt dieses abstrakte Recht verinnerlicht und daraus entsteht die Sittlichkeit des Staates, der wiederum das abstrakte Recht verbürgt. Da im Kern die Familie das Zentrum der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht und die Kooperation der Familien Grundlage der Sittlichkeit sind, und infolgedessen, dass auch die Auflösung der Familie in Form von Neugründungen der Familie für einen konsequenten historischen Fortschritt sorgt, erfüllt sich die Sittlichkeit des Staates als wahre Vereinigung aller Individuen.

 

Es ist schon aus diesem Blickwinkel klar, dass die aktuellen nationalen Politiken als spektakuläre postlibertäre Demokratien nicht den allgemeinen Geist spiegeln, sondern als Auflösungstendenz der nationalen Einheiten die Weltgeschichte vorantreiben. Die globalen Machtverhältnisse spiegeln sich nicht im Entferntesten in den nationalen Politiken. Während der Absolutismus sich in Hegels Zeitalter auflöste, löst sich nun die nationalliberale Demokratie auf. Der Verlauf: Theokratie – Aristokratie – Absolutismus – Demokratie – und wieder zur aufgehobenen, emporgehobenen Theokratie. Die Auflösung der römischen Demokratie mündete in den Absolutismus. Der Kaiser geht einher mit substantiellen theokratischen Ambivalenzen. Die gesamte Geschichte ist in jedem einzelnen Geschichtsabschnitt vorhanden. Es ist immer die Summe der Weltgeschichte da und das Einzelne kann sich nicht unabhängig von der Summe verwirklichen. Das Endliche und das Unendliche waren einst eine Einheit, wurde in der Verwirklichung des Subjekts gespalten und hat sich dann erneuert im Recht. Gegen diese Wucht von Hegels Philosophie des Geistes ist Kant nur ein holzköpfiger Beamter, ein Kategorien sabbernder, Normen hustender Pfeifenraucher. Aber Kant ist der ältere von beiden und Hegel blamierte sich, als er Napoleon für den personifizierten Weltgeist hielt.

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 5. Beitrag 2021

 

Von Hand auf Werk

 

 

Stéphan Mallarmé soll – laut dem Journal von Edmund Goncourt – verkündet haben, dass man einen Satz nicht mit einem einsilbigen Wort beginnen dürfe. Goncourt kritisierte den Lyriker daraufhin heftig. Goncourt spottete über „diese Suche nach kleinen Schnitzern“, denn das würde letztlich von allem „Wichtigen, Großen, Bewegenden, das einem Buch Leben verleiht“ nicht nur ablenken, sondern sogar abstumpfen. Julian Barnes kommentierte, dass die Kluft „zwischen realistischer Prosa und symbolistischer Poesie“ nicht größer hätte sein können, als eben hier zum Ausdruck kommt. Die Differenz zwischen dem feinsinnigen, winzigen Satzmesserchen und dem großen, monströsen Geschichtsfleischermesser ist selbst eine Anomalie. Denn beides zählt. Manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles ruinieren, manchmal kann so ein „kleiner Schnitzer“ alles retten. Der Zufall spielt auch hier seine chaotische Rolle. Es ist wie beim Kochen. Um an das Innere der Frucht zu gelangen, braucht man [PE1] das monströse Fleischermesser. Die Frucht selbst will filigran behandelt werden. Ästheten wie Mallarmé sehen nur die Frucht und ignorieren die harte Schale, in der sie sich schützt und Realisten wie Goncourt unterliegen dem Irrtum, dass die Frucht nur von ihrer Schale befreit werden müsse, um zum Vorschein zu kommen. Dann machen sie Mus daraus. Doch jedes Symbol ist von einer harten Schale Kontext umgeben und wer nicht gelegentlich das Fleischermesser benutzt, gelangt nicht an die Frucht. Blutarme Ästhetik ist die Folge. Die große Kunst besteht darin, die Frucht so zuzubereiten, dass niemand, der die Frucht verspeist, noch an das Fleischermesser denkt, das man brauchte, um an diese schmackhafte Frucht zu gelangen. Es ist eine Frage der Technik. Aber Technik denkt nicht. Und so braucht jedes Messer, ob groß oder klein, geschickte Hände oder kräftige Arme. Geschickte Hände und kräftige Arme bekommt man nicht geschenkt. So muss man regelmäßig das Große, Wichtige, Bewegende stemmen, von dem Goncourt spricht. Genauso regelmäßig sollte man mit der Lupe die Details des Großen, Wichtigen und Bewegenden studieren und handhaben können, um diese „kleinen Schnitzer“ zu vermeiden, die Mallarmé anspricht. Es ist wie in der Physik. Die Teil-chen widersprechen oft dem Ganzen. Für die Schwerkraft sind Quanten irrelevant. Aber ohne die Quanten ist der Rest ebenso irrelevant. In der Schwungkraft zwischen dem Großen und dem Kleinen äußert sich zwischen Prosa und Poesie echtes Sprechen. Wieder ist es die Differenz, die Nicht-Identität von Signifikat und signifikant, die im Sprechen wirkt. Lernt man den Kontext, als nicht linear zu begreifen, gelangt man an den eigentlichen Kern der Frucht. In diesem Kern finden sich Frucht und Schale in sonderbarer Einheit vor. Das Messer, mit dem man diesen Kern dann bearbeitet, ist kein Handwerkszeug mehr, es ist die Ewigkeit. In der Dauer selbst vereinigen sich Prosa und Poesie in einer nicht theologischen, völlig Gott befreiten Mystik. Jedes gelungene Kunstwerk verschafft uns eine Illusion von „echter Dauer“; also die Illusion von Ewigkeit. Das ist das Geheimnis künstlerischen Wirkens.

 

 

ENDE

 

 

 

 

Der 4. Beitrag 2021

 

 

Die Welt wurde vom nicht nachweisbaren

fliegenden Spaghetti-Monster erschaffen!

 

 

Wenn ich in einem Gedankenexperiment mein Leben von Geburt bis zum Tod als etwas Absolutes setzen würde, also, als das einzige, was es gibt, muss ich dieses Sein widerspruchsfrei denken – denn ich kann ja nicht zugleich sein und nicht sein. Doch wie sollte ich es nennen? Man findet keinen univoken, also eindeutigen Begriff dafür. Das heißt, dass ich über mein absolutes und widerspruchsfreies Dasein keine widerspruchsfreie Aussage machen kann. Daraus leitet Thomas von Aquin, der gute alte Doktor Angelicus, seine fünf Gottesbeweise ab, die bis heute zum katholischen Katechismus gehören. Zunächst muss alles einen Urgrund haben, mit dem allerersten Anfang. Heute würde man das den Big Bang nennen. Das wäre damit die erste Ursache, die zu einer ersten Wirkung führte. Dazwischen oder davor gab es weder andere Ursachen noch andere Wirkungen. Ich wurde also an einem Freitag vor 57 Jahren geboren. Davor gab es mich nicht. Und damit ich überhaupt irgendetwas tun konnte, das zu einer Wirkung führt, musste ich geboren werden. Nun: wenn man akzeptiert, dass ich geboren wurde, dann muss man auch akzeptieren, dass es eine Zeit gab, in der ich noch nicht geboren war. Aber da wir in unserem Gedankenexperiment mein Leben als absolut gesetzt haben, war dann gar nichts vor meiner Geburt. Wie kam ich dann zur Welt? Das war eben Gott und ist bei Thomas von Aquin das kosmologische Argument.


Wenn ich nun lebe, kann ich entweder groß oder klein sein, dick oder dünn. Ich kann im Laufe meines Lebens mal kluge Dinge tun oder dumme Dinge und so weiter. Das hat Thomas von Aquin schon in seiner Begriffslogik klargemacht, dass es von meinem Leben keine widerspruchsfreie Aussage geben kann. Ich kann von mir nur in Analogien sprechen, in Relationen. Wie komme ich darauf, mich größer oder kleiner, dicker oder dünner, klüger oder dümmer zu sehen? Hierzu ist ein Maßstab nötig. Eine gewisse Ordnung, die ich in meinem Leben ohnehin vorfinde in der Natur, in der ich eben lebe. Diese Grundordnung des Lebens, die für mein Leben eine Grundbedingung ist, existiert wieder unabhängig von mir. Selbst wenn es nur mich gibt von Geburt bis zum Tode und alles, also absolut alles ich bin, dann bin ich dennoch. 
Und dieses Sein kann nicht zugleich sein und nicht sein, es braucht zugleich irgendeine Ordnung und Bedingung, um zu sein. Wir können dieses Sein nicht widerspruchsfrei ausdrücken und das ist das, was wir nicht erklären können und wohl nie erklären werden können und mit Gott etikettieren.

 

Woran ich jetzt glaube (wissen kann man es ja nicht, ich muss es also glauben) ist das andere. Und hier kann man sich sehr wohl streiten. Aber dieser Streit ist unsinnig, da ja niemals jemand Recht bekommen könnte. Es ist in gewisser Art ein Fußballspiel, das ewig dauert und nie einen Sieger ermitteln wird. Ob Moslem oder Christ, ob Hindu oder Buddhist. Darüber wissen wir nichts. Daher ist die Freiheit des Glaubens ein so hohes Gut und die größte Errungenschaft der Aufklärung. Es geht nicht darum, Gott abzuschaffen (denn das geht nicht). Es geht auch nicht darum, ihn zu leugnen (auch das geht nicht, denn man kann nur etwas abstreiten, was in irgendeiner Form mit Fakten untermauert oder widerlegt werden kann – von Gott gibt es eo ipso keine Fakten). Nun könnten wir natürlich den allseits beliebten Schwebezustand des Agnostikers einnehmen. Der Skeptiker hat jedoch einen großen Nachteil und das führt ihn erheblich in die Enge. Denn unbestritten ist, dass wir in der Natur, in der wir leben, eine Ordnung vorfinden. Indessen können wir durchaus daran zweifeln, dass unsere Theorien über diese Ordnung, der epistemische Status der Physik die Natur nicht vollständig beschreibt. Das wird sie auch nie können. Aber sollten wir deshalb aufhören, sie zu beschreiben? Hier landet der Skeptiker im absurden Abseits. Selbstverständlich verfügen wir über Erkenntnisse und können diese auch anwenden. Sogar falsche Theorien können funktionieren. Mit Hilfe des Atommodells von Niels Bohr (wird gerne als Tröpfchen Theorie bezeichnet) baute man die Atomwaffe. Die Theorie war grundfalsch und gilt heute als weitestgehend widerlegt. Der Zweifel an Gott ist dem Abstreiten von Gott sehr ähnlich. Ich kann nichts bezweifeln, was keine Fakten liefert. Wer also nicht glaubt, der scheint zu wissen. Aber bisher wurde noch jede Vorstellung, jede Theorie, die absolut gilt, widerlegt. Widerlegt: weil unser Leben nie ganz widerspruchsfrei und damit absolut ist.

 

Das führt aber nicht in den Zweifel, sondern ganz im Gegenteil zum Glauben. Nicht mit dem Herzen, nicht dass man jetzt wie ein Adventist in Zungen zu reden beginnt und wie ein Irrer die Arme hoch und nieder schwingt vor seliger Inbrunst. Nein. Nur rein logisch. Kalt und rational betrachtet können wir vom Absoluten nichts wissen und werden das nie. Das mag man bedauern, aber so ist das nun mal. Was wir nicht wissen, könnten wir natürlich ignorieren. Aber das ist – wie jede Form der Ignoranz – nur Dummheit. Denn dann geben wir überhaupt auf, uns über die Ordnung und Bedingung unseres Seins Gedanken zu machen. Geben wir dem, was wir nicht wissen einen Raum, dann muss dieser aber frei sein. Freier als alles sonst. Und das ist doch super!! Wir dürfen glauben, was wir wollen und worauf wir so kommen. Und wenn jemand ein fliegendes Spaghetti-Monster verehrt, ist das erlaubt. Dass alles, was wir zu wissen glauben, ganz anders sein kann, das hat die Geschichte der Wissenschaft schon mehrmals gezeigt. Aber damit wird nicht alles Unsinn. Es gibt einen Fortschritt in der Erkenntnis der Ordnung und Bedingung des Seins. Unsere Erkenntnis wird nur nie widerspruchsfrei sein, immer nur äquivok vorliegen. Aber ich finde, das können wir aushalten, ja es ist geradezu der Spaß am Leben.

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

Der 3. Beitrag 2021

 

Denken?

 

Der eine glaubt, dass das Gehirn die Seele macht (zum Beispiel der Hirnforscher Gerhard Roth) und spricht uns unsere Willensfreiheit grundsätzlich ab. Der andere glaubt, wir könnten unser Verhalten selbst konditionieren (zum Beispiel der Motivationscoach Dr. Jens Uwe Martens in einem SZ-Interview) und gibt uns damit wieder die volle Kontrolle zurück. Was stimmt nun? Haben wir einen freien Willen oder nicht? Als guter Philosoph betrachtet man die Begriffe. Der Wille wird meist als Willensakt beschrieben. Das ist eine Handlung, mit der ich meine Vorstellung in die Realität umsetze. Für diese Handlung benötigt man eine Form der Energie, die dann als Willenskraft bezeichnet wird. Laut dem Motivationstrainer kann man diese Kraft genauso trainieren wie einen Muskel, denn diese Kraft ist das Ergebnis vieler synaptischer Nervenverbindungen in dem Bereich des Gehirns, wo dieser Wille angeblich sitzt.

 

Es ist natürlich komplizierter. Damit ich eine Handlung so umsetze, wie ich sie mir zuvor überlegt habe, benötige ich alle anderen kognitiven Fähigkeiten. Zunächst brauche ich eine funktionierende Wahrnehmung. Will ich mir einen Kaffee kochen, dann tut sich ein Blinder deutlich schwerer. Oder wenn man eine schwere Ataxie (Störung der Muskelkoordination) hat, verschüttet man immerzu das Kaffeepulver. Oder die Sensibilität der Haut ist gestört, dann kann ich mir durch heißes Wasser schwere Verbrennungen zuziehen. Dann muss ich wach sein, mich konzentrieren können, sonst bin ich ständig abgelenkt und komme nie zum Kaffeekochen, wenn ich schlafe, kann ich keinen Kaffee trinken und wenn ich Kaffee trinke, kann ich nicht schlafen. Im Gehirn haben wir ein Netzwerk aus Nervenzellen, das vom verlängerten Rückenmark bis zum Thalamus reicht. Vom Thalamus aus gehen dann Verbindungen in alle Bereiche des Großhirns. Das ergibt zusammen eine Art Schaltplan. Eine rhythmische Erregung unserer Pyramidenzellen erzeugt Aufmerksamkeit, Wachheit. Von 6 Hz bis 40 Hz sind wir wach, darunter schlafen wir. Bei 0 Hz sind wir wohl tot. Das kann man mit einem EEG gut messen. Dann hat der Thalamus eine Filterfunktion. Thalamus kommt aus dem altgriechischen thalamos, das heißt Schlafgemach. Er filtert und verteilt unsere Wahrnehmung. Einzig der Riechnerv ist nicht über den Thalamus verschaltet und geht unmittelbar in das Großhirn (Neocortex). Daher ist die Anosmie (schwere Riechstörung) ein erhebliches medizinisches Problem.

 

Damit ich mich auf eine Sache konzentrieren kann, muss der Thalamus funktionieren als Schaltstelle meiner Wahrnehmungen. Ein winziges Blutgerinnsel kann hier schon für erhebliche Unruhe sorgen. Gefühlsstörungen und heftige zentrale Schmerzen, motorische Störungen mit einer starren Gesichtsmuskulatur, Zwangsbewegungen der Hände und der Finger und psychische Störungen mit Minderung der Aufmerksamkeit, Reizbarkeit, Ungeduld und Schreckhaftigkeit können darauf hinweisen. Bei fortschreitender Demenz sinken Wachheit und Aufmerksamkeit. Die Wahrnehmungssignale werden einfach nicht mehr weiter geleitet. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein derart geschädigtes Gehirn die 40 Hz nicht mehr erreichen kann und der Hirnträger zunehmend schläfrig wird. Veränderungen des Stoffwechsels im Gehirn sorgen für Ungemach. So kann es zu einer verstärkten Produktion von Dopamin kommen, durch psychische Traumatisierung. Dann ist man reizbarer und die Wachheit steigt. Man ist, überwach (hypervigilant) wie beim PTBS, reizbarer und ängstlicher. Man kann seine Emotionen nicht mehr gut kontrollieren. 

 

Zurück zum Willensakt des Kaffeekochens: Das ist ein Problem (etwas Vorgelegtes), das man lösen muss mithilfe koordinierter Handlungsabläufe, die höhere kognitive Funktionen benötigen. So muss ich schlicht wissen, wo der Kaffee steht. Ich muss wissen, wie man den Wasserkocher anschaltet. Ich muss wissen, dass man das Kaffeepulver in den Filter gibt. Kaffee kochen ist daher nicht selten ein wichtiges Einstellungskriterium. Man muss also fähig sein, Probleme zu lösen. Das ist eine Aufgabe für die graue Substanz, den Neocortex. Schließlich muss ich über sprachliches Wissen verfügen. Ich muss überhaupt verstehen, was Kaffee bedeutet. Das ist nun schon eine hoch kulturelle Sache. Vor der Entdeckung Amerikas war Kaffee kochen schlicht unmöglich, das Problem existierte nicht mal.  Zuletzt muss man sich noch erinnern können. Sonst müsste man das Kaffeekochen tagtäglich neu lernen. Bei einer anterograden Amnesie (Schädigung des Hippocampus) kann man sich nichts Neues mehr merken. Hier grüßt wirklich täglich das Murmeltier. Der Hippocampus ist unser Arbeitsspeicher für das Gedächtnis. Das sind zwei je zehn Zentimeter große Seepferdchen am Rand des Schläfenlappens. Der wird nachts im Schlaf geleert und die Informationen werden langfristig im Großhirn gespeichert. Das heißt, dass man im Schlaf lernt. Denn erst, wenn das retikuläre Aktivierungssystem unter 3 Hz fällt, entsteht Tiefschlaf, die Gehirntemperatur ändert sich und die Filterung wird erhöht. Das Gehirn hat etwas mehr Ruhe von äußeren Einflüssen und im Gehirn geschehen viele wundersame Dinge. Und es ist verständlich, dass Menschen wie Gerhard Roth jetzt glauben, dass wir von diesen Wunderdingen im Gehirn gesteuert werden, quasi selbst nur das Ergebnis dieses Wunders sind. Und je mehr man sich mit dem Gehirn beschäftigt, desto wundersamer wird es.

 

Jetzt aber das Rätsel: Wenn ich über das Gehirn spreche, spricht das Gehirn gerade über sich selbst? Der größte und auch empfindlichste Teil der oben beschriebenen Netzstruktur ist der Locus coeruleus, der himmelblaue Ort. Er ist schwarz pigmentiert und schimmert an der Hirnoberfläche bläulich durch. Eine Zeitlang galt er als Sitz unseres Ichs. Er ist deutlich der größte Knotenpunkt dieses Netzwerkes und wird über Noradrenalin moduliert. Noradrenalin sorgt für eine Modulation der Nervenzellen, sobald etwas Neues auf das Gehirn zukommt. Es ist wirklich der Ort des Lernens. Das funktioniert natürlich nur, wenn kein Stress da ist und ausreichend (aber nicht zu viel) Aufmerksamkeit. Ansonsten sind diese Zellen weniger aktiv. Wenn ich über das Gehirn spreche, spreche ich nicht über Beethoven. Habe ich eine Vigilanzstörung, kann das durcheinander geraten. Also wenn mir der Staat eine Sozialversicherungsnummer gibt, ich mich durch einen Fingerabdruck im PA zu erkennen geben muss, dann lernt mein Gehirn, dass Sozialversicherungsnummer und Fingerabdruck Teil der komplizierten Einheit Horwatitsch ist. Mein Gehirn hat gelernt, dass mein Vorname Bernhard ist. Und so weiter. Warum fällt das nicht auseinander? Warum finden Sie in ihrem Computer Dateien, wenn Sie danach suchen? Wenn ich über das Gehirn spreche, will ich das. 

 

So ist der Bogen zum Willensakt gespannt. Die Fähigkeit des Gehirns, sich auf etwas zu beziehen (Intentionalität genannt) findet in der oben beschriebenen Netzstruktur statt. Das Gehirn wiederum unterliegt einer natürlichen Ordnung. Wir nennen das eben Evolution. Ob nun unser epistemischer Status der Neuro-wissenschaft vollständig das Gehirn beschreibt, kann man bezweifeln. Und schon sind wir im philosophischen Tiefenraum angelangt.

 

In der Rechtswissenschaft ist der Wille vor allem als freier Wille wichtig. Dazu braucht es Bedingungen. Zwang von außen schränkt die Willensfreiheit ein. Krankheiten schränken die Willensfreiheit ein. Daher überprüft der Richter auch die Willensfähigkeit des Delinquenten, denn ein schwer psychisch gestörter Mensch hat nicht genügend Selbstkontrolle, um für seine Tat verantwortlich zu sein.  Wenn ich Kaffee kochen will, ist das meine Entscheidung. Wenn der Chef will, dass ich Kaffee koche, ist es meine Entscheidung dem Willen des Chefs zu entsprechen. Das nennt man dann die Urheberschaftsbedingung. Ich habe Absichten, Gründe, Wünsche und Überzeugungen. Das ist alles angelernter Scheiß (um es postmodern auszudrücken) in meinem Gehirn. Schließlich gibt es Menschen, die wollen keinen Kaffee, die trinken lieber Tee (um Tee zu trinken, müsste ich jedoch krank sein). 

 

Jeder hat da dann seine Gründe dafür. Die schönste Zeit zu Hause war eben die Kaffeezeit. Nichts geht über eine Tasse Kaffee und eine Zigarette.  Als Baby habe ich weder Kaffee getrunken, noch Zigaretten geraucht. Ich wusste nicht, dass es so schöne Dinge gibt. Dann habe ich gesehen, jeden Tag, wie mein Vater trinkt und raucht. Das hat mein Babygehirn moduliert. Dann musste ich lange warten, bis ich alt genug bin, um das auch tun zu dürfen. Das war aber nicht freiwillig, sondern gesetzlicher Zwang. Wenn Sie Ihr Kind im Vorschulalter eine Zigarette rauchen lassen, machen Sie sich strafbar. Aber rein handlungsanalytisch ist ein Kind im Vorschulalter in der Lage zu rauchen und Schnaps zu trinken.


Der Streit über die Willensfreiheit ist – wieder postmodern gesprochen, eine Art Schwanzvergleich. Denn man muss schon klären, wie es zu einem solchen Streit kommen kann, wenn wir keinen freien Willen haben. Ist das der Plan Gottes? Und rums, sind wir mitten in der Metaphysik. Die Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth haben sich in scholastisches Fahrwasser begeben. Haben wir jetzt einen freien Willen oder nicht? Entscheiden Sie selbst.

 

 

 

ENDE 

 

 

 

 

Der 2. Beitrag 2021

 

 

 

Urteile nicht

 

Was man so alles bedenken sollte, wenn man denkt, damit man sich nicht alles nur ausgedacht hat, was man dachte.

 

Bei Kant – der Ursache vieler Kopfgeschwüre – ist ein analytisches Urteil a priori zum Beispiel der Satz: Der Schimmel ist weiß. Da die Qualität „weiß“ eben schon im Wort „Schimmel“ enthalten ist. Dem Schimmel wird so nichts hinzugefügt und es ist pure Anschauung – also a priori – da ich – so meine Augen funktionieren – dieses Weiß unmittelbar sehe.

 

Ein synthetisches Urteil ist dagegen was anderes. Der Schimmel ist drei Jahre alt. Dies setzt eine Bekanntschaft mit einem bestimmten Schimmel voraus und damit ist es nicht mehr a priori, sondern a posteriori, also im Nachhinein (nach der besonderen Bekanntschaft mit dem Schimmel) als zusätzliches Prädikat erkannt worden. Kant ist der Meinung, dass nur solche Urteile den Namen Wissenschaft verdienen. Was ist nun ein synthetisches Urteil a priori?

 

Also eine unmittelbare Erkenntnis von einem zusätzlichen Prädikat? Die Rechenoperation 5 + 7 = 12. Sowohl die 5, als auch die 7 sind analytisch in der Anschauung der Zeit. Also ich sehe unmittelbar 5 Äpfel in der Schale liegen. Das ist bei klarem Verstand nicht zu bezweifeln und aus der unmittelbaren Anschauung gewonnen. Ebenso bei 7 Äpfeln. Aber wenn ich nun 5 Äpfel aus der Schale nehme und sie in die Schale mit den 7 Äpfeln lege, werden daraus 12 Äpfel. Diese 12 Äpfel sehe ich jetzt und damit ist das ein analytisches Urteil. Aber da ich zuvor eine Operation durchführte und die 5 zur 7 hinzuaddierte, wird die 12 eben synthetisch und das aufgrund meiner Anschauung. Damit habe ich Wissen geschafft. Das ist das Experiment, mit dessen Hilfe ich reine Anschauung hervorgerufen habe, durch Synthese. Zucker ist süß. Kaffee ist bitter. Das sind analytische Erkenntnisse a priori. Wenn ich jetzt den Zucker mit dem Kaffee verrühre, wird der Kaffee süß und das ist eine analytische Erkenntnis a priori. Aber da ich Zucker und Kaffee durch eine Operation zusammenfügte, ist es ein synthetisches Urteil a priori. Die gewonnene Erkenntnis ist jetzt qua Vernunft die, dass der Zucker den Kaffee süß macht. Kant stellt die Bedingung auf, dass die Metaphysik (Wissen über die letzten Gründe des Seins) nur dann zu sicheren neuen Erkenntnissen gelangen könne, wenn sich auch hier synthetische Urteile a priori fänden. Erst dann haben sie den Status einer Wissenschaft.

 

Wenn ich eine Gotteserscheinung habe, dann liegt entweder ein analytisches Urteil a priori vor oder ich habe eine Augenkrankheit. Mit welchem Experiment könnte man eine Gotteserscheinung hervorrufen? Ganz einfach. LSD verändert die Sinneswahrnehmung. Gott kann man nur mit veränderten (verbesserten?) Sinnen sehen. Nimmt man LSD, sieht man Gott. Das Problem ist nicht die Synthese. Das Problem ist die Analyse. Kants transzendentale Dialektik zeigt auf, dass die Gotteserscheinung selbst nur Schein ist und kein Sein. Und zwar aus der Logik heraus. Jemand mag eine Erscheinung haben und spricht dieser dann den Begriff Gott zu. Kant beweist, dass hier bereits die Existenz Gottes vorausgesetzt wird. Schließlich könnte diese Erscheinung unter Einfluss von LSD alles Mögliche sein. Wer sagt denn, dass es Gott ist. Es könnte auch der Teufel sein, oder ein Außerirdischer, oder eine Luftzirkulation? Kaffee existiert physikalisch und Zucker auch. Die neue Qualität des Kaffees durch Hinzufügen von Zucker ist a priori physikalisch. Die neue Qualität meiner Sinneswahrnehmung durch LSD ist ebenfalls physikalisch. Aber nicht die Interpretation der Qualität. 

 

Gesüßter Kaffee schmeckt mir nicht. Dies ist kein analytisches Urteil, sondern ein ästhetisches Urteil. Ästhetische Urteile beurteilen den Wert und nicht die Qualität und sind damit ein Vorurteil, das ich in Bezug meines Selbst auf ein Ganzes stelle. Die Qualität wird durch den relationalen (eine Beziehung darstellenden) Bezug auf mich zu einem Wert. Denn anderen schmeckt gesüßter Kaffee. Wer also apodiktisch behaupten wolle, gesüßter Kaffee schmeckt nicht, der verwechselt Anschauung mit Meinung. Im Falle eines Gottesurteils liegt noch nicht einmal ein ästhetisches Urteil, geschweige denn ein analytisches Urteil vor. Gott kann man weder anschauen noch eine Meinung davon haben. 

 

Denn reine Begriffe sind nicht empirisch. Gott ist ein reiner Verstandesbegriff, der nicht mehr abgeleitet werden kann von einem übergeordneten Begriff. Wenn Gott erscheint, kann es dafür keine physikalische Grundlage geben. Das gilt aber auch für den Begriff Natur. Denn auch dies ist ein reiner Begriff, der nicht mehr aus einem übergeordneten Begriff abgeleitet werden kann. Wenn ich also etwas als natürlich bezeichne, liegt keine Erkenntnis vor, denn Natur ist weder anschaulich noch analytisch. Wenn wir also die Natur retten wollen, dann wollen wir etwas retten, von deren physikalischen Existenz keinerlei Erkenntnis vorliegt. Was wir retten wollen ist der Planet Erde, seine Wälder, Meere und Tiere. Wir wollen die klimatischen Bedingungen der Erde erhalten. Klimaleugner negieren nicht die Existenz von Klima auf dem Planeten, sondern die Existenz von Natur und ziehen aus dieser eigentlich korrekten Annahme den logisch falschen Schluss, dass Kohlendioxid keinen Einfluss haben könne auf die Natur. Das Problem liegt im Mittelbegriff. Es ist der gleiche Fehlschluss wie bei einem Gottesbeweis.

 

Aus der korrekten Annahme, dass LSD die Sinneswahrnehmung verändert, wird der falsche Schluss gezogen, es handele sich bei der LSD-Erscheinung um Gott. Es sind ästhetische Urteile, die der Erscheinung einen Wert beimessen in Relation zu meinem Selbst als Ganzes. Für den einen handelt es sich bei der LSD-Erscheinung um Gott, bei dem anderen nicht. Was für den einen Natur ist, ist es für den anderen ganz und gar nicht. Denn Natur ist ein werthaltiger und damit ästhetischer und normativer Begriff. Es ist ein rein ästhetisches Werturteil und keine wissenschaftliche Erkenntnis. Dass viele Menschen Qualität und Wert verwechseln ist das eine, dass sie aber reinen Verstandesbegriffen sowohl Qualität als auch Wert zufügen, ist nichts weiter als Idiotie.

 

Womit bewiesen wäre, dass die meisten Politiker Idioten sind. Und jetzt beweisen Sie bitte, ob das ein analytisches oder ein ästhetisches Urteil ist. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

Der 1. Beitrag 2021

 

 

„OH BRUDER, DA HINAUFZUGEHEN – WAS BRINGT ES?“

 

Samuel Becketts Text Le Depèupleur, von Elmar Tophoven kongenial mit „Der Verwaiser“ übersetzt, erschien vor einem guten halben Jahrhundert. So kann heute niemand mehr behaupten, er hätte von der Apokalypse nichts mitbekommen. Etwa 200 nackte, gedankenlose Menschen befinden sich in einem mit Hartgummi ausgekleideten Zylinder von 50 Meter Umfang und 16 Meter Höhe. Bezogen auf die Bodenfläche hat damit jeder einzelne Mensch gerade mal einen Quadratmeter Platz zur Verfügung. Schon in dieser klaustrophobischen Anordnung von Becketts Parabel können wir eine Analogie zur chronisch überbevölkerten spätkapitalistischen Industriegesellschaft er-kennen. Das hat schon Max Horkheimer aufgegriffen, indem er in dem Text eine Kritik an der verwalteten Welt vermutete, an einer unter dem Diktat des „kalkulatorischen Denkens“ stehenden Gesellschaft, die den emanzipatorischen Anspruch der Vernunft aufgegeben habe.

 

Insgesamt stehen den 200 Menschen gerade mal 15 Leitern zur Verfügung, um von dort aus in Nischen gelangen zu können, die an den Wänden angeordnet sind. Die mit einer liberalen Moral juridifizierte Gesellschaft erlaubt es immer nur einem einzigen Menschen auf einer Leiter zu klettern. Unten stehen die anderen dann an den weiteren Leitern Schlange und warten, bis sie dran kommen. Im Großen und Ganzen ist jeder mit sich selbst beschäftigt und denkt daher nicht daran, anderen etwas anzutun. Das ist ja auch das Schöne an unserer Individualgesellschaft. Jeder kümmert sich um seinen eigenen Scheiß und gut ist es. In Becketts Zylinder bricht dennoch manchmal Gewalt aus. Wenn man die Menschen, die in einer Schlange vor der Leiter stehen, zu sehr unter die Lupe nimmt, dann bekommt man es mit allen in der Schlange stehenden Menschen zu tun. Wie ein Körper gehen sie dann auf den Unruhestifter los. Ansonsten werden die Menschen von Licht- und Temperaturschwankungen physisch angetrieben. Zusätzlich hält sie ein Gerücht auf Trab, dass es in irgendeiner der Nischen eine „Zufluchtsstätte zur Natur“ gäbe, oder in der Mitte der Decke eine Klapptür „an dessen Ende angeblich immer noch die Sonne und die anderen Sterne glänzten“. Doch das sind nur Gerüchte. Und so haben einige bereits aufgegeben. Sie suchen nicht mehr. Es ist aber trotzdem nie Platz genug in dem Zylinder, um sich hinzulegen.

 

Es gibt auch in unserer spätkapitalistischen Industriegesellschaft keine metaphysische Rückversicherung mehr. Das machte uns alle zu gedanken- und seelenlosen Krüppeln, deren individuelles Streben nichts weiter ist, als eine Beschäftigungstherapie bis zu unserem bedingungslosen Tod. Und wer hier aufgibt, kann sich trotzdem nie vollständig ausruhen. Er wird von den anderen rücksichtslos getreten, wie in Becketts Zylinder auch. Natürlich gleicht die Atmosphäre in Becketts Zylinder einem drittklassigen Asyl für Geisteskranke. Was hat so ein karger Zylinder mit uns zu tun? Wir haben Gott sei Dank schnelle, elegante Autos, Smartphone, Streaming-Fernsehen, eine Konsum- und Kulturindustrie, die uns von unserer eigenen Drittklassigkeit herrlich ablenkt. Natürlich können wir nicht wieder einfach zu tun, als gäbe es einen metaphysischen Ausweg. Der Zug ist endgültig abgefahren. Man kann über die Presbyterianer und Episkopalen dieser Welt lediglich noch schmunzeln oder resigniert mit den Achseln zucken. In einer Szene schildert Beckett die größten Kletterer, die mit den Fingerspitzen die Decke berühren können. Würde man eine ganz ausgezogene Leiter mit vereinten Kräften in die Mitte stellen, könnten die Kletterer nacheinander den Ausgang erreichen, diese Klapptür zu Sonne und Sterne.

 

„Ein Augenblick der Brüderlichkeit“, beschreibt es Beckett. „Aber diese ist ihnen außer bei Gewaltsamkeit-Ausbrüchen ebenso fremd wie den Schmetterlingen.“ Nicht, weil es ihnen an Mut oder Einsicht mangeln würde. Es liegt – so der Erzähler – an dem „Ideal, das einen jeden verzehrt.“ Wenn man die ersten Jahre unserer digitalisierten Gesellschaft unter einen psychologischen Hut bringen wollte, könnte man sie als die „narzisstischen Jahre“ bezeichnen. Ein Narzisst ist selten solidarisch. Die aktuellen Jahre unserer inzwischen smarten Digitalisierung wären unter dieser Note autistisch. Auch Autisten sind schwerlich solidarisch. Solidarisch waren tatsächlich nur die Nazis. Aber können wir das alles so düster stehen lassen? So hoffnungslos? Ist dieses Fegefeuer auf Erden so verzehrend, dass wir wie Belacqua zu träge geworden sind, das Paradies erreichen zu wollen? Da sitzt der alte Instrumentenbauer aus Florenz an seinem Felsen gelehnt und weiß, dass er sich im Leben nicht genug um Läuterung bemühte, dass er je hoffen könnte, das Paradies zu erreichen. Beckett liebte diese Figur aus dem vierten Gesang des Purgatorium Dantes. Es war Morgen, und Belacqua hatte sich im ersten Mondcanto so festgelesen, dass er weder vor noch zurückkonnte. (Dante and the losester, 1932). Wie herrlich ironisch. Das Mondcanto beginnt mit dem zweiten Gesang des Paradiso. Das weite unendliche Meer wird hier geschildert (der Geist) und ein kleines Schiff (der Stoff). Mit einem so kleinen Schiff wie es der Mensch ist, dieses unendliche Meer befahren zu wollen! Der Mut, den es braucht, um in die Unendlichkeit zu starten, ist der Mut, den es braucht zu sterben. Der Mond ist das Zeichen des Krebses. Allnatur, Mutter und Quelle. Kein menschlicher Kopf kann alles erfassen und wird immer nur in seinem kleinen privaten Ideal festhängen, in einem Zylinder fester Größe, rational kalkulierend, mit einer sich im Unendlichen verlierenden winzigen Spur Metaphysik. Um Gnade muss man bitten. Gnade! Schreien!

 

 

ENDE

 

 

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