Johannes Harnecker

In unserer heutigen, fürchterlich schnelllebigen Zeit, ist, was am frühen Morgen noch aktuell schien, am Abend bereits alter Kaffee. Mit wenigen Ausnahmen, halten sich Großereignisse länger, insbesondere dann, wenn sie besonders unerwartet, großräumig, spektakulär oder besonders grausam sind.

 

Wenn wir aus diesem Schnelllebigen einmal heraus sind, also beispielsweise pensioniert, ticken die Uhren zwar anders, aber man kriegt das Schnelllebige trotzdem noch mit. Das Endliche liegt jetzt klarer und näher und je nachdem, wie jemand damit umgeht, kann er/sie noch echt etwas daraus machen. Bagatellen als solche erkennen und entsprechend damit umgehen, zum Beispiel. Wichtiges erkennen, jedoch nicht überbewerten. Und so weiter.

 

Sympathisch ist die Tatsache, dass wir uns im Pensionsalter Dinge erlauben können, die wir in den Strampel-Jahren nicht konnten. Immer vorausgesetzt, dass wir diese Tatsache eben erkennen und sie dann auch nutzen.

 

Dazu gehört zum Beispiel, der ab und zu einkehrenden Nostalgie ins Auge zu schauen und einen Moment mit ihr zu verweilen. Die Zeit stillstehen zu lassen. Das Schöne dabei ist, niemand wird zwischen acht Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags auf die Uhr gucken, sich womöglich noch aufregen, weil ich noch nicht gekommen bin. Ich muss nicht mehr kommen. Ich mache, wozu ich gerade Lust habe. Vorige Woche zum Beispiel stand mir danach, in den alten Schreibwett-bewerben herumzustöbern. Was ich da gefunden habe, ließ mich frohlocken.

 

Fast drei Dutzend guter Geschichten habe ich ausgegraben. Die sandte ich zum Teil an meine Lesezirkel Freunde, die mir per heute mitteilten,

    „gute Idee, lass sie nochmals aufleben, viel zu schade, sie verstauben zu lassen."

 

Genau das werde ich tun!

 

Hier lesen Sie die Geschichte von Johannes Harnecker, aus dem Wettbewerb für alle Altersklassen 2021, mit den damaligen Doppel-Themen: 

 

 

ENTFÜHRUNG / BEOBACHTUNG

 

 

Ein schwieriges Exemplar 

  

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, oberhalb der bewaldeten Anhöhe, beobachtete ein aufmerksames Augenpaar den weiter unten liegenden Acker. Das rechte Auge rot geäderte blickte durch das Visier seines Jagdgewehrs. Im Fadenkreuz befand sich ein Paket, welches ohne weitere Utensilien auf der weiten Grünfläche lag. Es hatte keinerlei Aufschrift oder sonstiges Erkennungsmerkmal, als es sich zu regen begann. Der Mann schaute stur nach vorn und schien auf etwas zu warten, als sich eine Kinderhand aus dem Paket erhob. 

  

**** 

 

Als Sam auf sein Leben zurückschaut, waren es stets die kleinen Momente, die ihn im Nachhinein doch immer wieder nachdenklich stimmten. Die Rausschmeißer-Lieder in der Stammkneipe um die Ecke, wenn die ersten Sonnenstrahlen das verblichene Glas durchbrachen und die vergilbten Poster vergangener Rocklegenden beleuchteten, oder spätabendliche waghalsige Kletteraktionen auf zu hohe Kräne, nur um die Heimatstadt im gelben Licht der Straßenlaternen mit halb zugekniffenen Augen als ein Meer aus tausend Farben zu begutachten. Doch ein schwüler Sommerabend hebt sich mit besonderem Nachdruck von vielen anderen Momenten ab. Er saß, wie so oft, mit Paul am See hinterm Haus und diskutierte über vermeintlich wichtige Themen. Es hatte schon seit Wochen nicht mehr geregnet, sodass offen liegende Wurzeln der umliegenden Bäume in Sams Augen starke Ähnlichkeiten mit Arthritis zersetzten Händen aufwiesen, die sich in unnatürlichen Winkeln über den Untergrund erstreckten und versuchten den letzten Tropfen Wasser aus dem Boden zu saugen. Eine Ironie des Schicksals, dachte Sam, wo sie doch fast direkt am Wasser saßen, dennoch schienen die Pflanzen um sie herum zu sterben. Für die Mücken waren die beiden ein gefundenes Fressen, wie Geier, die nur auf Ihre Chance warten, versammelten sie sich in Scharen um sie, aus denen sich in sich gewobene Schwärme formten. Als jedoch eine Tüte herumgereicht wurde, bildete der Rauch eine Art natürlicher Schutzschild um Paul und Sam, eine Kuppel, sie gegen den Rest der Welt. Dem grellen Neonröhren-Licht des Bootshauses entgegengewandt, schaute sein Gegenüber auf den letzten Zipfel des Joints.  

    „Hast du auch manchmal das Gefühl nicht allein zu sein …, in deinem Kopf meine ich.” Er lallte schon leicht, nahm jedoch einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Bier. Er gab einen wirklich traurigen Anblick von sich ab und Sam machte sich Sorgen. Vom Schicksal eigentlich belohnt machte Paul jedoch seit Längerem einen müden Eindruck. Trotz behütetem Elternhaus und Möglichkeiten, von denen viele nur träumen können, versucht er den Schein eines unbeirrten, psychisch stabilen Individuums zur Schau zu stellen, was ihm meistens auch ganz gut gelang, dennoch schaute Sam durch diesen Schleier hindurch. Wie die Barriere zu den Insekten schien auch dieses Thema eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen zu ziehen, deren Überquerung stets mit Abneigung sowie dem Abflachen des Gesprächs geahndet wurde. Umso mehr erstaunte es, dass Paul selbst dieses Thema ansprach.  

„Was meinst du?” Sam blickte in die Ferne, versucht sich nichts anmerken zu lassen. Es folgte eine längere Zeit, in der beide eine kleine Entenfamilie beobachteten, welche den Steg vor ihnen entlang watschelte.  

    „Es ist manchmal wie ein inneres, langgezogenes Echo .... In so völlig alltäglichen Situationen schreit sich jemand in meinem Kopf die Seele aus dem Leib.” Die Entenmutter sprang den halben Meter von der Holzplanke ins stille Wasser, die Küken sahen verdutzt zu. 

    „Du hörst also Stimmen?” Sam war geschockt, er hatte irgendwo gelesen, dass der Graskonsum durchaus zu schizophrenen Episoden führen konnte, und verspürte ein leichtes Unwohlsein, als ihm klar wurde, dass sie in letzter Zeit doch relativ häufig am See gewesen waren, um sich ein paar Gramm zu teilen. Eine unterbewusste Bestandsaufnahme seiner eigenen geistigen Gesundheit sollte folgen. Ein erstes Küken stellte sich wagemutig an den Rand des Stegs und sprang unentwegt ins kalte Wasser.  

    „Ja, nicht so wie im Film. Sie sagen mir nicht, dass ich irgendwas Bestimmtes tun soll. Es ist wie ein einziger Pulk, der einfach zusammenhangloses Zeug schreit. Das Einzige, was ich ausmachen kann, ist, dass sie raus wollen.” Die Küken sprangen nach und nach vom Steg, eins blieb jedoch immer wieder stehen. Es unternahm zwar immer wieder Anläufe, brach diese jedoch im letzten Moment ab. Sam war zwiegespalten, eine Therapie vorzuschlagen schien die einzige valide Option zu sein, dennoch ist dieses Thema mit einem immensen Stigma behaftet und es kann auch leicht falsch aufgefasst werden. Paul schien diese zwanghafte Pause zu bemerken.  

    „Was denkste, ich bin irre?”, wie auf den Fuß getreten, wich Sam aus. „Hast du vielleicht mal daran gedacht, weniger zu kiffen?” Paul rollte mit den Augen. “Das schon wieder! Gras macht nicht abhängig … ich kann jederzeit aufhören, wenn ich will.” Für ihn war das Thema abgehakt. Es folgte wieder eine Pause, in der sie dem verbleibenden Küken dabei zusahen, wie es mittels eines breiten Astes am anderen Ende des Stegs erst auf einen darunter liegenden Stein rutschte, um dann ohne die Wasseroberfläche in irgendeiner Weise ins Ungleichgewicht zu bringen, in den See glitt. Toll, dachte sich Sam, das hast du ja mal richtig vergeigt. Wo er Paul nun von der Seite betrachtete, erkannte er aber noch mehr. Ein Blick in Pauls kalten Augen verriet eine tiefe innere Unruhe und Verwirrtheit. Er dachte über das Gesagte nach.  

    „Es ist manchmal wie ein inneres lang gezogenes Echo ...” Pauls Gesichtsausdruck wurde grimmig, fühlte er sich angegriffen? In den nicht mehr fokussierbaren geröteten Augen loderte es fast so, als würde sich ein Lagerfeuer in den Pupillen spiegeln oder ein Kometenschauer auf das umliegende Land niederprasseln. Sam war verwirrt, bei dem schwachen Umgebungslicht und seinem eigenen Zustand war er sich allerdings nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte. Ein erneuter Blick genügte, um festzustellen, dass mit Paul etwas ganz und gar nicht stimmte. Die knallroten Augen begannen ihre Form zu verändern. Sam schrak auf, auf eine derartige Reaktion war er nicht gefasst. Er wollte doch nur helfen.  

    „Mann, sorry, war nicht gemeint, alles in Ordnung?” Paul drehte sich langsam zu ihm um.  

    „Warum bist du noch hier?” Das nahm Sam jetzt aber schon mit, was wollte Paul denn damit bezwecken? Die darauffolgende Reaktion verwirrte ihn jedoch umso mehr, denn Paul fing an zu lachen. Ein irres Lachen, wie er es selten gehört hatte, dröhnte über den See,  

    du warst ein wirklich hässliches Kind. Zu Anfang haben wir uns noch Sorgen gemacht, mit der Zeit wurde uns klar, es ist nicht nur äußerlich … DU VERROTEST VON INNEN”. Sam verfiel in Panik. Die Anschuldigung wurde mit solch einer Inbrunst vorgebracht, dass es Sam schwer fiel zu glauben, dass es Paul war, der diese Worte formulierte. Derweilen verformte sich das Gesicht seines Gegenübers. Es begann mit dem Kiefer, der sich selbstständig ausgerenkte hatte. Fänge mit zweireihiger Zahnreihen messerscharfer Zähne entsprangen dem Zahnfleisch. Diese Verwandlung spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Sam sprang aus seinem alten Campingstuhl auf, wobei die Armlehne nachgab. Er rutschte aus und landete im trockenen Gras. Adrenalin strömte durch sämtliche Venen und als er sich mit einer ruckartigen Bewegung erhob und versuchte einen Sprint hinzulegen, wurde sein Knöchel gepackt. Mit einer erstaunlichen Kraft wurde er zurück auf den Stuhl befördert. Paul war nicht mehr wiederzuerkennen. Sein komplettes Wesen reduzierte sich allerdings auf die Augen, aus denen sich eine Art fleischgewordene Stränge erstreckten. An dünnen Fäden formten sich Krallen, wo eigentlich hätten Augäpfel sein müssen. Der linke Greifarm hielt seinen Knöchel mit eiserner Faust, während sich der andere noch zu verformen schien. Der Schlund der Kreatur bleckte allerdings erneut Ihre Reißzähne. Unter unvorstellbaren Schmerzen nahm sie ihm das Sichtfeld. 

  

Sam fuhr mit einem Ruck in seinem Kinosessel auf. Erleichtert blickte er sich um und sah einen prall gefüllten Saal. Er saß in einer der letzten Reihen. Mein Gott, was hatte er nur wieder geträumt. Beim Inspizieren des Saals fiel ihm auf, dass alle Reihen hinter ihm frei waren, vor ihm jedoch jeder einzelne Sitz besetzt war. Dass ihm das nicht beim Betreten des Saals aufgefallen ist … und welchen Film schaute er überhaupt. Er konnte sich an nichts erinnern. Auf der Leinwand unterhielten sich zwei Männer, welche ziemlich abgetragene Lumpen trugen und es sich auf Heuballen gemütlich gemacht haben. Das Setting schien wohl irgendwie Richtung Mittelalter zu gehen. Sie unterhielten sich über Belangloses, als sich subtil diverse Details zu ändern begannen. Zuerst waren es die Schuhe, die ihre Farbe und vor allem ihre Form veränderten und von dreckigen Arbeiterschuhen zu gepflegten Lederschuhen des 20ten Jahrhunderts übergingen. Dann änderte sich die Haarfarbe, und nach und nach die gesamte Statur der beiden. Auffällig war, dass sich die Unterhaltung jedoch in keiner Weise veränderte. Sie wurde einfach fortgeführt, während beide Gesprächspartner scheinbar durch die Zeit, Raum und Gestalten zu Morphen schienen. Verwirrt drehte er sich zu seinem Nachbarn.  

    Entschuldigung, welcher Film läuft, hier eigentlich gerade?” Sein Nachbar zeigte keinerlei Regung. Er wirkte fast katatonisch, blickte stur nach vorn und nahm die Bilder ohne jegliche Gefühlsregung auf. Sam wollte sich gerade zurückdrehen, als ihm auffiel, dass sein Nachbar einen weißen Overall trug. Er runzelte die Stirn, eigentlich ja nichts Ungewöhnliches, dachte er, bis ihm auffiel, dass mit Ausnahme von ihm selbst jeder Besucher im Saal dieselbe Art von Overall trug. Die Männer im Film saßen nun in alteingesessenen Sesseln vor einem Kamin. Wobei einer der beiden schon als Ranger auf einem Pferd zu sitzen begann.  

    „Das ist mir jetzt wirklich zu blöd”, dachte sich Sam.  

Irgend so ne Kunstscheiße, die ich eh nicht verstehe …” Er streckte sich, stand auf und bewegte sich Richtung Ausgang, wobei er sich beim Durchqueren der Reihe nur zu Anfang entschuldigte, da alle Besucher überhaupt nicht auf ihn zu achten schienen. Kurz vor dem Mittelgang stolperte er im Halbdunkel allerdings über etwas. Bei näherer Betrachtung schien es eine Art Schlauch zu sein, der ein Rohr, welches am Fuße der Sitzreihe eingelassen wurde, mit dem Ärmel des darüber sitzenden verband. Nun hatte sich der Schlauch jedoch von der Person gelöst. Er schien irgendeine Art Flüssigkeit zu transportieren, welche sich auf dem Boden ausbreitete, und anfing eine Lache zu bilden. Entschuldigend blickte er den Fremden an, es war ein Mann Mitte vierzig der erst ein paar Sekunden später aus seiner Trance erwacht zu sein schien. Er blickte verwirrt drein, blinzelte vermehrt und schaute Sam anschließend direkt an. Obwohl er diese Person noch nie gesehen hat, kannte er diese Augen. Es war wie ein Spiegelbild im klaren Wasser eines Flusses, das durch das gemächliche Plätschern leicht verzerrt wurde und gerade so reicht, um die Konturen des Gesichts abzubilden. Die sitzende Person machte einen erstaunten Eindruck, blickte ihn jedoch direkt an und sagte fast schon in einem Flüsterton,   

„geh weiter, vielleicht haben sie’s nicht mitbekommen”.  

„Bitte was?”.  

    „Geh weiter, nun mach schon”. Nicht minder verwirrt, tat Sam wie geheißen. Als er nun die viel zu weiten Treppen herunterstieg, dachte er über das Gesagte nach, als ihn von links ein Ordner ansprach.  

   „Ähm, können Sie sich bitte wieder hinsetzen?” Seine Aussprache war in perfektem Hochdeutsch, dennoch konnte Sam einen Akzent heraushören, den er allerdings irgendwie nicht so richtig einordnen konnte. Generell war der Ordner sehr klein und dennoch schlaksig.  

  „Ach Entschuldigung. Ich glaube, ich bin im falschen Film, ich würde gerne den Saal verlassen”. Sam versuchte weiterzugehen, wurde jedoch am Arm gepackt.  

    „Das ist nicht möglich, setzen Sie sich wieder an ihren Platz!”  

„Bitte was? Nein, wieso sollte ich diesen Saal nicht verlassen können?”  

    „Tun Sie’s einfach, oder muss ich die Security rufen?”  

„Ich würde gerne mit Ihrem Manager sprechen”.  

    „Ganz wie sie wollen”. Er sprach undeutlich in ein Walkie Talkie, anschließend blickte der Ordner Richtung Projektor. Sam folgte seinem Blick und sah ein kurzes Aufblitzen eines chromfarbigen Visiers. Er nahm noch aus dem Augenwinkel wahr, wie der Betäubungsschuss ihn im Nacken traf, ehe er zu Boden ging. Während er zusammenbrach und in den Schlaf driftete, hörte er noch,  

    „wieso wurde er nicht angeschlossen?” 

„Hast du auch manchmal das Gefühl, nicht allein zu sein …, in deinem Kopf meine ich”. Paul lallte schon leicht, nahm jedoch einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Bier. Sam schreckte erneut in seinem Kinosessel auf. Er war in einem weißen Overall gekleidet und hatte einen Katheter im Arm. Er spürte ein heftiges Pochen im Schädel und merkte, wie er bereits wieder wegzudriften begann, ein Blick auf die Leinwand holte ihn jedoch wieder zurück. Da saß er in seinem alten Gartenstuhl, ihm gegenüber Paul. Wie kann das sein, dachte er. Wurden wir heimlich gefilmt? Aber sein Abbild auf der Leinwand begann sich bereits zu verändern.  

    „Es ist manchmal wie ein inneres, langgezogenes Echo …” ihm graute es. Instinktiv konzentrierte sich Sam wieder auf Pauls Augen. Und tatsächlich sie schienen. Es sah fast so aus, als wären es Hunderte, gar Tausende Augen, die ihn aus der Ferne mit einer unglaublichen Intensität anstarrten. Als er seinen Blick auf ihn richtete, schaute er direkt in die Kamera und auf einmal ging ein Raunen durch die Reihen des Kinosaals. Kein großes, aber durchaus wahrnehmbar. Dieser Blick drückte Hilflosigkeit in tausendfacher Ausführung aus. Es erinnerte Sam an einen Hilferuf eines Ertrinkenden, den keiner hört. So driftete er wieder in den Schlaf. Ein wiederkehrendes Ereignis, wie sich herausstellen sollte. Es gab in seinem Leben immer wieder Situationen wie die am Steg, in denen es so schien, als würde das Unterbewusstsein seines Gegenübers versuchen die Personen im Saal verzweifelt wachzurütteln. Mit jedem Mal wurden die Wachphasen länger, und so kam es, dass er eines Tages während einer besonders lang andauernden Phase ein paar Gesprächsfetzen der Ordner mitbekam. 

    „... Na, wen bringst du denn?”  

„Der hier kommt aus Cygnus A., weiß nicht genau, was passiert ist, aber der Planet ist jedenfalls komplett im Arsch. Glaub, der nächste Stern ist abgebrannt”.  

    „Na toll, noch mehr Überstunden”.  

„Tja, irgendwer muss den Job ja machen”.  

„Jörg hat eben übrigens erzählt, dass Chef will, dass du von nebenan was abzwackst, stimmt das?”  

    „Jo, hab die geplante Wiedergeburt mit eigenen Augen gesehen, wenn wir das nicht machen, gibt’s nächstes Mal nen plötzlichen Kindstod. Chef hat dieses Jahrhundert viel auf dieses Exemplar gewettet, 20 Jahre sollte es schon alt werden, sonst darf Chef auf der Couch schlafen, so wie ich das verstanden habe, hat er sein Haus als Sicherheit angegeben.“  

    „Wow, tja die Quote muss aber auch durch die Decke gehen, ich meine, schau dir diesen Sauhaufen an.” 

 

Die nächste Szene kannte Sam zu gut. Das Zimmer war zwar tapeziert, dennoch waren manche Ecken derartig ausgeblichen, dass sich das Muster kaum vom darunter liegenden Putz unterscheiden ließ. Er trat langsam ein und machte sich auf einen Ansturm gefasst. Seine Mutter hatte sich erschöpft gegen die Wand gelehnt, ohne ihn anzublicken. Vom Flur hatte er nur das Schaben ihrer Fingernägel auf dem Parkettboden gehört. Das, in Kombination mit dem Schreien aus Leibeskräften hatten seinen Vater fertiggemacht und Sam musste übernehmen. Generell hatte sein Vater stets versucht ihn in solchen Zeiten von ihr fernzuhalten, so kam es, dass er mit sechzehn Jahren den ersten psychischen Zusammenbruch miterlebte. Es war wie ein Meer, welches sich nach und nach hochschaukelte.  

    „Du warst ein wirklich hässliches Kind, zu Anfang haben wir uns noch Sorgen gemacht. Mit der Zeit wurde uns klar, es ist nicht nur äußerlich …,” sein Vater hatte ihn vor solchen Aussagen gewarnt. Sam war vorbereitet und steckte sich die Kopfhörer so tief es ging in die Ohren. Aber wo er sie nun stumm betrachtete, loderte es wieder in ihren Augen und Sam zerrte daran. Ein erneutes Raunen ging durch die Reihen des Saals, Sie blickten gebannt auf die Leinwand und es war fast, als würde das Publikum durch die weit aufgerissenen Augen dieser Frau in eine andere Welt blicken. Sie fingen an sich zu regen, sich rhythmisch zu bewegen. Auch Sam stand auf einmal unter Strom. Er konnte in sie hineinsehen. Ein Summen erfüllte seinen Geist, tausend Züge ratterten durch seinen Schädel. Der gesamte Saal schien sich gegenseitig aufzuwiegen und es ertönte ein lauter Knall. Der Mann, dessen Katheter er vor Ewigkeiten aus Versehen mit seinem Fuß herausgerissen hatte, als er den Saal verlassen wollte, ist aufgesprungen, riss die Lehne seines Stuhles ab und schlug so lange auf das Rohr zu seinen Füßen ein, bis dieses mit einem Knall platzte. Er schien nur auf die richtige Gelegenheit gewartet zu haben. Flüssigkeit spritzte in alle Richtungen und Sam erkannte, dass es sich nicht um Blut, sondern um eine leuchtend blaue Flüssigkeit handelte, die aus den Armen der Besucher quoll. Anschließend erwachte die gesamte Reihe zum Leben und er wiederholte die Aktion mit der nächsten Reihe. Andere taten es ihm gleich und auf einmal brach die Hölle los. Das alles ging derartig schnell, dass Sam gar nicht richtig mitbekam, welch ein Tumult entstand, als der Mob versuchte die Türen einzurennen. Sirenen erschallten. Mit einem Mal wurden die Türen geöffnet und eine Menge bewaffnetes Ordnungspersonal betrat den Saal und begann systematisch die Menge niederzuknüppeln. 

 

Auszug Protokoll: Untersuchungsausschuss, Aufsichtsrat,  

Prof. Dr. Hans Maier 

Vorsitzender: 

 

„... Ich übergebe das Wort an Herrn Maier, welcher die Ermittlungen im Fall des Saals 24a11ef leitet.” 

Maier:  

    „Vielen Dank Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen. Am Nachmittag des 25.04.8004 kam es zu einem ernst zu nehmenden Zwischenfall im Saal 24k11ef. Wir haben die neue Version verloren, da die Wiedergeburt nicht versorgt werden konnte. Wie Sie bereits wissen, gab es eine Supernova in Cygnus A. Die umliegenden Planeten wurden vernichtet. Unser System war überlastet, was die schiere Masse alter Versionen betraf, die allesamt gleichzeitig in unserem System eintrafen. Wir mussten schließlich in kürzester Zeit Abermilliarden von Seelen den richtigen Sälen zuordnen und deren Transporte arrangieren. Unser System läuft in dem betroffenen Abschnitt noch mit Technik vom letzten Jahrhundert. Wir arbeiten mit Hochdruck daran ein entsprechendes Update durchzuführen, zum Burst mussten wir allerdings diverse Seelen vorübergehend ohne Verkabelung in den Sälen zwischenlagern, um zu gewährleisten, dass es nicht zu sporadischem Aufwachen auf den Gängen kommt. Das Risiko, dass ein Exemplar nach dem Transport direkt wieder aufwacht, ist in der Regel sehr gering, bei diesem gab es jedoch eine psychische Vorerkrankung, die in der Familie vererbt wird, wodurch die Aufwachzeit erheblich reduziert wurde. Dieses Exemplar hat durch ein Missgeschick eine Kettenreaktion innerhalb des Saals in Gang gesetzt. Im Zuge dessen sind diverse andere Exemplare aufgewacht. Wir konnten die Situation so weit unter Kontrolle bringen. Leider haben die aufgewachten Exemplare ihre Energiekatheter für einen nicht irrelevanten Zeitraum gekappt. Die Wiedergeburt war dadurch einigen Minuten ohne Vitalenergie ausgesetzt. Wir können noch versuchen sie zu retten, dass es jedoch zu einer erheblichen Behinderung beziehungsweise einem verfrühten Tod kommen wird, ist unvermeidlich. Sollen wir sie trotzdem in die Welt setzen? Wie sollen wir hierbei vorgehen?” 

 

Vorsitzender: 

 

„Ein schwieriges Exemplar …, räumen Sie auf!” 

 

Der Mann mit Blick auf den Acker führt seinen Auftrag aus. 

 

 

 

ENDE